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Ein Panorama des Wissens

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STAATSLEXIKON. Herausgegeben von der Görres-Gesellschaft. Sechste, völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. V. Band. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau. IV Seiten, 1246 Spalten. Preis 76 DM.

Diesmal waren keine Großmächte, keine Nationen von Weltgeltung zu schildern. Unter den geographisch-historischen Schlagworten beanspruchen die Niederlande den vordersten Platz. Auf 27 Spalten werden sie gewissenhaft, fast ausschließlich durch Holländer, dargestellt. In weitem Abstand folgen, wiederum sehr sorgsam behandelt, der Mittelmeerraum, der Nahe Osten (mit mehr Schwung), Lateinamerika als Ganzes (besonders gut geraten, von Hans Heuseier), Korea (unbefangen, dem heiklen Thema gerecht; es ist nicht Schuld der Verfasser, daß der Artikel im Moment des Erscheinens politisch zum Teil überholt war), Norwegen, Neuseeland, Luxemburg (un- proportionell ausführlich, länger als der Artikel über Mexiko), vorzügliche, aufschlußvolle Beiträge über den Malayischen Bund und Marokko (hier zuwenig über die Zeit des Protektorats; Lyautey, El Glaui überhaupt nicht erwähnt), Libanon (auf knappem Raum vortreffliches Bild der politischen Struktur), Liberia, Nigeria (ähnlich wohlgelungen). Dankenswerte und ausgedehnte Angaben gelten den deutschen Ländern Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Mecklenburg.

In diesem Bande behaupten Rechtsprobleme und Politik den Vordergrund. Der umfänglichste Einzelartikel ist dem Naturrecht gewidmet, durch ein Dutzend hervorragender Autoren beleuchtet, darunter Freiherr von der Heydte, Hans Romme, Antonio Truyol y Serra. Wiederum von der Heydte, P. Johannes Hirschmann SJ. (tief und beifallheischend) und drei weitere Verfasser erörtern auf 22 Spalten den Krieg und seine mannigfaltigen religiösen, philosophischen, juridischen, wirtschaftlichen Aspekte. Eine Anzahl ihn betreffender Einzelfragen ist einzelnen Artikeln Vorbehalten. Unter ihnen entspricht vor allem der über Kriegsverbrechen (H. Ridder). Ihm reiht sich desselben Autors gleich vorzüglicher über die Nürnberger Prozesse an. Es tut wohl, in einem deutschen Nachschlagewerk eine so ruhige, sachliche Stellungnahme zu diesem schon wieder mit falscher Rührseligkeit und ungeziemendem Pathos in die politische Diskussion geworfenen Thema zu-lesen. Die aus sachkundigen Arbeiten löblich bekannte Historikerin Ellinor von Puttkamer bemüht sich, den deutschen Standpunkt zur Oder- Neiße-Linie ohne Gehässigkeit darzulegen.

Als Perlen der politischen Artikel seien herausgehoben: Macht (Richard Hauser), Marxismus (Gerhard Stavenhagen, von erstaunlicher Weite des Blicks, konzentrierter Kenntnis und glänzender Formulierung), Nationalsozialismus (mustergültig, von Hans und Karl Buchheim) und, gleichwertig, Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (Hans Buchheim). Bei den letztgenannten, textlich einwandfreien Zusammenfassungen ist nur, wie so oft, der völlige Verzicht auf Angabe der oft sehr wichtigen ausländischen Literatur zum Gegenstand zu beklagen. Der die Übersichten der Buchheim ergänzende Ar- tikel über Konzentrationslager von Kogon bleibt an der Oberfläche und unterläßt es, in der Bibliographie die ganz wesentlichen polnischen und jüdischen Werke anzuführen, soweit sie nicht Englisch oder Deutsch erschienen sind, meist auch dann, wenn sie übersetzt vorliegen. Der recht anregende Aufsatz von Nikolaus Monzel über „Nation“ fußt zu einseitig auf deutscher Wissenschaft, und auch da vermissen wir Zum Beispiel die wichtige, wenn nicht die beste Definition des Begriffs durch Seipel, der zahllosen französischen — ab Renan — und angelsächsischen, wie schon gar der slawischen zu ge- schweigen. Noch weniger befriedigt Eugen Lembergs „Nationalismus“, trotz mancher dankenswerter Ideengänge. Liberalismus (Clemens Bauer), Meinungsfreiheit (H. Ridder), Masse (H. Treinen) haben sehr geeignete Bearbeiter gefunden.

Der Artikel „Messan“ ist im theoretischen Bereich sehr gut, doch könnten die konkreten Angaben über einzelne Messen ausführlicher sein, auch eine Statistik hätte man gewünscht; es gibt keinen Hinweis auf den Osthandel. Beim Artikel „Monopol“ vermissen wir eine Auseinandersetzung mit den marxistischen Theorien über den in diesem System vordringlichen Monopolkapitalismus.

Das etwas stiefmütterlich bedachte Gebiet der Presse betreffen die Schlagworte Kreuzzeitung, La Croix, Le Temps, Manchester Guardian, Nachrichtenagenturen, Nachrichtenverkehr. Sie sind alle bemerkenswert. Die drei erstgenannten wurden von profilierten Sachkennern dargestellt. Wir vermissen freilich Sonderartikel über die Neue Zürcher Zeitung, New York Herald und New York Times.

Ein nachdrückliches Lob geziemt den allgemeinen, der Kultur in ihrem Zusammenhang mit Politik und Gesellschaft geweihten Beiträgen: über Kultur (R. Scherer, Oskar Köhler, wie stets auf engstem Raum stoffsatt und ideenreich), Kulturpolitik (D. Sattler), Kunst (A. Haider), Literatur (A. Bergsträsser), beides vorbildlich, auch als Wortkunstwerk, Musik (W. Gurlitt).

Es wäre überraschend, brächte das Staatslexikon nicht auch in diesem Band untadelige Darlegühgdn’ über ‘Kirche und Religion. Wir verzeichnen: Kurie (deren Organisation),-Laie ütid Laizismus, Luthertum (wiederum ein Beispiel taktvoller Verbindung von konfessioneller Duldsamkeit und sachlicher Kompetenz), Methodisten, Mission (Th. Ohm, im allgemeinen recht gut, doch zuwenig über die von Nationalismus und Kommunismus den Missionen gemachten unberechtigten und mitunter berechtigten Vorwürfen — „sie sagen Bibel und sie meinen Kattun", was kaum die katholische, doch oft die angelsächsische Mission trifft). Sodann über Modernismus (Roger Aubert, einer der Höhepunkte des Bandes), Mönchtum (etwas gedrängt, kein Hinweis auf Ansätze zu neuem Mönchtum im anglikanisch-protestantischen Bereich), Nuntius, Ökumenische Bewegung (J. P. Michael, klug, gerecht, wohlinformierend, zuwenig über Haltung der Ostkirchen). Die biographischen Artikel I Wie immer bei Lexiken ist die Auswahl der aufgenommenen Personen umstritten und umstreitbar. Nur wenige der in diesen Band gekommenen Koryphäen hätten ohne Schaden

„draußenbleiben“ können. Über den diesem oder jenem zugebilligten Raum wäre einiges zu sagen; etwa, daß nur schwer einleuchtet, warum der sehr zeitbedingte Laband mehr Platz erhalten hat als Metternich. Im großen und ganzen aber sind die vorhandenen biographischen Artikel richtig zugemessen und inhaltlich sehr zu billigen. Über den beträchtlichen Durchschnitt ragen zum Beispiel heraus: Leibniz (R. Wisser), Lenin (O. Anweiler, auch ein Muster an, bei aller Festigkeit des Standorts, gerechter ‘ Würdigung), Leo XIII. (W. Weber), Lueger und Metternich (H. Hantsch, daß der geniale Kutscher Europas räumlich etwas zu kurz kam, ist nicht Schuld des Darstellers), Karl Marx (G. Stavenhagen, wie alle Beiträge dieses Autors blendend und unverblendet), Molina (F. Stegmüller), Montesquieu (von der Heydte), Adam Müller (A. Tautscher), Mussolini (H. Scharp, ausgezeichnet das Wesentliche erspürend), Naumann (Conze), Nicolaus Cusanus (H. Hallauer).

Weniger befriedigen biographische Notizen, die entweder der dargestellten Gestalt und ihrem Format nicht voll adäquat sind — etwa von Lincoln. Masaryk, J. St. MÜH, Nietzsche —, oder die sehr anfechtbare Berühmtheiten allzu zart anfassen — Ludendorff, De Man. Zuletzt sei eine kleine Fehlliste gegeben; die in ihr genannten Staatsmänner, Denker, Gelehrten hätten unbedingt Sonderartikel verdient: Kosciuszko, Ludwig Kossuth, La Fayette, Heinrich Lammasch, Li Hung Tschang, Ludwig XIV., Mao Tse-tung, Mazarin, Mazzini, Mirabeau, Monroe. Montaigne. Thomas Münzer, Morgan, Napoleon I., Napoleon III., Nehru, Ok- tavian (Augustus).

Weil wir nun bei den künftig zu beseitigenden Lücken halten, seien noch folgende Schlagworte zur Beachtung empfohlen: Kosaken, Kosmopolitismus, Ku-Klux-Klan, Kuo Min Tang, Matriarchat, Millionär, New Deal. Oktroy.

Hoffentlich haben die kleinen Einwendungen und Ergänzungen, die anzumelden Pflicht und erst in zweiter Linie Recht des Rezensenten sind, nicht etwa den Ein druck geweckt, als würde er dem Wert dieses einzigartigen Werkes nicht gerecht, zu dessen stets auf dem gleichen hohen Niveau beharrenden Fortgang Herausgeber, Redaktion, Mitarbeiter und nicht zuletzt die Benützer zu beglückwünschen sind.

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