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Karl Kraus - Biographie und Kommentar

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KARL KRAUS oder Die Macht der Ohnmacht. Von Hans Weigel. Verla; Frits Molden, Wien. 341 Seiten, 16 Bildseiten, Leinen. S 168.—.

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KARL KRAUS oder Die Macht der Ohnmacht. Von Hans Weigel. Verla; Frits Molden, Wien. 341 Seiten, 16 Bildseiten, Leinen. S 168.—.

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Seit dem Beginn der Ausgabe der „Werke“ von Karl Kraus 1952 bei Kösel und weiterer Bände bei Lan- gen-Müller setzte eine Welle der Wirksamkeit seiner Person ein, an die, als 1936 kurz vor seinem Tod die letzte „Fackel“ in kleiner Auflage erschien, selbst seine Freunde und Verehrer nicht zu denken gewagt hätten. Gleichzeitig jedoch wurde man gewahr, daß seine Gestalt im Legendären zu verkrusten drohte, was breiteren Kreisen den Weg zur Wirklichkeit dieses Mannes blockieren müßte. Da hat Hans Weigel mit seiner Analyse in zwölfter Stunde energisch und kundig zugegriffen. Mit gesicherten Fakten operierend, entwarf er unter dem Untertitel „Versuch eines Motivenberichts zur Erhellung eines vielfachen Lebenswerks“ ein Kraus-Bild, dessen Ganzheit auch manche der richtigen einzelnen Einsichten eines Publikums neu ordnet, das nur Teile des unübersichtlichen Riesenwerks des einsamen Kämpfers kennt und zahlreiche Widersprüche nicht zu enträtseln weiß. Weigel geht zunächst behutsam den Entwicklungslinien nach, der böhmisch-deutsch-jüdischen Herkunft und dem Wienertum des Karl Kraus in der Verfallsperiode der k. u. k. Monarchie, prägenden Eindrücken, die er in den Reifejahren und später empfing. Dazu gehörte die Korruption unter einem dünnen Firnis von Konzilianz, gehörte die ihre Liberalisierung hemmungslos prostituierende Presse, gehörte ein gerade in Wien unter dem Einfluß der Schriften Otto Wei- ninigers und Freuds stürmisch sich mauserndes neues Sexualdenken, aber auch das Bewußtsein finanzieller Ungebundenheit, das Kraus schon früh genoß. Aus dem Zusammenwirken vieler disparater Faktoren erwuchsen Ambivalenzen, deren manche er, um als Person nicht zersprengt zu werden, nach außen projizieren mußte: „Er hat sich über sehr Vieles beklagt, aber er hat das, worüber er sich beklagt hat, dringend gebraucht; der Zorn, die Wut, der Ärger haben ihn schöpferisch gemacht.“ Darum gilt auch die weitere Feststellung: „Er macht es allen so schwer, wie er es mit sich selbst hat.“

Kraus lebte, lobte, haßte, spottete und gefiel sich in der Attitüde eines biblischen Propheten, doch fehlte ihm, w.ie Weigel mit unbestechlichem Blick festhält: „ der Bezugspunkt, die eigentliche Lehre, der Weltentwurf, das Grundgesetz.“ Darin, daß Kraus sich, gekettet an die Geschehnisflut seiner Zeit, sein Absolutes jeweils selbst machen mußte, liegt das Gigantische seines Ringens, aber auch die Basis aller Tragik in seinem Denken und Wirken — und in seiner Wirkung. Von dieser Basis bis zu dem Stadium, da er, 1932, „Die Fak- kel“ mit dem Befehl „Zusendungen welcher Art immer sind unerwünscht“ so endgültig nach außen abkapselt wie längst zuvor sich selbst, ist es nur ein Schritt, und der nimmt ein Menschenalter in Anspruch. „Die Biographie der Zeitschrift“, notierte Weigel, „geht allmählich in die Krankengeschichte des Herausgebers über. Er hat sich von Anfang an zu einem Einzelfall gemacht Karl Kraus tritt aus dem Koordinatensystem aus, wie er aus dem Judentum und später aus der katholischen Kirche ausgetreten ist. Er ist am Ende seines Lebens nur noch im Zwiegespräch mit sich selbst Die Instanz, vor der Karl Kraus Zeugnis ablegt, heißt Karl Kraus."

Er jagt den Ereignissen, er jagt den Zerstörern der Humanitas nach,

sie zu züchtigen, er will den

Journalismus, will Österreich, Wien und die Juden besser machen. Und wenn er daran verzweifelt, will er selbst der bessere Journalist, Österreicher, Wiener, Jude sein.“ Die zwanghafte Okkupation durch den Tag (die er selbst in einsichtsvoller Stunde beklagte: „Wieviel Stoff hätte ich, wenn’s keine Ereignisse gäbe!“) bringt es mit sich, daß er nur selten Zeit und Sammlung zu Synthesen aufbringt. Wo diese aber gelingen, wie etwa in den Abhandlungen über das Theater und den Schauspieler, über Nestroy, über die Operette, über die Sprache, da schaft er Objektivationen von zeitloser Gültigkeit und derart kristallener Transparenz, daß man sich bestürzt und erregt fragt: Warum, ja warum hat dieser Geist kein Paket systematischer theoretischer Schriften zur Literatur, zum Theater, über Denker und Künstler, zu denen er pnnp Affinität besaß, hinterlasKcn? Nun, er bedurfte des aktuellen Anlasses, sich zu entzünden, und hier eigentümlicherweise weniger des realen Vorgangs selbst als des sen publizistischen Echos, das ihn prompt in Harnisch brachte. Einmal entbrannt, geriet er vorn Hundertsten ins Tausendste, nie verlegen, um jeden Preis das letzte Wort zu behalten. Im Zuge solcher Eskalation seiner Leidenschaft meißelte er, quasi mit der linken Hand, Formulierungen und Durchblicke ins Wort, um die ihn berühmteste hauptamtliche Theoretiker beneiden können. Als Folge solcher Genese ist das Edelgestein komprimierter Exkurse über all die Themata, zu denen er etwas zu sagen hatte, wahllos in seinen Texten verstreut. (Dazu Weigel: Arbeitskreise müßten das Gesamtwerk nach Thematik und Gewichtigkeit exzerpieren, um sachlich brauchbare Kompendien zu erstellen.)

Im Zuge des oben Gesagten geschieht es, wie Weigel rekapitulierend erkennt, daß Kraus nur zu oft Symptom und Ursache verwechselt, denn: „Nicht nur in Österreich, nicht nur im ersten Drittel unseres Jahrhunderts und nicht nur im Journalismus drückt sich aus, was der menschlichen Gesellschaft zur Vollkommenheit fehlt und was in seiner Unvollkommenheit und Fehlbarkeit wohl der notwendige Bestandteil einer Gesellschaft ist, die im Rahmen dessen, was Gott mit ihr vorhatte, aus dem Paradies vertrieben wurde. Hier müßte noch gesagt werden, daß eine Vielzahl von Phänomenen, die Kraus als moralische Probleme schaute, in Wirklichkeit solche der Evolution und Anpassung sind, die weniger des Philosophierens, keinesfalls des Moralisierens, sondern der naturwissenschaftlichen Erkenntnis bedürfen. Wäre Kraus an der Psychoanalyse (die er als Egozentriker bald wütend ablehnte), an der Tiefenpsychologie, an den Vorboten der modernen Verhaltensforschung orientiert gewesen, er hätte sich viele Kämpfe gegen Windmühlen und daraus resultierende qualvolle Enttäuschungen erspart, sein Oeuvre hätte an Komplexheit und Verbindlichkeit gewonnen. Vor der Kulisse derartiger Einschränkungen heben sich des Karl Kraus Charaktergröße, das Zeitlose seines Ingeniums und seiner Wortkunst um so deutlicher, ja überwältigender ab. Trotz allem Glanz seines Intellekts zieht er seine leuchtende Bahn wie der Held einer klassischen Tragödie: abgeschossen ins Ziel unbewußt, keiner Korrektur des Kurses fähig, kein Herr seiner selbst, doch ein Souverän geistiger Lauterkeit.

Übertönte im Blick der Zeitgenossen die Wucht der polemischen Negation sein sonstiges Wirken (Weigel: „Karl Kraus hatte eine fast chemische Eigenschaft, in allen seinen Gegnern Kräfte der Selbstentblößung auszulösen.“), ist man demgegenüber heute in der Lage, auch den großen Jasager Kraus zu werten, seinen selbstlosen Dienst an Goethe, Shakespeare, Ibsen, Strindberg, oder die durch ihn bewirkte Nestroy- und Offenbach-Renais sance. Und ebenso seine monumentale positive Humanität, seine Freundschaft mit Geistern, die seiner würdig waren, die Konsequenz seines Kampfes um die Reinheit der Sprache, den er als Kult betrieb — vielleicht infolge der intuitiven Erkenntnis, daß die Sprache als Werk des Kollektivgeistes die unmittelbarsten Indizien für dessen Zustände liefert. Denkt man weiter an den ersten Weltkrieg, was Infantilität, Servilität, Bestialität aus ihm machten und was Kraus darüber sagen mußte, so wird man dessen inne, daß er seinen bleibenden Platz unter uns selbst dann hätte, wenn nichts voh ihm auf uns gekommen wäre als seine Wortvisionen zum Krieg.

Weigels Buch bietet mit der Gelassenheit der Darstellung, die sich mit blitzartig erhellenden Einsichten und griffigen Formulierungen dialektisch kreuzt, ein informatives, zahlreiche Fehlvorstellungen korrigierendes Lebensbild, das menschlich packt und doch so viel Distanz zum Objekt bewahrt, daß von ihm Anregungen nicht nur für den denkenden Leser, sondern auch für alle weitere wissenschaftliche Kraus-Forschung ausgehen werden.

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