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GEISTIGES THEATER

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Das Drama mit religiösen Aspekten war im Zeitalter des Fortschrittsglaubens sehr suspekt geworden. Auch eine große Kritikerpersönlichkeit wie Alfred Kerr hat dem Phänomen des religiösen Inhalts gegenüber völlig versagt. Die Ueberheblichkeit und der Uebereifer, mit dem man glaubte, die großen dichterischen Persönlichkeiten der Theatervergangenheit durch die Naturalisten ablösen zu können, hat sich bereits nach einer Generation ad absurdum geführt. Die ersten dreißig Jahre dieses Jahrhunderts waren eine große Theaterepoche, aber dem Theater des Geistes standen sie vergleichsweise verständnislos gegenüber.

Im Drama wurde die Epoche der großen Aufklärer, der Weltverbesserer, abgelöst durch die der Metaphysiker. „Skin of our Teeth” und „Camino Real”, die Stücke von Thornton Wilder und Tennessee Williams, wären ohne das Vorbild Strindberg nicht denkbar. Aber auch die Werke von O’Neill und Beckett, von Camus und Sartre sind nur Glieder in einer Reihe, deren Ahnherr Strindberg heißt. Es ist deshalb an der Zeit, den Inaugurator einer literarischen Periode mit seinen wichtigsten Werken wieder zur Diskussion zu stellen.

Die naturalistischen Werke interessieren heute nicht in gleicher. Ameise yvie etwa die metaphysischen Werke, und. die ,histprischen Dramen. Das rein Stoffliche, das Abgründige des Hasses zwischen Menschen, die in unglücklichen Beziehungen miteinander leben — das ist inzwischen mit sublimeren Mitteln von anderen besser gesagt worden. Aber Werke wie „Ein Traumspiel” und „Nach Damaskus” sehen wir heute zweifellos anders, als zwei Generationen vor uns das getan haben. Interessant ist nicht der Kampf der Geschlechter, sondern aus welchen dämonischen Tiefen dieser Haß aufsteigt. Das Warum ist wichtiger geworden als das Was.

In einer Zeit, in der, wie der große Schweizer Psychologe C. G. Jung sagt, „die religiösen Ansprüche des Menschen infolge des kindischen Aufklärüngswahns nicht mehr wahrgenommen werden”, stellt einer den Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts plötzlich in Frage. Lange vor Kafka wird eine Stimme gegen den Atheismus vernehmbar. Begriffe wie metaphysische Schuld und Erbsünde tauchen auf; die Fragen irdischer und überirdischer Vergeltung werden aufgeworfen von einem, der bei Swedenborg in die Schule gegangen war. Und das, was die moderne Tiefenpsychologie die „Archetypen” nennt, das alles ist bei Strindberg erstmals wieder zu einer Realität geworden. Die unbewußte Metaphysik lebt in den Sinnen der träumenden Menschen. Und so tritt in den Gestalten, die in die Traumsphäre gebannt sind, jener Zustand des Spielens mit Vorstellungen und Bildern ein, der immer dann ausgelöst wird, wenn sich die Einbildungskraft des Menschen schöpferisch betätigt.

Strindberg galt lange als der große Naturalist. Für uns ist: er heute der erste Surrealist. Wenn er etwa im „Traumspiel” vorschreibt, daß an der Riviera im Sommer die Bäume verschneit sein sollen und im Schnee ein Konzertflügel steht, so ist das ein echt surrealistisches Bild: wie zwei miteinander scheinbar nicht zu vereinende realistische Begriffe (Sommer und Winter) auf dem Weg über das Unbewußte wieder zu einer Einheit werden.

Der Mythos vom Göttersohn oder von der Göttertochter, die als Menschen freiwillig auf die Erde kommen, damit die Welt vom Bösen erlöst werde, ist eine Idee, die sich schon in der persischen und indischen Philosophie findet. Strindberg selbst wünscht ihn . (in seinen Briefen) auf fast dekorationsloser Buhne dargestellt, um so den Vorgang auf eine höhere Ebene zu heben. Aus seinen Anregungen spricht das, was Goethe einmal so überzeugend formuliert hat, wenn er sągt: „Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer’ Freude an der Erscheinung hat, dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen.”

Der große Erbe Strindbergs ist O’Neill. Bei O’Neill wird das Schicksal des Menschen fern von Agitation und Anklage dargestellt, wie es durch die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft für unsere Zeit gültig und schaubar geworden ist. Nicht mehr Hauptmanns Abbild der menschlichen Kreatur, nicht mehr Bernard Shaws gut gemeinter ironischer Ratschlag zur Weltverbesserung, nicht mehr Ibsens agitatorischer Eifer. Dolf Sternberger hat es sehr klar formuliert, wenn er sagt: „O’Neills Werk hebt sich von Ibsen deutlich und bedeutend dadurch ab, daß er weder plädiert noch missioniert, daß es hier keine reformistischen Perspektiven, keine bessere Welt gibt, ‘daß keine Fronten von Gesellschaftsmenschen und Freidenkern aufgerichtet sind, und vor allem, daß der Autor (und demzufolge auch das Publikum) keinen Augenblick versucht ist, Partei zu nehmen in dem schauerlichen Handel, der sich da oben begibt.” Das Schicksalsdrama der Antike wird hier auf einer neuen Ebene abgewandelt. Die Relation, in die der Mensch mit einem höheren Walten gestellt ist, das wird ohne didaktischen Eifer einprägsam und deutlich hingestellt in einer gedanklichen Welt, die ebenso reich ist an Bildern wie an abstrakten Formulierungen und trotzdem weder ins Romantisieren noch ins Skelettieren abschweift.

O’Neills Drama „Eines langen TageS Reise in die Nacht”, das deutlich autobiographische Züge trägt, zeigt das Schicksal einer Familie im Ablauf eines einzigen Tages. Es geschieht wenig, um nicht zu sagen nichts auf der Bühne. Und die Theorie des Aristoteles von der Wichtigkeit der Fabel scheint in Frage gestellt. Vier Menschen, die Zusammenleben, werden dargestellt, werden gezeigt — ohne Anklage und ohne Parteinahme. Sie sind so, wie sie geschaffen sind, aber sie werden nicht in der Dumpfheit des kreatürlichen Seins belassen, sondern in der Hellsichtigkeit des Bewußtseins gezeigt. Sie wissen alle um Wert und Unwert ihrer Existenz und sind trotzdem, da sie sich in einem entscheidenden Punkt ihres Lebens einmal für ein ganz bestimmtes Ziel entschieden haben, festgelegt, und ihr Handeln resultiert von diesem Augenblick an zwangsläufig aus der Natur ihres Wesens. Sie sind weder gut noch schlecht, und es wird an ihnen die Tatsache der Determination weder demonstriert noch geleugnet. Alles „vollzieht” sich, wie es schon in der antiken Tragödie Brauch war, und trotzdem haben die Erkenntnisse . des wissenschaftlichen Zeitalters zur Erhellung der dargestellten Situation und zur Klärung der Relationen beigetragen.

Wenn Anouilh oder Sartre den Mythos in unsere Zeit übertragen, dann kommen sie ohne willkürliche Akzentverschiebung nicht aus. Es ist das Geheimnis von O’Neill, daß er in „Trauer muß Elektra tragen” das Atriden- schicksal darstellt, ohne es zu interpretieren. Die große Schicksalskonfiguration, die in der Orestie sichtbar wird, erfüllt sich bei ihm mit der gleichen Unerbittlichkeit wie dort, obwohl der dramatische Handlungsablauf dauernd durch unerhört subtile Motivierungen unterbaut wird. Aber diese Motivierungen belasten und stören nicht, sondern sie erklären schicksalhafte Zusammenhänge, die die Menschen durch Herkunft und Veranlagung in sich tragen. Mit aller Konsequenz werden die Personen des Dramas in die moderne Zeit gestellt. Jedes Handlungsmotiv wird psychologisch erklärt. Gleichzeitig erfüllt jede Figur ein archetypischps Schicksal, für das ihre zeitbedingten Gegebenheiten fast irrelevant erscheinen.

Diese Tatsache scheint sich nicht nur dem Zuschauer mitzuteilen, sondern sie muß sich auch O’Neill beim Niederschreiben des Werkes aufgedrängt haben, wenn er immer und immer wieder fast heftig das Maskenhafte der auftretenden Personen betont. Es ist, als wollte er die permanente, wenn auch verschleierte Anwesenheit einer höheren Macht oder einer höheren Ordnung andeuten.

Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, von einer .-Persönlichkeit zu sprechen, die keine Zeile für die Bühne geschrieben hat, deren Bedeu ung für die Bühne aber gar nicht hoch genug angesetzt werden kann: Franz Kafka. Man hat Kafkas Romane mit ihrer Magie der doppelten Realität auf die Bühne übertragen, und das ist, wie immer man sich zum Vorgang der Romandramatisierung stellen mag, durchaus verständlich. Denn Kafkas Welt ist eine Bilderwelt. Wer imstande ist, in jedem der Romanfragmente Kafkas ein echtes Gleichnis zu sehen, wird zugeben müssen, daß es sich hier nicht nur um eine rationalistische Parabel, sondern um eine echte Imagination handelt. Eine rein gedankliche Ausdeutung ist nicht möglich. Das Bild ist bei Kafka nicht Illustration eines Gedankens, sondern sinnbildhafter Ausdruck einer übersinnlichen Wirklichkeit. Die den Menschen leitenden, bedrängenden und regierenden höheren Mächte werden genau so dargestellt, wie sie der Mensch in seinem Unverständnis, das Walten des Schicksals zu begreifen, sieht. Die Gnade vollzieht sich nicht auf Grund logisch nachweisbarer Verdienste. Daß hier zum erstenmal ein religiöses Thema im Gewand unserer Tage abgewandelt wird, das bedeutet den entscheidenden Durchbruch zur Sichtbarmachung geistiger Phänomene: Religiöse Themen nicht mehr im historischen Kostüm, sondern unmittelbar ins Heute transportiert.

Es drückt sich in diesem Ganzen aus, wie die neuere Geistesentwicklung der Menschheit nach dem Ziele hingeht, den Menschen in seiner Verwandtschaft mit der spirituellen Welt zu sehen. Hat diese Entwicklung schon im praktischen Theater der Wiedergabe ihren gültigen Niederschlag gefunden? Es wurde in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts im deutschen Sprachraum manchmal großartiges, hinreißendes Theater gespielt, Theater, gespeist aus den vitalen Quellen, die damals noch Kennzeichen schöpferischer Impulse waren. Kaum möglich, das zu überbieten; und noch schwerer möglich, das heute zu repetieren.

Alles, was heute an schöpferischen Ergebnissen zu sehen ist, wird primär bestimmt durch das Denken. Aber wenn das Denken auf dem Gebiete der Kunst nicht in produktiver Weise betrieben wird, so kommt das heraus, was man häufig mit einem etwas häßlichen Unterton das „Intellektuelle” nennt.” Wenn’ es uns” Ägr’gelänge,’ dieses Denken wieder zur Imagination hin zu entwickeln, dann kämen wir auch an den Geist heran.

Ein solcher Schritt vollzieht sich nicht von heute auf morgen. Immer noch glaubt man bei uns, wenn das Wort Wissenschaft auftaucht, daß damit ein Verharren bei den sehr dogmatischen Aufklärungsbestrebungen des vorigen Jahrhunderts verbunden sein müsse. Und es war die Tragik vieler großer Erscheinungen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, daß sie diesen Schritt ins Neuland nicht mitmachen konnten. Das Theater hätte es da vergleichsweise leichter. Ihm wäre es heute aufgegeben, die großen Dramen der Weltgeschichte so zu sehen und für unser Jahrhundert neu zu entdecken, daß zwischen unseren geistigen Erkenntnissen und der Realität des Theaters keine allzu tiefe Kluft mehr zu herrschen brauchte. Und wenn sich auch nach 1945 viel Sektierertum ausgebreitet hat, das zum Teil die Stilbemühungen der zwanziger Jahre im Ausverkauf noch einmal darzubieten sucht, oder wenn etwas mühsam um die Erneuerung des kultischen Theaters gekämpft wird, so zeigt steh doch hinter all diesen Erscheinungen, daß man langsam Ernst zu machen bemüht ist, auch auf dem Gebiet des Theaters das zu entwickeln, was man die Wirklichkeit des Geistes nennen könnte.

Daß die Dramatik der Aufklärer und Agitatoren noch eine Zukunft hat, bezweifle ich. Unter dem Vorwand, uns aufzuklären, wollen sie uns dumm machen. Die Agitatoren haben keine Bilder; daher ihr skelettiertes, dürres Weltbild.

Der Interpretationsstil wird — das ist meine feste Ueberzeugung — immer unmanirierter, untheatralischer und direkter werden. Man wird den Emotionen soviel Raum zubilligen wie notwendig ist, um die Figuren darstellen zu können. Man will, daß der Schauspieler eine Figur darstellen kann und keine Etüden und Arabesken über eine Figur.

Heute werden wahrscheinlich auf absehbare Zeit keine Stile mehr geprägt. Aber — und auch das ist nicht minder wichtig — die Errungenschaften der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts waren die großen Anregungen. Heute müssen die kommen, die imstande sind, diese Anregungen zu erfüllen.

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