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FERNSEHEN ALS KUNST

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Fernsehen als Kunst? Dieser Titel kann mißverstanden werden. Es sei daher festgestellt, daß hier nicht das Fernsehen des vor dem Bildschirm sitzenden Zuschauers gemeint ist, dessen „Tätigkeit“ zur Kunst entwickelt werden soll — obwohl so etwas in unserer mit der Erlernung des Konsumierens so beschäftigten Welt durchaus denkbar wäre. Daß jedoch in der Bezeichnung „Fernsehen“ nur dessen Konsum berücksichtigt erscheint, ist symptomatisch für den jetzigen Entwicklungsstand dieses jüngsten Kommunikationsmittels: Fernsehen bedeutet heute in erster Linie immer noch und nur, daß etwas aus der Ferne Gesendetes gesehen werden kann. Was gesendet und wie es hergestellt wird, scheint noch nicht auf. Beim Film war das ursprünglich auch nicht anders; er war zuerst das Kino, und erst später begann man von Filmkunst zu sprechen; heute ist allerdings vor allem von der Film i n d u s t r i e die Rede.

Das Fernsehen bedarf noch einiger Selbstverständigung, ehe es zu einer autonomen Kunst werden kann. Dazu gehört auch die völlige Abgrenzung von Theater, Film und Hörfunk in ästhetischer und dramaturgischer Hinsicht.

Die entscheidende und zwingendste Ursache für die Abgrenzung des Fernsehens von Bühne und Film ergibt sich aus einer Tatsache: daß die Fläche des Bildschirms ungefähr ein Fünfzigstel bis ein Hundertstel der Fläche einer Kinoleinwand und eines Bühnenausschnittes beträgt. Daraus ergibt sich ein weiterer grundlegender Faktor beim Fernsehen: daß man es nur auf wenige Meter Entfernung und vor allem nur zu Hause und nicht in einem großen Saal, zusammen mit vielen anderen Menschen genießt. Daß es auch Gemeinschaftsempfang gibt, ist in diesem Zusammenhang nicht von Bedeutung. Das Publikum der Fernsehempfänger in Cafes und Gasthäusern ist zumeist nur an diesem Rahmen entsprechenden Übertragungen von öffentlichen Ereignissen, Varieteaufführungen und dergleichen interessiert. Das hochentwickelte Gemeinschaftsfernsehen zu Schulungs- und Bil-dungszwecken in manchen Ländern stellt gleichfalls einen speziellen Zweig dar, der mit unserer Betrachtung hier nichts zu tun hat. Daß es bereits Fernsehprojektionsflächen von Heimkinogröße gibt, ja daß Fernsehprojektion auf normale Kinoprojektionsflächen möglich ist, ändert alles nichts an der grundlegenden Tatsache, daß das Fernsehen von aller Welt vor allem für den individuellen privaten Heimempfang in Anspruch genommen wird.

Damit ist das Fernsehen, seinen technischen und sozialen Voraussetzungen entsprechend, ein in jeder Beziehung intimes Mitteilungsmittel. Daraus ergeben sich entscheidende ästhetische und dramaturgische Konsequenzen. So kann, was das Fernsehen übermittelt, der Kleinheit der Schaufläche wegen, kaum je auf einem Bild vollständig, in einer Szene total gebracht werden. Was immer gezeigt wird, muß durch aufeinanderfolgende Details oder Detail-/gruppen exponiert werden. Die Auswahl dieser Details, die Art und Weise, wie sie aufgenommen werden, ist daher von höchster Bedeutung. Das Fernsehen kann dabei die beträchtlichen künstlerischen und technischen Erfahrungen der hochentwickelten Kamera- und Mikroaufnahmetechnik des Tonfilms und Hörfunks in Anspruch nehmen.

DIE FUNKTION DER AUFRICHTIGKEIT Wie kann nun in so beschränktem Rahmen künstlerische und andere kommunikative Vollkommenheit erreicht werden? Ziehen wir zunächst einmal einen energischen vertikalen Strich, der die zwei grundsätzlich verschiedenen Zweige des Fernsehens voneinander trennt:

1. Die Vermittlung von aktueller Wirklichkeit und deren Äußerungen.

2. Das Phantasieprodukt, das Spiel, mit dem zwar auch Wirklichkeit hergestellt wird, aber künstlerische, das heißt einzig und allein aus dem Kopf, Herzen und Talent stammende.

Für den Erfolg der Vermittlung aktueller Wirklichkeit durch das Fernsehen ist eine dessen intimen Charakter Rechnung tragende Voraussetzung unbedingt vonnöten: absolute Aufrichtigkeit. Wie und wann bietet sich hier absolute Aufrichtigkeit dar? Nur in der s p o n-t a n e n Äußerung — ob von Geschehen oder Menschen. Der Tod der meisten Fernsehvorträge von Politikern, Wissenschaftlern und anderen ist heutzutage das Manuskript. B u s s e 11, der englische Fernsehregisseur, gibt dafür ein treffendes Beispiel: „Ein Vortragender im Fernsehen erscheint vor uns auf der Bildfläche nicht anders und nicht entfernter als ein Gast, den wir in unsere Wohnung eingeladen haben. Man stelle sich nun vor, was wir dächten, wenn solch ein Gast seine Unterhaltung mit uns auf die Weise bestritte, daß er ein Manuskript herauszieht und alles, was er mitzuteilen hat, vorliest.“

So verpflichtet das Fernsehen heute alle, die etwas mitzuteilen wünschen, zu einer fast schon verlorengegangenen Art spontaner Äußerung und Aufrichtigkeit. Wenn man sich drei Meter von jemandem entfernt befindet, kann man ihm nicht so kommen wie vom Podium einer Versammlungshalle her. Auf dem Bildschirm steht er uns als Gleicher gegenüber; im Versammlungssaal sind wir zur anonymen Masse reduziert, während er als einzige hervortretende Persönlichkeit uns aufzwingen kann, was er will. Pfui und Bravo können wir rufen, das ist aber auch schon alles. Alle, die schon einmal einer Fernsehkamera gegenübergestanden sind, wissen • von dem gleichen beklemmenden Gefühl zu berichten: nirgends wird ihre Aufrichtigkeit, ihr moralisches Eigengewicht, ihre seelische Sicherheit so sehr in Anspruch genommen wie hier. Wer sich aber vor dieser Prüfung ins Manuskript flüchtet, verurteilt sich erst recht zu Unglaubwürdigkeit und Nicht-„Ankommen“. Chruschtschow hat in Wien den Glauben von der Einheit und Totalität des kommunistischen Denkens und Handelns durch seine Vorlesung im Fernsehen

allgemein sichtbar zerstört. Gerade der entgegengesetzte Eindruck, der von Gespaltenheit zwischen Vorgebrachtem und dem, der es vorbrachte, war das Ergebnis. Demgegenüber war das Überzeugendste, das man auf diesem Gebiet in den letzten Jahren sehen konnte, die Fernsehübertragung des Gesprächs am Kamin zwischen Macmillan und Eisenhower bei des letzteren Besuch in England. Man wurde hier zum Zeugen einer völlig ungezwungenen intimen und doch ernsthaften Unterhaltung zwischen zwei älteren Herren, zweier um das Wohl ihrer Länder besorgter Staatsmänner. Was sie zu sagen hatten, war autoritativ, aber nicht deklarativ.

Mehr als woanders kann man beim Fernsehen nur Kontakt von Mensch zu Mensch herstellen, wenn man das einzige, das jeder von uns tatsächlich zu geben hat, gibt: sich selbst; gleichgültig, woran man glaubt oder was man weiß — es muß den Filter unserer Seele passieren, um auf dem Fernsehschirm glaubhaft zu erscheinen. Hier kommt man weder mit falscher Bonhomie noch mit appropriierter Würde durch. Es könnte sein, daß mit dem Fernsehen eine neue Ära für das derzeit arg darniederliegende Rednertum beginnt, eine Ära lockerer, informierter Aufrichtigkeit, frei von der Verantwortungslosigkeit oder Verkrampftheit des Manuskriptlesens. KAMMERSPIEL DER SEELE Was bisher über die Vermittlung aktueller Wirklichkeit im Fernsehen gesagt wurde, gilt auf ganz andere Weise für die künstlerische Äußerung.

Fernsehregisseure mit Fingerspitzengefühl klagen alle über eine besondere Schwierigkeit bei ihrer Arbeit: das Publikum ist nur selten bereit, wirklich bei einem Stück „mitzugehen“, dessen zeitliches oder geographisches oder geschichtliches Milieu nicht dasjenige des Publikums ist. Es ist die vertrackte Nähe, in der sich der Zuschauer vor dem Bildschirm — und vom Spiel — befindet, die keine Illusion aufkommen und alles als kostümierte Spielastik durchschauen läßt, als „make believe“, als „als ob“. Und es ist eine Nähe, die mehr als nur räumlich ist: sie ist psychisch. Diese durch die besondere Nähe beim Publikum bestehende Sensitivität birgt jedoch auch ganz große künstlerische Möglichkeiten in sich; gerade durch die Nähe ist das Publikum besonders leicht erreichbar, wenn es in sich selbst angesprochen wird. Das bedeutet nicht, daß unbedingt Zeit- und Milieunähe im engeren, primitiveren Sinn vorhanden sein müssen, obwohl die Fernsehleute heute — mangels Besseren — gerade darin ihr Auslangen finden. Es geht jedoch beim Fernsehspiel besonders darum, daß wir als Menschen erkannt werden wollen, um uns in jeder Zeit und in jedem Milieu wiedererkennen oder finden zu können.

In Verbindung damit steht der intime, introspektive Charakter des Fernsehens als Ausdrucksmittel. Keine großen äußerlichen Ereignisse können auf dem winzigen Bildschirm gezeigt werden, wohl aber intime, seelische und somit nicht weniger bewegte, ja turbulente. Dem Schauspieler auf der Bühne (auch nicht auf der

Kammerbühne) können wir nicht direkt ins Auge und in jede Gesichtsfalte sehen; beim Fernsehen können wir es, und es kann gar nicht anders, als in diesem Umstand seine hervorragendsten künstlerischen Möglichkeiten zu suchen. Im Film hat die Großaufnahme eine Funktion, im Fernsehen ist sie nahezu die Regel, und die Klein- und Fernaufnahme hat dort höchstens spezifische psychologische Funktionen, etwa um auch seelische Distanz anzudeuten. So ist die Handlung im Fernsehspiel vor allem auf das unendliche Register feinster seelischer Regungen und Reaktionen „beschränkt“. Mehr als jeder Film wird es damit zum eigentlichen und besten visiblen Träger des inneren Monologs Schnitzlers und des Stream of conscience Joyces.

Damit wird das Fernsehspiel zu einem Rahmen par excellence für die Darstellung der besonderen seelischen Situation des Menschen in unserer Zeit, seiner einsamen Existenz inmitten des Menschendaseins, seines Außenseitertums gegenüber einem Dschungel komplizierter gesellschaftlicher Organisation, seinem Ringen um persönliche Integrität und um einen von allen getragenen Glauben.

DAS HASARDSPIEL DER LIVE-SENDUNG Es soll hier noch auf das vielleicht im Augenblick größte Hindernis für die Erreichung künstlerischer Vollkommenheit beim Fernsehspiel hingewiesen werden: auf den Irrtum der Live-Sendung, der Direktübertragungen von Fernsehstücken.

Während wir bei der Wiedergabe nichtkünstlerischer, aktueller Wirklichkeit auf äußerste Spontaneität dringen, verlangen wir für das Spiel gerade das Umgekehrte. Das ganze komplizierte System der zahlreichen Möglichkeiten, welche uns die Aufnahme- und Montagetechnik von Bild und Ton mit unzähligen Nuancierungen durch Licht, Schatten, Raum, Perspektive, Distanz, Nähe und noch anderem bieten, kann nicht wirklich voll in Anspruch genommen werden als durch ruhige, überlegte Werkarbeit, langes Gustieren und verantwortliches, ungehetztes Disponieren. Daß der Regisseur bei der Live-Sendung, bei der Realisierung eines Kunstwerkes, Entscheidungen über eine solche Unzahl von Faktoren in. Sekunden und noch weniger treffen soll, ist trotz noch so minuziös vorbereiteter Regiebücher unkünstlerisch, unnötig, verschwenderisch, ja dilettantisch und Hasardspiel. Anderseits ist der Regisseur gerade durch die Live-Sendungen gezwungen, sich beim Regiebuch auch auf eine Weise festzulegen, die ihn mancher Möglichkeiten beraubt, welche dem Filmregisseur zur Verfügung stehen. Dieser hat entweder einen gleichwertigen Künstler als Cutter für die raffinierteste Auswahl und Montage des aufgenommenen Materials zur Verfügung oder er besorgt diese selbst (wie seinerzeit Eisenstein) und nimmt sich dafür oft mehr Zeit und Mühe als für die Aufnahmearbeit. Da man jetzt sowieso schon dazu übergegangen ist, Live-Sendungen während der Übertragung festzuhalten, um diese Aufnahmen für Wiederholungen und Verleih und Verkauf zu verwerten, ist nicht einzusehen, warum man nicht, von vornherein einen Film anfertigt und nachher sendet. Es kann gar keine Produktion geben, die nicht durch nachträgliche Überlegung und Korrektur gewinnen könnte. Die Live-Sendung ist falsch verstandene Stegreifkunst, der angesichts der vorhandenen komplexen künstlerischen Maschinerie die Berechtigung, aber auch die künstlerische Legitimation der wirklichen Stegreifkunst fehlt: daß nämlich von einem Ensemble gegebener Figuren und Charaktere ein vorgeschriebenes Thema kollektiv erdichtet und erspielt wird. So etwas wäre freilich auch im Fernsehen ganz wunderbar.

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