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Der Dichter und die Sprache

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Der Mensch ist das einzige Erdenwesen, welches die Welt denkt und sich damit über sie hinausschwingt. Dieses Grundwort der Sprache „ist“, das die Welt setzt und damit gewissermaßen abbildet, macht den Unterschied zwischen tierischer Verständigung und menschlicher Sprache aus, denn noch nie hat ein Tier etwas abgebildet. Der andere Unterschied ist, daß das Tier seine Verständigungslaute erbt, der Mensch aber seine Sprache erlernen muß und sie darum auch fortgestalten kann. Vom Schöpfer als Ebenbild angelegt, betätigt sich der Mensch am eigensten, wenn er spricht und also mit seiner Sprache Ebenbilder schafft. Das Tier ist zuerst Gattung, dann Individuum; der Mensch aber, über das Individuum hinaus, Person und Gattung: demgemäß empfängt er seine Sprache von der Allgemeinheit und findet, sprechend, doch seinen persönlichsten Ausdruck. Als ihm ein schweigender Jüngling vorgestellt wurde, sagte Sokrates: „Sprich, damit ich sehe!“

Wir können uns Gott als Schöpfer, aber auch als Erlöser vorstellen; es ist dasselbe geheimnisvolle Es, womit das „Es werde Licht“ und das „Es ist vollbracht“ anheben. So können wir auch zwischen schöpferischen und erlöserischen Menschen unterscheiden, und der Prototyp des schöpferischen Menschen ist der Dichter, weil er in der Sprache schafft. Von allen Dichtern ist der satirische zwar nicht der größte — Homer, Vergil und Dante waren keine Satiriker —, wohl aber der seltenste. Nichts häufiger als der kleine Satiriker, welcher den sozialen Auftrag erfüllt, uns dort zu kratzen, wo es juckt; nichts seltener jedoch als der große Satiriker, weil er die stärkste Sprachintensität voraussetzt: muß er doch, kraft der höchsten, die niederste Sprache gestalten, kraft der reinsten, die gemeinste Sprache geistig bewältigen; in ihm wird der Ekel schöpferisch. So ist er stets ein Doppeldichter: Lyriker und Hundefänger der räudigsten Tonfälle in einem. Diesen Kontrast überwindet er durch die Vis comicä seines Lachens. So sind denn, im Gegensatz zu der Vielzahl genialer Poeten, die genialen Satiriker an der Hand abzuzählen: Aristo- phanes, Petronius, juvenal, Rabelais, Cervantes, Swift, Gogol, Karl Kraus.

Von diesen Großen Acht ist einzig Karl Kraus Jude. Nun ragt der Genius ja stets über sein Volkstum hinaus — wie könnte er es sonst gestalten? —: Platon war in seiner Sinnen-Geringschätzung ungriechisch, Vergil in seinem Mystischen unrömisch, und doch waren sie sogleich so griechisch und so römisch wie nur möglich. So wächst auch Karl Kraus über das Jüdische hinaus, wiewohl doch sein Verhältnis zur Sprache zutiefst im Jüdischen wurzelt. Denn die Sprachsituation der Juden ist paradox: dank ihrem Gottes- wort haben sie sich unversehrt aus der Antike herübergerettet, und waren doch dazu verurteilt, statt einer eigenen stets fremde Sprachen zu sprechen. So ist das Verhältnis des Juden zur Sprache ein tieferes oder ein flacheres als bei anderen Völkern: entweder liebt er das Wort von ganzem Herzen, von ganzer Seele und aus allen Kräften, oder er gebraucht es, und zwar geschickter als die Schöpfer dieser Sprache, eben weil ihm deren Bindungen fehlen. Die einzige moderne Sprache, in der die Juden schöpferisch geworden sind, ist tragischerweise gerade jene des Volkes der Judenvernichter, und zwar unmittelbar vor dem Gaspogrom: die deutsche Sprache.

In einer Sprache schöpferisch werden, heißt, auf sie konstitutiv wirken: in ihr, mit ihr und durch sie neue Seelenbezirke erobern und neue Menschentypen prägen — aber beileibe nicht neue Worte machen, sondern die alten Worte zu neuen Gedanken erweitern! Diesen Dichtern gelang es, ihre Wortverbundenheit im Deutschen zu finden, bei Kraus aber weitet sich der angestammte Gegensatz zwischen Wortandacht und Wortgebrauch zu der zitternden Sprachspannung des Satirikers überhaupt. Denn der Satiriker kämpft, die Ideale im Rücken, gegen eine entgötterte Welt, indem er das Geistlose kraft seiner Sprache dennoch dem Geiste einverleibt: dadurch, d ß er dem Geistlosen jene einzige Verbindung schafft, die es mit dem Geist noch haben kann — das Ausgelachtwerden! „ Ruft euch mein Zauberwort: seid ihr Gespenster!“ Der Satiriker muß seinen Blick freihalten, wie jenes Kind, welches als einziges sah, daß der Kaiser keine Kleider hatte, und niemandem konnte das so gelingen wie einem Juden, dessen Volk doch seit zwei Jahrtausenden Zuschauer der Weltgeschichte ist. Wie Wahrheit gleichbleibt, Während Lüge sich tausendfältig in immer neuen Formen windet, so hat auch jede Zeit ihre eigene, ganz neuartige Dummheit. Die Dummheit unserer Epoche nun konzentriert sich in jener furchtbaren, technisch heraufbeschworenen Spracherkrankung, welche die Phrase heißt. Und da jedem Genie bestimmt ist, in die Geistessituation seiner Mitwelt dramatisch einzugreifen, so war der Kampf gegen die Phrase das Los des Satirikers Karl Kraus. Denn nur ein genialer Jude konnte die Phrase wirksam bekämpfen, weil ja intimste Kenntnis des Gegners Voraussetzung des Ueberwindens ist. Da aber die Phrase vor allem durch die Tagespresse verbreitet wird, so erwuchs daraus ein vierzigjähriger David- und-Goliath-Kampf, wo der Kleine gegen die Riesenstirn jene Kieselsteine schleudert, die von den Funken seines Witzes sprühen!

Karl Kraus’ Kampf gegen die Phrase, diese größte geistige Auseinandersetzung unserer Zeit, erhielt durch zwei weitere Umstände seine Intensität: keine Kultursprache ist für diese’ Phrase so anfällig und ihr so ausgeliefert wie die deutsche, weil ihr undinenhaftes Wesen Sprachfreiheit und Sprachzwang nicht so sinnfällig darbietet wie etwa das Französische oder das Englische. Also bedeutet die rotative Verbreitung der Phrase im Deutschen die schwerste Kulturgefahr. Das erkannte Karl Kraus, und um so mehr, daß der Erste Weltkrieg, Auftakt unserer Katastrophen, über alles Vordergrundgeschiebe hinaus durch die Phrase entstanden war! Worte waren nicht mehr Lebewesen, sondern Seelenpeitschen; wer aber das Wortleben verliert, verliert auch die Wirklichkeit: er manipuliert Worte, Worte, Worte , und siehe, die Wirklichkeit styrzt über ihn zusammen. So kam es, daß Karl Kraus dank seinem Spracherieben den Weltkrieg als einziger verstand und daher auch als einziger als das abbilden konnte, was er wirklich war: als Zerstörung des göttlichen Ebenbildes. „Zerstört ist Gottes Ebenbild“, mit diesen Worten schließt sein Hauptwerk, das Drama „Die letzen Tage der Menschheit“. Dieser Kampf gegen die - Phrase wurde künstlerisch, das heißt, im Zitieren abbildend, geführt, die Dummheit bekam Relief, und seltsam: je tiefer Karl Kraus die Phrase erkannte, um so tiefer erkannte er auch — im biblischen Sinne — die deutsche Sprache, bis sie ihm, dem Vierzigjährigen,- endlich die Fülle reinster Gedichte schenkte, — am Weltkrieg wurde er zum Lyriker! Karl Kraus hat die Phrase geistig bewältigt. „In mir empört sich die Sprache selbst, Trägerin des empörendsten Lebensinhalts, wider diesen selbst. Sie höhnt von selbst, kreischt und schüttelt sich vor Ekel. Lyben und Sprache liegen einander in den Haaren, bis sie in Fransen gehen, und das Ende ist ein unartikuliertes Ineinander, der wahre Stil dieser Zeit.“ Aber gibt es nicht heute zehnmal mehr Phrasen? Das schon; dennoch wurde durch sein Werk ein Gedanke in die Welt gesetzt, der die Menschheit nie mehr der Phrase völlig verfallen lassen wird. So enthalten zum Beispiel die Evangelien kein Wort gegen die Sklaverei: dennoch war mit dem Christentum ein Prinzip in die Welt gesetzt, welches in tausend Jahren die Sklaverei von selbst abstreifte. Macht uns Sprache erst zu Menschen — und also die Phrase zu

Unmenschen —, so hatte Adolf Loos recht, als er von Kraus sagte: „Und die Menschheit wird einmal Karl Kraus ihr Fortleben zu verdanken haben.“ Denn niemand hat ihr den geistigen Tod so deutlich vor Augen gestellt. So ist Karl Kraus durch seinen Riesenkampf und sein Riesenwerk der Retter der deutschen Sprache geworden, mag sie auch noch so viele Abstürze in die Barbarei durchmachen.

-X-

Karl Kraus’ Sprach Verhältnis ist vom Religiösen und vom Eros her bestimmt: seine Weltanschauung ist ein Schauen des Wortes und des Weibes. „II n’y a pas deux amours“, sagt Lacordaire OP., denn die irdische ist ein Sinnbild der himmlischen. Das Weib bringt ihn zur Sprache, und sein Streben ist, die Dinge zur Sprache zu bringen. Das ist im gewaltigsten Sinne jüdisch. Denn es war ja Johannes, dessen Evangelium anhebt mit der Kunde von dem Wort, das am Anfang war, und ohne das nichts gemacht ist, was gemacht ist: hier wird der Erlöser, der Logos, zugleich als Weltenschöpfer erkannt — und die Sprache, das menschliche Wort, als Symbol des göttlichen Wortes! „Denn wißt, das Wort das am Anfang war, das sind meine biblischen Siebensachen“, heii?t es bei Karl Kraus. Woher kommt es denn sonst, daß wir Menschen mit dem Wort eine Welt schaffen können? Wort und Geschlecht können nur aus dem Jüdisch-Christlichen erkannt werden. Denn jüdisch ist auch das Hohelied, jüdisch die Idee der Sophia, der Weisheit Gottes, wo Weib und W’ort so erhaben ineinanderfließen! Alle Lieder der Dichter sind Liebeslieder, doch daß Sprachverehrung und Frauenverehrung in eins, ins Religiöse zusammenlaufen, das ist das Besondere und Tiefe bei Karl Kraus. Doch gerade der Satiriker sieht Wort und Weib von der Welt geschändet, und wie nur je ein Ritter kämpft er für beide buchstäblich bis zum letzten Atemzuge (19361). Immer wieder erscheinen sie zusammen: „Viel totes Leben drängt sich an der Pforte, hier wimmern Weiber und hier weinen Worte“; „Und Wort und Weib, sie wiesen zu den Schatten, und alles Leben wurde ein Ermatten —“.

Jedes Volk hat Grundworte, auf denen sein geistiges Sein sich auf baut. So liegt zum Beispiel im Französischen „généreux“ ein Element der Vergebung. In „généreux“ ist bereits das ganze Rittertum, eine französische Schöpfung, enthalten. Ein unübersetzbares Grundwort der Deutschen ist „Gemüt". Das Grundwort des Gottes Volkes der Juden aber ist „Gerechtigkeit“, — läßt man. doch selbst den Anekdotenjuden „Gott, du gerechter “ rufen. Gerade beim Juden ist das Bestreben charakteristisch, dem anderen „gerecht zu werden“. Die andere Seite der Gerechtigkeit ist aber die Rache. „Die Rache ist mein, spricht der Herr.“ So fühlt sich der jüdische Satiriker als Vollstrecker göttlichen Gebotes, denn er kann seine Verwandtschaft mit dem eifernden Geschlecht der Propheten nicht verleugnen: Es ist kein Ressentiment, sondern ein frommes Herz, das da Rache nimmt: „Und opferte mein Herz den Haßgewalten“, sagt Karl Kraus von sich in einem erschütternden Gedicht. Und an einer anderen Stelle: „Von Rache sprech’ ich, will die Sprache rächen an allen jenen, die die Sprache sprechen.“ Denn auch die Vertreibung der Händler und Wechsler aus dem Tempel der Sprache ist ein Werk der Liebe!

„Haß muß produktiv machen. Sonst ist es gescheiter, gleich zu lieben“, heißt es bej Karl Kraus. Sprachliebe und Phrasenhaß sind bei ihm nicht zu trennen; sie steigern sich aneinander, und beide sind einç. Seine unmittelbare Sprachliebe wirkt in drei konzentrischen Sphären: im äußeren Bereich als freudiges Entdecken .verschollener oder noch un- gewürdigter Sprachwerte, im mittleren als ein Denken über die Sprache, im innersten aber als ein Denken aus der Sprache. Die Wünschelrute seines Sprachgefühls schlägt über allen verborgenen Geistesadern aus: er hat die deutsche Barocklyrik entdeckt, Goethes „Pandora“ als den höchsten Sprach- gipfel erkannt, in einer bewundernswerten Ausgabe Shakespeare zur endgültigen deutschen Form verholfen und Nestroy wieder erweckt; er ist aber auch für Liliencron, den jungen Hauptmann, Peter Altenberg und Frank Wedekind (mit denen allen ihn persönliche Freundschaft verband) in einer Zeit eingetreten, in der diese noch umstritten waren. Die innerste Sphäre, das Denken aus der Sprache, ist Karl Kraus’ eigentliches Leben. Die Seele ist die Form des Körpers, lautet eine griechische Erkenntnis. Und also ist der Gedanke die Form der Sprache. Und daher wiederum schöpft man aus der Sprache Gedanken. „ Daß die Gedanken aus der Sprache kommen, leugnen vorweg die, welche sprechen können. Denn sie haben an sich ähnliches noch nie beobachtet. Das Kunstwerk entsteht nach ihrer Meinung als Homunkulus. Man nimmt einen Stoff und tut ihm die Form um. Aber wie kommt es, daß sich die Seele Haut und Knochen schafft? Sie, die irgendwo auch ohne Haut und Knochen lebt, während diese nirgend ohne Seele leben können und nicht imstande sind, sie sich zu verschaffen, wenn sie wollen.“ Und so, aus der Sprache denkend, schreibt Karl Kraus das wunderbarste Deutsch der neueren Zeit. Weil das Bessere der Feind des Guten ist, bedeutet es keine Ehrfurchtsverletzung, wenn ich feststelle, daß Nietzsches Prosa neben der seinen beiläufig erscheint, Pvilkes Gedichte neben den seinen abwegig und preziös wirken, so sehr man jene und diese an sich auch schätzen mag. Das ist nicht obenhin gesagt, sondern es läßt sich beweisen. Es gibt ein grandioses Sonett der Plejaden-Dichterin Louise Labé, das von Rilke und von Kraus übersetzt worden ist. Man urteile selbst:

Das Gedicht von Louise Labê

O beaux yeus bruns, ô regards destournez,

O chaus soupirs, ô larmes espandues,

O noires nuits vainement attendue .

O jours luisans vainement retournez:

O tristes -pleins, ô désirs obstinez,

O temps perdu, ô peines despendues,

O mile morts mile rets tendues,

O pires maus contre moi destinez.

O ris, ô front, eheueus, bras, mains et doits:

O lut pleintif, viole, archet et vois:

Tant de flambeaus pour ardre une femelle!

De toy me plein, que tant de feus portant,

En tant d’endrois d’icens mon coeur tatant,

N’en est sur toy volé quelque estincelle.

Die Uebersetzung von Rilke

O braune Augen, Blicke weggekehrt, verseufzte Luft, o Tränen hingegossen,

Nächte, ersehnt und dann umsonst verflossen, und Tage strahlend, aber ohne Wert.

O Klagen, Sehnsucht, die nicht nachgibt. Zeit mit Qual vertan und’ nie mehr zu ersetzen, und tausend Tode rings in tausend Netzen und alle Uebel wider mich bereit.

Stirn, Haar und Lächeln, Arme, Hände, Finger, Geige, die aufklagt, Bogen, Stimme, — ach: ein brennlich Weib und lauter Flammen-Schwinger.

Der diese Feuer hat, dir trag ich’s nach, daß du mir so ans Herz gewollt mit allen, und ist kein Funken auf dich selbst gefallen.

Die Uebersetzung von Karl Kraus

O schöne Augen, Blicke abgewendet, o. Seufzer, Klagen, o vergoßne Tränen, o dunkle Nächte, die durchwacht mein Wähnen, o lichter Tag, vergebens mir verendet!

O Trauer du, der Sehnsucht stets verweilt, o alle Uebel wider mich bereitet, o tausend Tode rings um mich gebreitet, o Ewigkeit der Qual, der Zeit enteilt!

O Geigenton des Leids, Musik im Schmerz,

Lächeln, Stirn und Haar, o edle Hand — zti viele Flammen für ein armes Herz!

Weh, dir, der alle diese Feuer trägt, daß du sie an mein Leben hast gelegt, und bleibst von jedem Funken unverbrannt!

Rilkes Uebertragung ist noch sprachtrübe, noch nicht völlig geklärt, während jene von Karl Kraus in kristallener Reinheit die Tränenperlenkette der „O“ bewahrt hat. Zwischen dem mechanischen „weggekehrt“ und dem geistigen „abgewendet“ liegt ein Abgrund des Schmerzes. Der eine sagt „verseufzte Luft“, der andere bloß „O Seufzer“, und es ist dennoch mehr als verseufzte Luft. „Ein brennlich Weib und lauter Flammen- Schwinger“ — „Zu viele Flammen für ein armes Herz!“: darin liegt der ganze Unterschied. Natürlich hat Rilke aus demselben Sprachfundus auch bessere, auch sehr schöne Gedichte geschaffen, aber das sieht wohl jeder, daß Karl Kraus, wie soll ich sagen deutscher ist, weil er aus ganz anderen Sprachtiefen und Sprachhöhen schöpft. Dabei werden über Rilke allmonatlich Bücher geschrieben, während man über Karl Kraus schweigt. Er schlug der Phrase auf den Mund, und sie rächt sich an ihm durch Totschweigen — noch heute, fünfzehn Jahre nach seinem Tode. „Sie haben die Presse, sie haben die Börse, jetzt haben sie auch das Unterbewußtsein!“, — solche Sätze sagen sich nicht ungestraft. So hielten ihn die Juden für einen Antisemiten, während er den Christen schon als Jude verdächtig war, allen aber als satirischer Genius. Daraus erklärt sich das Katakombendasein des größten deutschen Satirikers unserer Zeit.

Die mittlere Sphäre seiner Wortverbundenheit ist Karl Kraus’ Denken über die Sprache, denn wer so wie er aus ihr dachte, mußte sich auch über sie Gedanken machen. Er hat sie in seinem Buch „Die Sprache“ niedergelegt, das er noch kurz vor seinem Tode vollenden konnte. Es ist eines der nützlichsten und schwersten Bücher unserer Literatur: nicht deshalb schwer, weil es etwa verworren oder verstiegen wäre — es ist das Gegenteil davon —, sondern weil es eine Selbstbetrachtung der Sprache bedeutet, die noch weit schwieriger ist als jene der Psychologie. Ganz Auge, versucht sich die Sprache selber in dieses Auge zu blicken: Spiegel in Spiegel, das ergibt Unendlichkeit. Hierbei führt Karl Kraus eine neue Methode des

Sprachdenkens ein, die man experimentelle Sprachmorpbologie nennen könnte. (Selbstverständlich hat bisher weder die Sprachwissenschaft noch auch übrigens die Literaturgeschichte von Karl Kraus irgendwelche Notiz genommen. Man muß schon zwischen den Zeilen lesen können, um zu spüren, daß da im Namensregister zwischen „Anette Kolb“ und „Max Krell“ etwas fehlt!) Er untersucht etwa, wann man „der“ und wann man „welcher“ zu sagen hat, und es wird eine Expedition in ein Urwaldgewirr, wo doch jede Pflanze bestimmtesten Gesetzen gehorcht. Neben diesem Auskultieren der Sprache wirkt die wissenschaftliche Grammatik oberflächlich, denn man sieht, wieviel geheime Sprachabhängigkeiten ihr bisher entgangen sind. Oder man nehme die Betrachtung über das Wörtchen „es“, wo dessen Schicksale auf acht Druckseiten in syntaktischer Wortgymnastik durchgeprobt werden, so daß man ahnt, welch einen Ritt über den Bodensee auch der unscheinbarste Satz bedeuten kann. Es gibt da Aufsätze über das Komma, den Apostroph, das Problem der Uebersetzung, über Metaphern, über Humor und Lyrik, und eine vierzigseitige Abhandlung über den Reim, die wohl das Aufschlußreichste ist, was je über dieses Thema gesagt wurde. Wirklich, hier denkt die Sprache über sich selber nach und staunt vor ihrem eigenen Lebenswunder! So lernt pan an diesem Buch das, was das Schwierigste ist, eben weil man es schon zu können geglaubt hat: das Lesen.

„Die neuere Sprachwissenschaft“, sagt Kraus, „mag so weit halten, eine schöpferische Notwendigkeit über der Regelhaftig- keit anzuerkennen: die Verbindung mit dem Sprachwesen hat sie jener nicht abgemerkt, und dieser so wenig wie die älterC, welche in der verdienstvollen Registrierung von Formen und Mißformen die wesentliche Erkenntnis schuldigblieb.“ „Die Nutzanwendung der Lehre, die die Sprache wie das Sprechen betrifft, könnte niemals sein, daß der, der sprechen lernt, auch die Sprache lerne, wohl aber, daß er sich der Erfassung der Wortgestalt nähere und damit der Sphäre, die jenseits des greifbar Nutzhaften ergiebig ist. Diese Gewähr eines moralischen Gewinns liegt in einer geistigen Disziplin, die gegenüber dem einzigen, was ungestraft verletzt werden kann, der Sprache, das höchste Maß einer Verantwortung festsetzt und wie keine andere geeignet ist, den Respekt vor jeglichem ändern Lebensgut zu lehren.“ „Nichts wäre aber törichter, als zu vermuten, es sei ein ästhetisches Bedürfnis, das mit der Erstrebung sprachlicher Vollkommenheit geweckt oder befriedigt werden will. Derlei wäre kraft der tiefen Besonderheit diese!" Sprache gar nicht möglich, die es vor ihren Sprechern voraus hat, sich nicht beherrschen zu lassen. Mit der stets drohenden Gewalt eines vulkanischen Bodens bäumt sie sich dagegen auf. Sie ist schon in ihrer zugänglichen Region wie eine Ahnung des höchsten Gipfels, den sie erreicht hat: Pandora; in unentwirrbarer Gesetzmäßigkeit seltsame Angleichung an das symbolträchtige Gefäß, dem die Luftgeburten entstiegen:

Und irdisch ausgestreckten Händen unerreichbar jene, steigend jetzt empor und jetzt gesenkt. Die Menge täuschten stets sie, die verfolgende.

Den Rätseln ihrer Regeln, den Plänen ihrer Gefahren nahezukommen, ist ein besserer Wahn als der, sie beherrschen zu können. Abgründe dort sehen zu lehren, wo Gemeinplätze sind, — das wäre die pädagogische Aufgabe an einer in Sünden erwachsenen Nation; wäre Erlösung der Lebensgüter aus den Banden des Journalismus und aus den Fängen der Politik. Geistig beschäftigt zu sein — mehr durch die Sprache gewährt als von allen Wissenschaften, die sich ihrer bedienen, — ist jene Erschwerung des Lebens, die andere Lasten erleichtert. Lohnend durch das Nichtzustandekommen an einer Unendlichkeit, die jeder hat und zu der keinem der Zugang verwehrt ist. ,VoIk der Dichter und Denker’: seine Sprache vermag es, den Besitzfall zum Zeugefall zu erhöhen, das Haben zum Sein. Denn größer als die Möglichkeit, in ihr zu denken, wäre keine Phantasie. Was dieser sonst erschlossen bleibt, ist die Vorstellung eines Außerhalb, das die Fülle entbehrten Glückes umfaßt: Entschädigung an Seele und Sinnen, die sie doch verkürzt. Die Sprache ist das einzige Chimäre, deren Tragkraft ohne Ende ist, die Unerschöpflichkeit, an der das Leben nicht verarmt. Der Mensch lerne, ihr zu dienen!“

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