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GRENZLANDSCHAFT DER DEUTSCHEN SPRACHE

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Der Saarländische Rundfunk führte während der Jahre 1960 bis 1962 eine Sendereihe mit dem Titel „Lyrik in dieser Zeit“ durch. Ihr Autor Dieter Hasselblafct, der seine Fragen mit Spürsinn und Schärfe zu stellen verstand, warf beiläufig zu bedenken ein, die großen und reinsten Dichtungen deutscher Zunge stammten in diesem Jahrhundert bisher fast alle von den „Außenstellen deutscher Sprache“ her. Er dachte — und wir wollen seine Wertung, so sehr sie auch wieder erwogen werden müßte, um der These willen gelten lassen — an die Prager Kafka und Rilke, die Österreicher Trakl und Hofmannsthal, den Elsässer Ernst Stadler, den Schweizer Max Frisch und an Paul Celan, der Jn der Bukowina verwurzelt ist, aber in Paris lebt. Diese Grenzlandschaften der Sprache hätten also, so sagt er, unser gemeinsames Schrifttum um das Gewichtigste bereichert, und es heißt dies gleichzeitig, daß sie den Beitrag der Kernlande schöpferisch übertroffen haben. So sind wir denn befugt, nach dem Wesen dieser „Außenstellen“ zu fragen und es der Eigenart der Binnenländer entgegenzusetzen.

Prag lag am Limes von Sprachen und Völkern. In seinen Mauern wurde die erste deutsche Hochschule zum Studium generale, ein Carolinum kaiserlicher Stiftung für die Magister errichtet. Diese Gründungen, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts um eine Jesuitenschule bereichert wurden, siedelten die christlich-lateinische Bildung gemeineuropäischer Prägung im deutsch-slawischen Osten an. Johannes Kepler sollte hier weilen. Schon im 17. Jahrhundert wurde eine allgemein zugängliche Bücherei gegründet. Die Prager „Gelehrten Nachrichten“ von 1771 zeugen von einem regen Leben; das Theater wurde weithin berühmt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war Prag Sitz des amtlichen Österreichs, 1813 Mittelpunkt des auferstehenden Abendlandes.

Das Herzogtum Österreich dagegen „ruht auf seinem deutschen Daseinsgrunde zuverlässig in der Mitte zwischen der dichterisch unbestimmbaren germanischen Jugendzeit des Landes und der Heraufkunft einer gemeineuropäischen Bildung“. Im frühen Mittelalter zog griechische Liedkunst von Byzanz her donauaufwärts an den Babenberger Hof; der Elsässer Reinmar war erster Hofdichter. Walther von der Vogelweide, Neidhart von Reuental gehörten diesem Räume an, einem allgegenwärtigen Kulturraum, in dem die Dichtung lebte, selbst wenn sie die Namen der Dichter vergaß: das Nibelungenlied, Kudrun, Ortnit, Wolfdietrich, die Rabenschlacht, Dietrichs Flucht. Am Ende des Mittelalters wurde Innsbruck Humanistenhof, Wien kaiserliche Hauptstadt. Zur Zeit der hohen Romantik kehrten hier Zacharias Werner, Gentz, Lenau, Friedrich Schlegel ein. Das Grenzland war Mitte.

Das Elsaß stand während vieler Jahrhunderte als Mischkultur im Sprachenkampf. Jakob Sturm, dem es seine Schulen dankt, rettete es 1552 vor dem Zugriff Frankreichs. Johann. Fischart, Hans Michael Moscherosch dichteten deutsch, deutsch schrieb Grimmelshausen sein großartiges Werk. Er stammte aus Gelnhausen, das Brentano wiederum berühmt machen sollte.

Auch die Schweizerische Eidgenossenschaft greift über Sprachgrenzen und Stämme hinweg, viersprachig eins; es streben ihre Ströme dem Mittelmeer, der Adria, dem Schwarzen Meer, der Nordsee zu, und diese Wege vermittelten Austausch und Gespräch. Das Kloster St. Gallen und seine Schreiberschule, die Freiburger Humanisten, die Berner Spiele, die Zürcher Wiederentdeckung des Mittelalters, der Engländer — Miltons, Shakespeares — gegen den herrschenden französischen Kulturkreis, wie sie Bodmer und Breitinger gelang, dienten dem Ortsgeist und der europäischen Heimat. In Zürich fanden Klopstock, Wieland, Goethe Freude und Freunde, von diesem Land aus brach der Kampfruf Rousseaus die Geschichte um, eroberte der friedliche Geist Pestalozzis die Welt. In der Schweizer Erde ruhen Georg Büchner, Rainer Maria Rilke, Hugo Ball, Stefan George, Melchior Lechter, James Joyce, Alfred Mom-bert, Robert Musil, Georg Kaiser, Ludwig Derleth, Ernst Wiechert, Thomas Mann, Ludwig Klages, Hermann Hesse, Ferdinand Lion. Sie alle haben unser Land nicht verschmäht, wie den österreichischen Kaisern eine Krone tragbar schien, die mit den Juden David, Salomo und Jesaias geziert ist. Alfred Mombert machte Rudolf G. Bindung 1933 darauf aufmerksam.

Siebenbürgen und das Burgenland waren ungarisch-galizi-sches Siedlungswerk. Im Behagen des Heimatgefühls gefiel sich ein weites Geistesleben voller Austausch, Gabe und Gewinn.

Überblicken wir in solcher Kürze die Art dieser Grenzlandschaften, so gestehen wir ihnen den bunten und fiebernden Reichtum aller Ubergänge, den Sog schöpferischer Wirbel, gärende Begegnung, Abwehr und Anverwandlung,das Glück der Wahl, die Übergewalt der Kulturgefälle, die Freiheit des Individuums und damit die Toleranz, die das anders Geartete achtet, zu. Im Falle Österreichs klang das Lob aus dem Munde von Hugo von Hofmannsthal so:

„Es hatte in Europa neben der Schweiz, für Millionen denkender Individuen ein übernationales Vaterland gegeben. In Millionen denkender Individuen war, von Geschlecht zu Geschlecht überliefert, dieser Glaube lebend gewesen: daß sich Nationen verstehen, ihre Kultur mit wechselseitiger Sympathie umfassen und über ihr nationales Dasein hinaus sich in einer höheren Einheit zusammenfinden sollen und können.“

Und das andere gehörte mit dazu. Carl J. Burckhardt, der von 1918 bis 1921 als Gesandtschaftsattache in Wien weilte, schrieb es von Zürich aus seinem Rodauner Freund, er „genieße eine der schönsten Freiheiten der liberalen Demokratie, das Alleinsein“. Er war es auch, der Österreich wie jede Idee als Wagnis empfand, denn: „Föderieren kann man sich nur unter dem Nenner eines starken Grundgedankens, einer Uberzeugung.“

So gewähren die Grenzlandschaften das Einsamkeitsbewußtsein sich Geseilter, die Gemeinschaft als Gabe solche C, die aus sich heraustreten und die sich wiederum allein auf ihren Beitrag besinnen. Solche Grenzräume mißtrauen dem manipulierten Menschen; sie verlieren zuweilen die Größe an die Vielfalt, verkennen ihre Großen unter der Vielzahl. Sie sind aber ursprünglich reich, wenn sie auch nicht reich erscheinen.

Dem haben wir — wir verhießen dies zu Beginn — die andere Art des Kernlandes entgegenzusetzen. Wiederum Hugo von Hofmannsthal weist uns einen Weg dazu. Es gibt von ihm ein Schema aus dem Jahre 1917, das den Österreicher seiner Kenntnis dem Preußen seines Begriffs gegenüberstellt. Hier halte, so meint er etwa, die Heimatliebe, dort die Staatsgesinnung zusammen; hier herrsche mehr Menschlichkeit, dort aber mehr Tüchtigkeit; während hier nämlich jeder einzelne Träger einer ganzen Menschlichkeit sei, so bleibe dort jeder einzelne Träger eines Teils der Autorität. Während hier das Private zähle, wiege dort das Geschäftliche vor.

Das alles gilt heute kaum für den Preußen und seinen Staat, nach wie vor und voll aber für den Menschen, für das Zeugnis des Menschen, die Literatur. In Deutschland wird das moderne Schrifttum an der Börse der Cliquen kotiert. Sein Markt wird von Managern erschlossen. Werte werden gemacht, Werte mißachtet. Der Ursprung der Gruppen ist politisch-publizistischer Natur. „Nicht Literaten schufen sie, sondern politisch engagierte Publizisten mit literarischen Ambitionen.“ Ihr Bestreben war lobenswert. „Sie wollten unter allen Umständen und für alle Zukunft eine Wiederholung dessen verhindern, was geschehen war...“ Wolfgang Weyrauch nannte diesen Versuch 1949 „den Kahlschlag“. Er schrieb: „Wir sind glücklich darüber, daß unsere Einsamkeit beendet ist, daß die Vielfalt der Literaturen der ganzen Erde, ihre Thesen und die Zeugnisse ihrer Thesen, uns durchsäuert. Wir hatten das bitter nötig, und wir haben es bitter nötig.“ Weyrauch also war es, der den selbstverständlichen Reichtum unserer Grenzlandschaften für die Binnensituation herbeisehnte. Er tat es jedoch echt deutsch. Als deutsch hatte nämlich Carl J. Burckhardt den „Hang zu extremen Lösungen“, zu großen Worten verstanden. Die neue deutsche Literatur sollte also durch den Sauerteig „der Literaturen der ganzen Erde“ gewandelt werden. Sie, die tausend Jahre lang deutsch und nur deutsch gesprochen, konnten jetzt durch ihre geschäftigsten Vermittler zu den Besatzungsmächten englisch, wenig französisch, kaum italienisch, kein spanisch. Es soll nicht vergessen werden, daß sich die Besten mühten: Heute besitzt Deutschland, um die Hoffnung Weyrauchs wahrzumachen, eine beachtliche Übersetzungsliteratur und bedeutende Vermittler von Kultur zu Kultur, so etwa nach Karl Vossler und Ernst Robert Custius, Hugo Friedrich. Wir — in den Grenzlandschaften — wußten schon längst Bescheid.

Hans Werner Richter schrieb, die Kahlschläger gingen von der Ansicht aus, „daß Demokratie die am schwierigsten praktizierbare Methode des menschlichen Zusammenlebens“ sei. Während wir uns in ihr zu Haus fühlten und in ihr unsere Schaffensvoraussetzungen fanden, schuf das literarische Deutschland seine Kommunikation in der Clique, die . „gleichzeitig Zentralpunkt, Kaffehaus, Metropole und Diskussionsbühne“ wurde. Nicht die Qualität setzte Masse, sondern die Zugehörigkeit. Wohl wollte man keinen „konformistischen Fraktionszweig“. Aber man kämpft nur gegen Übelstände an, die von uns schon Besitz ergreifen.

Die Schlagworte „antifaschistisch“ und „antiautoritär“ schenkten noch kein Programm. Die negativen Kategorien hatten noch nichts von dem zu bieten, das die-Grenzlandschaften in innerer — und wo es das Schicksal gab, in äußerer Abwehr gehütet hatten. Es ist nicht von ungefähr, daß auch Hugo Friedrich „Die Struktur der modernen Lyrik“ definitorisch von negativen Kriterien her bestimmen muß. Er tut es, indem er die Tatsache der Abnormität festhält und die Frage offen läßt, ob uns die Dichter so weit voraus seien, daß sie noch kein gemäßer Begriff einholen könne oder ob die moderne Dichtung endgültig nicht assimilierbar sei.

Sicher ist, daß jene Kritiker von einst Wirtschaftswunderaspiranten geworden sind. Cliquen verfallen, um sich zu hatten, ihren Profiteuren. Profiteure aber liefern das Geschäft. Und das Geschäft blüht. Anders als in den Grenzlandschaften können Millionen und Abermillionen erreicht, Millionen aus der Eitelkeit' herausgeschlagen werden. Markt ist Münze. Die Münze findet ihre Leute. Heute ruft selbst Marcel Reich-Ranicki nach Arbeitstagungen seiner Schriftsteller „ohne Verleger, Rundfunk- und Presse-Einkäufer“. Verleger, Rundfunk-, Presse-Einkäufer bilden aber mit jenen Dichtern zusammen eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft. Märkte werden erobert, beherrscht, Autoren gemacht. Die Auflage wird zur Funktion der eingesetzten Mittel. Da wird Hand in Hand gearbeitet. Der Beifall ist bezahlt oder einfältig.

Wenn all dies nicht wahr wäre, so bliebe es doch die Gefahr der Kernländer, und Gefahren werden wir, träge wir wir sind, erst inne, wenn sie an uns fressen. Wohl gibt es unter den Hochgespielten Könner, einzelne Meister; Meister leben aber auch unter den Ungekannten, Unbekannten. Die sichtbaren Werte sind nicht immer Werte, und Werte bleiben des öftern unsichtbar. Der Anschein, der solcher Literatur gegeben wird, ist nicht die Literatur. Der Historiker wird sich künftig weder an Auflagezahlen noch an die Anpreisungen der Presse halten können. Wenn auch der Erfolg' Werte zu erwecken vermag, so setzt er doch keine Maße.

Die Binnenländer sind von solcher Maßlosigkeit bedroht. Die Zahlen geben ihnen recht; merkantil aber wie sie sind, haben sie literarisch unrecht. Die Clique gibt den Steigbügelhaltern ihre Geltung, wie das Kollegialsystem der Regierungen den Unbeholfenen tarnt, die Uniform den Buben mit dem Manne verwechseln läßt.

Sind uns die Dichter voraus, fragte Hugo Friedrich. Sie sind uns voraus. Während wir noch sprechen, stammeln sie schon. Die Managerliteratur, die immer neuer Reize bedarf, lebt in einer anderen Grenzlandschaft, jener der Sprache schlechthin. Sie löst die Sprache auf. „Charakter der neuesten deutschen Poesie. Das Phantasielose und das Gemachte.“ hat Grillparzer 1838 in sein Tagebuch eingetragen. Es gilt heute wie damals. Auch hier folgt der Deutsche seinem Hang zu extremen Lösungen. Dazu ist zu sagen, daß die Kritik heute selten Sprachkritik ist. Die Häcksel der Aufzählung werden für Prosa genommen. Der Imitator sichert sich ein bequemes Verständnis. Jean-Paul Sartre schrieb, daß Dichter Leute seien, die sich weigern, die Sprache zu benutzen. Ihnen nämlich diene die Sprache. „Die Ding-Wörter gruppieren sich — wie Farben und Töne — nach magischen, harmonischen oder unharmonischen Assoziationen, sie ziehen sich an, sie stoßen einander wieder ab, sie verbrennen sich, und ihre Assoziation bildet die wahre poetische Einheit, das Satz-Objekt.“ Er noch setzte also — anders als seine Nachbeter — den Satz vor die Alleinherrschaft der Wörter. Aber wie Baudelaire an der Schwelle der neuen Lyrik verkündigte, die Phantasie zerlege die ganze Schöpfung nach den Gesetzen der tiefsten Seele, und es gelte, aus den Teilen eine neue Welt zu zeugen, so zerschlagen wir Satz und Sinn, und die Welt, die wir errichten, heißt Montage. Das Wort variiert seine Beziehungen, baut sie nach eigenen Gesetzen um. So gesellen wir, wie es Ezra Pound wollte, Rotwelsch, Slang, mythologische Erinnerungen, Redensarten der Sprache der Bibel, vorgeformtes lyrisches Gut dem Fund. Konkrete Dinge mimen mit abstrakten Begriffen gekoppelt willig Tiefsinn.

Wie die Literatur wird auch die Sprache manipuliert. Manipulationen aber verfahren spielerisch und willkürlich. Die Montage bewegt sich an der Unsinnsgrenze der zerebralen Möglichkeiten. Das ist viel, aber nicht das Entscheidende. Der Wiener Hermann Broch hat davon gesprochen, daß das Sein, zur reinen Funktionalität aufgelöst, uns zum Schicksal werde. An die Stelle der Nomina tritt die funktionale Partikel.

So führt die moderne Dichtung die Welt in die Chiffre über. Der Mensch als „Bezugsmitte des Seienden“ ließ sie zu Bildzeichen verflüchtigen, wissen wir seit Heidegger. Die moderne Chiffrespracfae der Dichtung bedarf der Kenner; der Ruf nach den Kennern lockt den Snob herbei. Die Clique hat ihr Augurenzwinkern. Die Absurdität bestimmt unser Geschick. Die Welt wird sich selber fremd und damit leer. Auch der Dichter wird unsichtbar. Kafka verzweifelte für eine ganze Zukunft: „Kein Wort fast, da ich schreibe, paßt zum andern, ich höre, wie sich die Konsonanten blechern aneinanderreihen, und die Vokale singen dazu wie Ausstellungsneger.“

Solche Sprache kennt keine Mitteilung mehr. Sie ist von niemandem an niemanden gerichtet. Die Maschine, die Max Bense an die Stelle des Dichters setzen will, hait keine BioeraDhie. Schon die Dichter reden uns ohne die Gewähr Ihres Lebens an. Ihre Verwandlungen — wenn sie solche hätten — rissen uns nicht mit. Der subjektlose Satz der subjektlosen Poesie wird uns auf Grund schlüssiger Marktanalysen eingetrichtert. Die sprachliche Rhythmik wird unpersönlich uniform. Hans Arp weiß: „Unsere Worte sind Abfälle. Sie vergehen im bösen Grau, das keine Spuren hinterläßt. Grau in Grau verliert sich unser Leben.“ Die Artefakte der Sinnlosigkeit setzen uns also in einer Mondlandschaft der mißhandelten Sprache aus.

Die Zertrümmerung der Sprache betrifft aber den Menschen. Die Selbstentfremdung des Wortes verfehlt also die Gemeinschaft. Sie bedarf nämlich Eingeweihter. Eingeweihte aber laufen Gefahr, zur Clique zu werden. Es gälte das Wort wiederherzustellen, dem Zufall wiederum Sinn zu geben. Adam Müller, der — Berliner — Landeskommissär und Schützenhauptmann eines Urbanen Kaisertums in Tirol, Regierungsrat und Hof rat des Kaisers Franz war, lehrt uns:

„Der Mensch soll nicht denken über die Sprache hinaus oder in Gedanken weiter schweifen als die Sprache reicht: die Grenzen der Sprache sind die göttlichen Grenzen, die allem unserm Tun und Treiben angewiesen sind; und diese Grenzen sind keine Mauern; sie wachsen, wie die innerliche, treibende Kraft unserer Seele wächst.“

Zur treibenden Kraft unserer Seele gehört allerdings auch das Experiment der modernen — auch der deutschen —< Dichtung. Wir wollen es nicht missen. Es ist aber die Aufgabe der Grenzlandschaften der deutschen Sprache, das Wort wiederum in den Gehalt heimzuholen. Es geht nicht um eine Mission. Wir sind zu machtlos dazu. Es geht lediglich darum, daß wir unsere andere Art nicht verkennen, ihr vielmehr mit Stolz treu bleiben.

In unseren Gemarken können weder jene Millionen bewegt noch ausgemünzt werden. Unsere Dichter stehen allein. Sie haben, wenn es hoch kommt, Freunde, Freunde anderer Absicht und anderen Beifalls. Unsere Verleger glauben an ihre Autoren und nicht an die Masse, die sie erreichen. Sie erreichen nämlich keine Masse, sondern Leser. Das macht das Verdienst ihrer Arbeit aus. Die Autoren setzen — nach jenem Schema Hofmannsthals — einer größere Gewandtheit des Ausdrucks mehr Balance entgegen. Diese Balance aber macht unseren Rang aus, folgern wir aus dem eingangs zitierten Satz, daß die extreme Lösung deutsch anmute. Sie ist menschlich, weil man sich nur unter dem Nenner eines starken Grundgedankens, einer Überzeugung, zu föderieren vermag. Auch das lernten wir eingangs vom Wiener Gesandtschaftsattache Carl J. Burckhardt.kum auf irgendeine Weise zu nähern versuchen. Damit sei nichts gegen „neue Wege suchende Jünger der Moderne“ gesagt. Sucht man „Neues“ allerdings um jeden Preis, wird man verkrampft und unnatürlich werden. Wahre Kunst bedarf keiner Reklamemaschinerie. Sie muß sich unter allen Umständen auch so durchzusetzen wissen, ansonsten taugt sie wenig. Die Frage, ob das Publikum und selbst Kritiker die ehrlichen Bemühungen vieler junger Autoren um eine „Harmonie mit frischem Wind“ zu würdigen wissen werden, kann nur eine „Chronik der Literatur der sechziger Jahre“ in fernen Tagen bestimmen. Die heute von Verlegern und Lesern oft zur Schau getragene Indifferenz gegenüber junger Prosa muß überwunden werden, will man einer gesunden und fruchtbaren Entwicklung der Literatur den Weg bereiten.

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