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Gesicht des Schauspielers, Gesicht des Menschen

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Seit Jahrzehnten formen vielleicht Millionen von Frauen ihr Gesicht nach dem Gesicht einer Schauspielerin. Schulmädchen und Damen, die in anderen Epochen Greisinnen gewesen wären, sind als Greta Garbo, Marlene Dietrich und heute eben als Lollo, meist sich formend nach dem Muster eines mittleren Sex-Stars, hurtigen Laufes zum Ringen um die notwendige Geltung in der Welt angetreten. Bei den Männern ist diese Formung und Typisierung nach dem Vorbild eines Schauspielers und Filmhelden lange Zeit verdeckter gewesen. Heute verraten Frisur und Kleidung, die Art Jugendlicher und Jung-sein-Wollender, sich zu „geben“, wie tief hier die Einwirkung von Bühne und Film her ist. Umgekehrt gilt: eine gewisse Regie und eine gewisse Art von Stücken bringen den Schauspieler auf die Bühne, so wie er eben von der Straße kommt: im Straßenanzug, in der saloppen Art zu sprechen, und sich „gehen zu lassen“.

Diese beiden Phänomene zeigen bereits an, wie erfolgreich Typisierungen und Standardisierungen im Dienste der Konsumgesellschaft daran arbeiten, jedem das Seine zu nehmen. Denn: der Mann von der Straße findet nicht sich selbst, wenn er in die Maske eines Schauspielers zu schlüpfen sucht. Vielleicht hat er tatsächlich mit diesen Formen der Mimik Erfolg im Berufskampf. Sich selbst aber verliert er, je mehr und je besser es ihm gelingt, durch ein Make-up sein wahres Gesicht vor sich selbst zu verstecken. :.c

Der Schauspieler aber verspielt eine schöne Chance, seine Zeitgenossen auf der Bühne darzustellen und zu erhellen, wenn er dies auf direktem Wege versucht. Der makabre Eindruck mancher moderner Stücke und Aufführungen entsteht ja eben dadurch: hier sprechen, stottern ein Dutzend Nichtse, Nichtige, nichtssagende Menschlein vor ein paar hundert Nicht- sen, nichtigen, nichtssagenden Mitmenschlein nichtssagendes Zeug. Leere sieht Leere an. Eine gewisse Arroganz und Verwegenheit, mit der das Zeug da vorgetragen wird, erhöht noch den penetranten Eindruck: hier finden sich nicht Menschen (in sich und einander), hier verlieren sie sich. Und schlagen die Zeit, und das bißchen Substanz, das ihnen noch für diesen Abend zur Verfügung steht, tot: eben durch die „Aufführung“ und den Besuch der Aufführung. Leere Gesichter und Langeweile. Nach der Aufführung müssen beide Verlierende, Schauspieler und Besucher, schnell, zur Erfrischung, „ausgehen“, in eine Bar, ein Restaurant, ein Tanzlokal, zumindest in ein Espresso. Kurz läßt sich sagen: je „zeitnaher", straßennäher Stücke und Regie den Schauspieler auf der Bühne an den Besucher im Publikum heranrücken, um so weniger gelingt es dem Schauspieler, seine Zeitgenossen darzustellen — und Ausdruck ihres Menschseins und Menschentums zu werden.

Nun gibt es aber, Gott sei Dank, eine ganze Reihe von Stücken, in unserer Zeit geschaffen, die Ausdruck unseres Menschseins sind und die den einigermaßen begabten Schauspieler dazu veranlassen, das Gesicht des Menschen unserer Zeit darzustellen, zu 'erhellen, zu erklären. Das Ergreifende, die Macht, zu rühren, zu bannen, zu bezaubern, die von manchen französischen, amerikanischen, englischen und spanischen Theaterstücken unserer Zeit ausgeht, stammt von eben daher: wir spüren, wissen uns betroffen, weil wir getrogen sind. Und die Schauspieler wachsen zu echten Leistungen, weil auch sie getroffen, betroffen sind, weil ihre eigene Person angerührt wird, und sie erfahren: hier geht es mich an. Hier spiele ich eine Möglichkeit meines eigenen Lebens Vielleicht die schönste Chance, vielleicht eine Versuchung, vielleicht eine lang vertane Begnadung.

Nun ist es ein allen bekanntes offenes Geheimnis: diese faszinierende Wirkung geht von den „poetischen“ Stücken unserer Zeit aus. Cocteau, Anouilh, Lorca, Williams, Eliot, Fry und ein halbes Dutzend innerlich verwandter Autoren haben das Gesicht des Menschen von heute auf der Bühne sichtbar gemacht, sie haben die Landschaften seiner Seele, Vulkane und schlammige Gewässer, Sümpfe und kleine Eisberge, kleine Wüsten, Steppen und unerwartete Gärten in ihm sichtbar gemacht, indem sie dieses Gesicht transponierten. Nur eine Entfremdung und eine Verfremdung macht das Heimlich-Unheimliche, das Nahe und Allernächste, das Intime erträglich, tragbar und sichtbar. Als Orpheus, als Agamemnon, als Odysseus, als spanische Bäuerin, als irische Hexe, als Ehebrecher aus den Südstaaten, als Mörder im hohen Norden vermag der Zeitgenosse, vermögen wir uns selbst ins Gesicht zu sehen, und uns zu ertragen — vermag der Schauspieler sich selbst, also seine eigenen Brüche, sein eigenes Scheitern, seine eigene „Schuld“ (hier nicht in einem moralischen, sondern weiteren Sinne als Verfehlung der Personreife, der Kernerschließung des eigenen Potentials verstanden) zu tragen und auszutragen im Werk.

Das echte Schauspiel aller Zeiten stellt einen einzigartigen Akt der Entsühnung des Menschen und der Versöhnung des Menschen mit der Gottheit, mit dem Besten, Innersten, Wirklichsten, was in ihm selbst ist, dar.

Eine Zeit des Mordes und des Selbstmordes, in der wir alle gezwungen sind, tagtäglich mit Mördern und Selbstmördern zusammenzuleben, zu handeln und zu verhandeln, nicht nur im internationalen Leben und in der Weltpolitik,- sondern bereits im kleinen Geschäft und Handelsverkehr des täglichen Lebens, erweist sich als außerordentlich fruchtbar für das Theater. (Das antike Drama entsteht in grausamer Zeit permanenter griechischer Bürgerkriege, Shakespeare sieht auf mehr als hundert Jahre Bürgerkriege grausamster Art zurück und voraus.) Wer dies für unsere Zeit nicht gelten lassen will, nicht für unser tägliches Leben, dem möchte ich eine oftmalige instinktive Erfahrung (wenn man das so nennen darf) mitteilen: ich kann mich bei den Premieren in einem sehr guten und gepflegten Theater, wenn ich da in die kühlen Gesichter der Damen sehe, seit bald zehn Jahren des Eindruckes nicht erwehren: hier herrscht eine Atmosphäre des Mordes; wobei ich u. a. an die tausenden Abtreibungen denke, und des Selbstmordes, wobei ich in die glatten Gesichter ihrer männlichen Begleiter sehe, von denen manche seither bereits sich zu Tode gearbeitet, gereist, gefahren haben. Das Theater, das seines Namens und seines Wertes gewiß ist, mittelt nun Lösung, Entsühnung. Kann dies aber, da ihm die sakramentale Kraft fehlt, und die sakrale Würde fast gänzlich genommen ist, eben nur in der indirekten Form leisten: eben indem es die hundert Feigheiten, Schwachheiten, Ehebrüche, Verrätereien, Morde und Selbstmorde, nicht zu vergessen die Beihilfen zu Mord und Selbstmord, also die tausend Unterlassungssünden (Wo ist mein Bruder Abel?) der als Publikum versammelten Zuschauer, transponiert in die Taten und Untaten, Leiden und Schrecknisse seiner Helden und Heldinnen.

Je verdeckter, je diskreter, je indirekter dies geschieht, um so besser; um so größer wird der Innenraum für den Schauspieler, sich selbst (den Bruder und Partner, den Mitspieler der Spieler im Publikum) darzustellen — als Zeitgenosse, als Mensch im Jahre des Heiles und Unheiles 1957.

Amerikanische, englische und französische Autoren erweisen die alte Kunst ihrer spirituellen Rasse und die kluge, wache Technik der Moderne eben dadurch, daß sie immer neue Stories, Masken, Gestalten, „Handlungen“ und Worte, Farben und Bühnenbilder erfinden, um dem Menschen unserer Zeit, dem Zeitgenossen, zu Gegenwart zu verhelfen: ihn zu erhellen, so daß er von sich weiß, sich selbst sieht und „erkennt": er ertrüge es nicht, sich selbst zu sehen; wir sind uns selbst Gorgo und Medusa — würden wir uns in der direkten Form vorgestellt. Eben deshalb wirken

„Zeitstücke“, die das auf direkte Weise versuchen?' und-'Schauspieler, die der Transponierung. der” Transparenz nicht'-reeht-fähig sind; so unzeitgemäß, so abstoßend. Man stelle sich nur vor: in einer Faschingdienstagnacht und einem Aschermittwochmorgen würden wir alle auf der Straße und in der Gesellschaft, in den Rollen herumlaufen, die wir in den letzten dreißig Jahren gespielt haben, in kaltem und heißem Bürgerkrieg unserer Lebenstage Nicht auszuhalten wäre das. Wir wären wohl fast alle für das Irrenhaus reif. Wahrscheinlich aber würde schon früher einer zur Bombe greifen - um dem Ganzen ein Ende zu bereiten. So aber, da oben und da unten auf der Bühne, lernen wir uns selbst ertragen: als das, was wir wirklich sind, getrennt von der Selbstvernichtung (allerdings auch vor letzter Selbstannahme und Selbsterkenntnis) durch die „fremde" Rolle, und durch den Schauspieler, den wir für uns opfern.

Ein Weltpublikum, das sich entrüstet und begeistert, schokiert und fasziniert fühlt durch die Berichte (die es selbst fordert und zum Teil selbst fabriziert) vom „Privatleben" „seiner“ Schauspieler und Stars, übersieht geflissentlich dies: wenn es da liest oder etwa einmal in einer Bar, einem Hotel, einem „öffentlichen Lokal“ Zeuge von Brutalitäten, von Wutanfällen, Orgien, Narrheiten dieser und jener Schauspieler wird, wenn es weiß, daß dieser Weltstar seiner Frau die Nase einschlug, jener andere (verstorbene) mit Ohrfeigen und anderen Handgreiflichkeiten schnell bei der Hand war, wenn es liest, daß die fünfte Ehe soeben geschieden wurde, daß das bisexuelle Leben dieser Schauspielerin und dieses Schauspielers in diesem und jenem Staate zu Komplikationen geführt hat, dann ergötzt sich unser Publikum an diesen Phänomenen, indem es sich schokiert.

Und übersieht das eine, scheinbar kleine: daß die Schauspieler, die begabt (und begnadet), sind,' Geopferte sind. Eben weil sie uns darstellen, uns Zeitgenossen, Schuldgenossen. Weil sie ins Licht heben, was wir, wenn es gut geht, dem Arzt, Psychiater, Tiefenpsychologen, Freund, Seelsorger teilweise anvertrauen.

Die alte Kirche hat ein Jahrtausend lang dem Schauspieler das Begräbnis verweigert. Nicht, wie spätere prüde und moralingeschwächte Zeitläufte meinen, wegen eines „notorisch unmoralischen Lebenswandels“ dieses Berufsstandes. Da nahm die alte Kirche die Sache ernster, sie meinte, daß der Schauspieler seine Seele preisgäbe, weil er in eine andere Person (die eines Gottes, Dämons) zunächst schlüpfe, seine eigene Person freiwillig aufgäbe. („Person“ käme, als Wort und Wirklichkeit, so meinte man, von personare. Durchtönen der Maske-Persona, aus der ein Gott spreche; Persona kommt von Pershu, der etruskischen Todesgottheit, ihre Gefährdung erweist sich durch diese Wortherkunft wohl als nicht geringer ) Hier spricht sich, in etwas ungelenker Ausdrucksweise ein ernstes Wissen um den Opfercharakter und die innerste Gefährdung des Schauspielers heute aus: verliert er sich nicht in Spielereien und in Eitelkeiten (diese sind für manche Naturkinder unter ihnen ein großer Schutz vor großer Leistung und großer Gefahr), dann wird er, weiß er es oder weiß er es nicht, will er es oder will er es nicht, zu einem Geopferten, zu einem Brandopfer, das in der Darstellung des Menschen, des Menschen in der Zeit, die durch ihn zu Gegenwart wird, all das ans Licht bringt, mit Hilfe des Autors, was wir verdecken, verschweigen und wovon wir doch nicht loskommen: eben die Meintaten unseres Geschlechts

Wer . eine Illustration , zu dieser. Notiz., wünscht, -besehje etwa in Wien im . .Akademie- ,.,, theater die großartige Aufführung von „Eines langen Tages Reise in die Nacht“. Eine Familie, die sich zu Tode quält. Ein „Bombenerfolg“ dieser Aufführung. Warum? Weil alle, die ihre inneren Antennen noch etwas ausstrecken können, spüren, hier bin ich betroffen. Und weil die Schauspieler, gezwungen durch Autor und immanente Wucht des Werkes, unbewußt oft in dessen Kraftfelder geraten und in indirekter Form sich selbst „aussagen“, sich selbst darstellen im Spiel, sich und ihre Spielgenossen da im Publikum.

Diese Form der Aussage und Darstellung ist streng gebunden, das soll abschließend vermerkt werden, an eine offene, freie Welt, an eine Gesellschaft, in der wenigstens kleine Gruppen von Menschen die Erlaubnis haben, kritisch, und das heißt selbstkritisch an der Erhellung und Selbstfindung des Menschen in aller Freiheit zu arbeiten. Geschlossene Welten, also heute etwa unser Naher Osten und Spanien, kennen, anerkennen diese Form dramatischer Selbstdarstellung des Menschen der Gegenwart nicht. Und sind eben deshalb gezwungen, die Tragödie des Menschen in anderen, härteren, verdeckteren und noch grausameren Formen zu spielen. Denn das Spiel wird keinem erspart. Wohl aber hängt es vom Mut einer aufgeklärten, sich selbst gegenüber kritischen Vernunft und Herzkraft ab, ob dieses ragische Spiel zum Drama reifen kann oder in sich selbst ausweglos kreisend zusammenstürzt. Funktion des Theaters in einer zur Freiheit berufenen Welt.

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