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Der Schlußband des Großen Herder

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Vier Jahre, nachdem der erste Band dieses repräsentativen Handbuchs des katholischen Deutschlands den Weg in die Welt angetreten hat, liegt es nun fertig vor — der zehnte Band, eine enzyklopädische Zusammenfassung unseres heutigen Wissens, war schon 1953 herausgekommen. Noch einmal drängt es den Besprecher, seine Bewunderung für die Gesamtleistung auszudrücken, an der Redaktion, Verlag und Mitarbeiter gleichermaßen Anteil haben. Die Vorzüge, die wir bereits an früheren Bänden des Großen Herder rühmen konnten, treten nun am Gesamtwerk eindrucksam hervor: Klarer weltanschaulicher Standpunkt hei verstehender Duldsamkeit für Andersdenkende, Zuverlässigkeit und Vielseitigkeit der Information, maßvolles Urteil, gepflegte Sprache, die sich turmhoch über den papierenen Stil der Konversationslexika von einst erhebt, Reichhaltigkeit auf knappem Raum, Zeitverbundenheit, geschmackvolle, gutgewählte und den Text nicht nur ergänzende, sondern auch ihn belebende Bildtafeln, vorzügliche Karten, eine bis zur unmittelbaren Gegenwart vorstoßende biographische Nomenklatur. Ein paar Schwächen sind durch den aus unwiderlegbaren wirtschaftlichen Gründen aufgezwungenen, gegenüber den Vorkriegs-Nachschlagewerken geringeren Umfang bedingt: insbesondere das Zurückdrängen des Geschichtlichen, das neben dem — im Einklang mit der heutigen Tendenz bevorzugten — Technisch-Naturwirtschaftlichen den Platz räumen muß, sodann die in manchen Fällen ungenügende Angabe der Literatur zum betreffenden Schlagwort, wobei wiederum deutsche Werke gegenüber westlichen begünstigt erscheinen und Oestliches schon gar stiefmütterlich behandelt wird. Ueberflüssig dünken uns zwei kleine Schönheitsfehler: die inkonsequente Transkription slawischer, arabischer und anderer nahöstlicher, chinesischer und japanischer Namen (und damit Schlagworte), dann ein paar — seltene — Entgleisungen, die dem wohltuenden toleranten Geist auf weltanschaulichem, innenpolitischem und auch auf außenpolitischem Gebiet widersprechen, der sonst den Großen Herder auszeichnet. Nicht als Einwendung möchten wir den Hinweis auf unseres Erachtens zu Unrecht fehlende Personen aufgefaßt wissen, den wir bei der Anzeige der einzelnen Bände und auch diesmal anzumelden haben. Der Redaktion des Lexikons gebührt soviel Dank für die im wesentlichen vortreffliche Auswahl der biographischen Notizen, daß wir die vorhandenen Lücken nur entweder als unbedeutende „Betriebsunfälle“ ansehen oder als einen Entscheid über die Wichtigkeit einer Person, der je nachdem positiv oder negativ sein darf.

Wenden wir uns nun dem jüngsten und letzten Band, dem neunten, zu. Hier dominieren zwei Themen: Vereinigte Staaten (26 Spalten) und Weltkrieg (34 Spalten), beide glänzend bebildert und mit musterhafter Sachlichkeit dargestellt. Immerhin sei zu der Bemerkung „Partisanenkämpfe verschärften den Krieg zwischen den Völkern und führten zu Ausschreitungen auf beiden Seiten“ an die hochgesinnten Ausführungen des deutschen Bundespräsidenten Heuß in dessen „Wütdigungen“ erinnert. Unter den außerdeutschen „Widerstandsbewegungen“ vermissen wir die österreichische (O5) und die belgische. In ihrer Nüchternheit erregend und unantastbar sind die Schlagworte Weimarer Republik und 20. Juli 1944. Sehr gut und frei von — naheliegender — Beweihräucherung ist der Artikel über die Zentrumspartei. Geschichte, Geographie und Statistik, Uebersicht über Literatur und Kunst verbinden die Länder — Schlagworte, neben dem voranstehenden Vereinigte Staaten, Thailand, Tibet, Tschechoslowakei, Türkei, Ungarn — beide besonders wohlgeraten —, Uruguay, Venezuela, Vietnam, dann, auf Schilderung des Stadtbildes und der politisch-wirtschaftlich-kulturellen Rolle sowie des historischen Werdens sich beschränkend, Artikel über Tokio, Triest, Venedig (das Geschichtliche über die Sere-nissima allzu spärlich.'), Warschau (gut), Washington (vorzüglich), Wien (sehr gelungen, zumal die Bildauswahl), Zürich. Geographisches ferner: Tropen, Ural, Wüste. Nicht vergessen seien einige bemerkenswerte Sonderdarstellungen ihr Eigenleben besitzender Provinzen, Bundesstaaten oder zur Souveränität aufsteigender Gebilde, wie Thüringen, Tirol, Tunesien, Ukraina, Westfalen, Württemberg Mit dem inmitten so zahlreicher geglückter Ueberblicke noch speziell lobenswürdigen über Urgeschichte, der auf vier Spalten eine von Gedanken strotzende kritische Wertung dieser Wissenschaft bietet, nehmen wir vom Historisch-Geographischen Abschied, nicht ohne schnell auf das Grenzgebiet der Volkskunde, samt schönen Einzelschlagworten, zum Beispiel Vasenkunst, Volkskunst, Volkslied, hinübergeäugt zu haben.

Worauf wir den Sektor des Politischen, der Soziologie und der Wirtschaft betreten. Hier greifen wir in bunter Reihenfolge heraus: Vater, Verkehr, Versicherung, Volk, Völkerbund, Völkerrecht, Wahl, Währung, Weltwirtschaft (wiederum auf engstem Raum eine Fülle des Wissenswerten), Widerstandsrecht, Wirtschaft. Wirtschaftspolitik und Wirtschaftswissenschaft, Wohnung, Zins. Zivilprozeß. Gegen einen der Hauptartikel dieses Sektors. Wehrmachten, hätten wir den Vorbehalt, daß die in Tabellenform beigegebene Statistik nicht den neuesten Stand nach Reduzierung der Oststreitkräfte widerspiegelt. Derlei ist aber keineswegs Schuld des Lexikons: man verfügt über die UdSSR und die Volksdemokratien nur über unzuverlässige fremde Schätzungen, in bezug auf China nicht einmal über das; anderseits ist gerade in bezug auf Deutschland die Lage noch ungeklärt, die österreichische Armee, die sich mindestens neben der im Herder aufgeführten luxemburgischen sehen lassen dürfte, ist für ihn nicht vorhanden. Die für die Schweiz abgedruckten Zahlen sind die eine falsch, die andere durch ein Fragezeichen ersetzt. Stoßen wir einen Seufzer aus und wandern wir weiter, zur Philosophie. Da schreiten wir durch erlesene Landschaft. Ein Artikel ist besser als der andere. Nennen Wir Theorie, Tiefenpsychologie (nochmals eine eigenständige kritische Auseinandersetzung), Tod (ergreifend und erhaben), Tragik, Traum, Universalien, Voluntarismus, Wahrheit, Welt, Wert, Wesen, Wille, Wissenschaft, Zeit. Daß die Behandlungen theologischer, religiöser Stoffe unvergleichlich tiefer und stichfester sind als anderwärts, in neutralen Nachschlagebüchern, ist beim Großen Herder nicht überraschend. Da lesen wir alles Wesentliche über Teufel, Theologie, Tradition, Transzendenz, Trienter Konzil, Unfehlbarkeit, Vatikanisches Konzil, Vereinigte evangelisch-lutherische Kirche Deutschlands (unbefangen und sachlich), Weihnachten, Weltrat der Kirchen, Wunder. Zum Bildungswesen geleiten der an alle dringenden Probleme rührende Artikel über Universitäten, dem jedoch als empfindlicher Mangel die einseitige Konzentrierung auf Deutschland anhaftet, über Volksbildung, Volkshochschule und Volksschule. Verhältnismäßig wenig ist in diesem Bande zur Kunst und zur Literaturwissenschaft gesagt, so in den Schlagworten Theater (auch da die Aufmerksamkeit zu ausschließlich Deutschland gewidmet), Tragödie, Vers, Wandmalerei, Wandteppich.

Sehen wir von den kleinen Monographien über religiöse, philosophische, politische Gegenstände und von einzelnen Länderartikeln ab, dann liegt der Hauptakzent beim Großen Herder auf naturwissenschaftlichem Gebiet, hier wiederum bei aktuellen Fragen, wie Thermodynamik, Transformator, Ueber-schallgeschwindigkeit, Ultrakurzwellen, Ultraschall, Ultrazentrifuge, Uran, Vektor, Verstärker, Wasserstoffbombe, Wasserturbine, Wechselstrom, Welle, bei biologisch-medizinischen, etwa Vererbung (glänzend), Virus, Vitamine, Zelle und Zelleneinteilung, Zwillingsforschung. Von sonstigen Schlagworten dieses 60 weiten Sektors sind erwähnenswert: Thermometer, Uhr, Untergrundbahn, Unterseeboot, Vulkanismus, Waage, Wärme, Wasser, Wasserstoff, Wetter, Zellulose, Zink, Zinn, Zucker, endlich die mathematischen Trigonometrie, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Wurzel, Zahl. Nun noch Zoologisches: Tier, auch ein stoffpraller, beseelter Ueberblick aus hoher Warte, Vögel, Zoologie. Botanisches: Wald, sehr gut, sehr treffend, doch das Gemüt ein wenig enttäuschend, Weizen und, wenn man will, Wein, bei dem dafür das Gemüt durch einen der beiden, im Großen Herder je Band zweimal erscheinenden, „auflockernden“ Rahmenartikel auf seine Rechnung kommt. Der andere Rahmenartikel ist „Welt und Zeit“ geweiht.

Zum Abschluß die Biographien! Verhältnismäßig wenig einem Ueberragenden geltende, darunter wohl die besten folgenden Großen gewidmet: Theresa von Avila, Thomas von Aquin, Tizian, Lev Tolstoj, Lope de Vega, Velazquez, Verdi, Vergil, Voltaire, Richard Wagner, Wallenstein, Walther von der Vogelweide, Washington, Wolfram von Eschenbach, Zara-thustra, Zwingli.

Und nun zum Kapitel Lücken! Wir schlügen zur Aufnahme vor: den österreichischen Ministerpräsi-depten Grafen Franz Thun, den sowjetischen Schriftsteller Tichonov, den Mitbegründer des Formalismus und russischen Literaturkritiker Tomasevskij, den französischen Seehelden Tourville, den polnischen Dichter Trembecki, den italienischen Feldherrn Trivulzio, den tschechoslowakischen Staatsmann Tusar, den sowjetischen Epiker Tvardovskij, den polnischen Philosophen Kazimierz Twardowski, den tschechoslowakischen Ministerpräsidenten und Agrarierführer Udrzal, den aus Dante berühmten Ugolino, den baltischen Baron und antikommunistischen Heerführer Ungern-Sternberg, den ersten großen Schriftsteller Mexikos Bischof Valbuena, den Filmstar Valentine den spanischen Dichter Valle-Inclän, den großen kubanischen Poeten Varonel, den ungarischen Staatsmann und Juristen Verböczy (Codex!), den Pariser Erzbischof und sozialen Vorkämpfer Kardinal Verdier, den französischen Außenminister und bedeutenden Diplomaten Vergennes, den russischen Maler Wereschtschagin, den französischen Dichter Viau, den französischen Geographen Vidal de La Blache, den brasilianischen Bossuet Vieira, den französischen Staatsmann und Regierungschef Villele, seinen Landsmann Marschall Villeroi, den Maltesergroßmeister Villiers de l'Isle-Adam, den französischen Ministerpräsidenten zur Zeit des Ausbruchs des ersten Weltkriegs Viviani, den österreichischen Dichter Johann Nepomuk Vogl. seinen weniger gutgesinnten französischen Bruder in Apoll Vohiey, den litauischen Großfürsten Vytautas-Witold, jenen Universitätsprofessor Wahrmund, der die Ehre hatte, den Namen einer damals hohe Wellen werfenden österreichischen Affäre zu tragen, die polnische Politikerin und Schriftstellerin Wanda Wasilewska, den polnischen Dichter Wegierski, den Wiener Bürgermeister und christlichsozialen Führer Weiskirchner, den Ministerpräsidenten und Präsidenten des österreichischen Herrenhauses Fürsten Windisch-Grätz, den unsterblichen Wippchen, der zwar nie gelebt hat, doch lebendiger geblieben ist als so viele, die noch unter uns als Vertreter seiner journalistischen Zunft wandeln, den polnischen Kunstkritiker Wit-kiewiez, seinen Landsmann, den ungekrönten Bauernkönig und Ministerpräsidenten Witos, den österreichischen Eisenbahnminister Wittek, den alldeutschen österreichischen Politiker Karl Hermann Wolf, den kanadischen Helden General Wolfe, den britischen Feldmarschall Lord Wolseley, den polnischen Kirehen-fürsten und Dichter Woronicz, den polnischen Staatspräsidenten (gestürzt durch Pilsudskis Maiputsch 1926) Wojciechowski, den Dichter und Verfasser der polnischen Nationalhymne, Wybicki, den belgischen Geiger Ysaye, den polnischen General und Statthalter Alexanders I., Fürsten Zajaczek, den polnischen Exilpräsidenten und langjährigen Außenminister August Zaleski, den österreichischen Rechtshistoriker Zallinger, den jüdischen Schriftsteller Zangwill, den polnischen Philosophen und Literaturhistoriker Zdziechowski, dessen Landsmann, den unglücklichen Dichter Zegadlowicz, mehrere Mitglieder des ungarischen Magnatengeschlechts Zichy, darunter den Katholikenführer, den zweiten großen russischen Formalisten Zirmundzki, den Hussiten-feldherrn Zizka, den polnischen Hetman Zölkiewski und den gleichnamigen, obzwar mit ihm aber schon gar nicht verwandten derzeitigen Unterrichtsministet und Literaturdiktator, den kroatischen König Zvonimir.

Zu den vorhandenen biographischen Schlagworten wäre allerlei nachzutragen, das wichff ist, und andere; zu verbcisern. So schreibt man den madjarischen Habsburggegner Thököly und nicht Tököly, bei Tuchatschevskij ist der Grund zu erwähnen, aus dem er hingerichtet wurde: Bezichtigung hochverräterischen Einvernehmens mit der Reichswehr auf der Basis gefälschter Dokumente; Weinhebers Selbstmord wäre zu verzeichnen, samt seiner unseligen Verstrickung in nationalsozialistische Politik, seine Charakteristik wird übrigens dem Maß dieses großen Lyrikers nicht gerecht; Hermynia zur Mühlen hätte auch mit ihrem Geburtsnamen, einer Gräfin Folliot de Crenneville, genannt werden sollen; Zoppi ist schon vor einiger Zeit gestorben.

So, und nun enden wir mit einem überzeugten Lob auf einige das Entzücken jedes Lesers erheischende Bildbeigaben. Voran auf die Reproduktionen nach Tintoretto, Tizian, Velazquez, Vermeer van Delft, Waldmüller, Watteau, Roger van der Weyden, Konrad Witz, auf die Illustrationen zu den Länderartikeln und auf die gesamte Bebilderung des technisch -naturwissenschaffliehen Teils.

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