6899459-1980_22_12.jpg
Digital In Arbeit

Meisterwerk der Einsamkeit

Werbung
Werbung
Werbung

Die FURCHE veröffentlicht den A nfang und den Schlußteil aus dem Referat, das der Autor anläßlich des Mu-sil-Symposions (12.-14. Mai 1980) in Wien gehalten hat.

7

M-J wanzig Jahre nach der Archivierung eines ersten Musil-Textes aus dem Wiener Kurier - „Die Reise vom Hundertsten ins Tausendste” -, siebzehn Jahre nach der Lektüre der Tagebuchauszüge im Suhrkamp-Verlag, sechzehn Jahre nach Studium der Rowohlt-Monographie von Wilfried Berghahn und zehn Jahre nach Erstlektüre des „Mannes ohne Eigenschaften” bin ich zu persönlicher Berichterstattung gefordert. Ich genieße zwar diesen Vorzug der Unwissenschaftlichkeit, es bedarf aber nicht erst des Gedankens daran, daß ich keinen Laut hervorbrächte, wenn dieser Mann auch körperlich anwesend wäre, um die Unangemessenheit jedes Versuches, angesichts dieser Erscheinung persönlich Redliches beizutragen, zu illustrieren. Wenn ich es dennoch wage, dann in der Gesinnung der frommen Bauersfrau, die zu einem aufgesetzten Bekenntnis gedrängt ist, dem sie sich aus Gewissensgründen trotz Unwürdigkeit nicht entziehen kann.

Im genannten Zeitungsblatt schon ist mir der Grundton Musilscher Parado-xie aufgefallen. Dort steht: „Ich bin nicht nur überzeugt, daß das, was ich sage, falsch ist, sondern auch das, was man dagegen sagen wird ... Wir haben viel gesehen und nichts wahrgenommen ... So sieht also Weltgeschichte in der Nähe aus, man sieht nichts ... Das Gleichnis stimmt nicht, wir wüßten genug, um uns ein Urteil über Gegenwärtiges und jüngst Vergangenes zu bilden, wir wissen jedenfalls mehr, als spätere Zeiten wissen werden. Eine andere Wurzel des Gleichnisses heißt, noch beteiligt zu sein. Aber wir waren ja gar nicht beteiligt?” (Man beachte den letzten Behauptungssatz, der jedoch mit einem Fragezeichen beendet wird.)

Nerständlich, daß Musil vom Dichter sagt: „Man könnte ihn beschreiben als den Menschen, dem die rettungslose Einsamkeit des Ich in der Welt und zwischen den Menschen am stärksten zum Bewußtsein kommt.” Er sagt aber auch über ihn: „Er sei einer, der selbst seine eigenen Ideale zu hassen vermag, weil sie ihm nicht als Ziele, sondern als Verwesungsprodukte seines Idealismus erscheinen.” Aus derselben Dialektik mag wohl auch der Satz stammen: „Dichten ist keine Tätigkeit, sondern ein Zustand. Darum kann man nicht, wenn man eine Stellung und einen halben freien Tag hat, die Arbeit wieder aufnehmen.” Es erscheint mir dennoch den ernsthaften Versuch wert zu sein, den Punkt,den Musil hinterdiesen Satz stellte, in ein Fragezeichen zu verwandeln. Schließen denn die von ihm intendierten „Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt”, wie er es 1926 in dem Interview mit Fontana gesagt hat, solche pekuniären „Fegefeuer”-auchdieses Wort stammt von ihm - zwingend ein?

Hinter der Ironie, der Satire und dem Sarkasmus versteckt sich nach meinem Verständnis der Märtyrer einer Privatreligion, dessen Tragik darin besteht, sich selbst nur (zu- oder abgeneigt) in den Kategorien der historischen Hochreligion artikulieren zu müssen und dadurch ständig in die Nähe, ja oft sogar ins Zentrum einer Welt zu geraten, die ihm zugleich so einladend wie unannehmbar erscheint. Fragt sich, ob man mit dem Abstand von achtunddreißig Jahren seit seinem Tod und mit der Kenntnis des Geschichtsverlaufs seither das Bild dieses Mannes (damit meine ich auch ganz unmittelbar seine äußere Erscheinung, seine Miene (wie gerne würde ich Antlitz sagen) von denen gleichzeitiger Denker und Zeugen ohne das Stigma der Ironie noch unterscheiden soll. Ich jedenfalls kann es nicht.

Die vielgerühmte satirische Souveränität jedenfalls vermag ich nicht als einzige Nachricht aus seinem Leben auszumachen. Ich sehe einen begnadeten Stilisten, der eben solche Produktivität dieser nie zu heilenden Wunde seiner Selbstungewißheit verdankt - was ihn nicht hindert, sondern dazu bewegt, stets Salz nachzustreuen. Ich habe mich davon überzeugt, daß in jeder seiner Persiflagen auch er selbst in hohem Maß mitenthalten ist, und daß er das auch weiß.

Die Thematik Musil heißt deshalb für mich: Thematik der Nichtidentität, des Nichtlebens! Die Lektüre erweist tausendfach dieselbe Bewegung: zuerst ein Ausfall, in Brillanz gekleidet, voll stilisiert ausgefaltet und kurz darauf der Kontrapunkt, die ebenso engagiert durchgezeichnete Gegenposition, ebenfalls ausgelotet bis zum tiefst erreichbaren Punkt. Zumeist sind beide Versionen erzsatirisch verstellt. Nicht zufällig schmücken sich heute wichtige und prominente Persönlichkeiten mit seinem Werk, das sie ja tatsächlich durch die Offenbarungsstellen genießen können und bei der gnädigen Blendung, die die Natur dem durchschnittlichen gesundeitlen Menschen schenkt, überlesen sie ihre eigene Infragestellung auf der nächsten oder übernächsten Seite gänzlich.

I ch wäre unaufrichtig zu behaupten, daß mir die marxistische Kritik an dieser Position, wie sie Rolf Schneider in seinem Buch „Die problematisierte Wirklichkeit, Leben und Werk Robert Musils, Versuch einer Interpretation” übt, nicht nachvollziehbar wäre. Zwar kann ich sie wegen der dieser Ideologie eigenen martialischen Selbstgewißheit nicht teilen, muß jedoch, wenn ich mit allem gebotenen Abstand eine christliche Sicht reklamiere (Abstand deshalb, weil ich mit meiner Unfertigkeit und Schwäche das Christentum nicht belasten darf), in einem Punkt mit Rolf Schneider übereinstimmen, den man umschreiben könnte: ausbleiben des für jedes gewöhnliche Menschenleben unerläßlichen Bekenntnisses oder doch Bequemens zu einer vollziehbaren (ich behaupte und verlange gar nicht nachvollziehbaren) Position, auch um den Preis, mit ihrer Einnahme auf manche attraktive, ästhetisch nicht reizlose Gegenposition verzichten zu müssen - solche crux als Lebensbaum, dieses Sich-selbst-anfechtbar-Machen, diese für jede, das praktische, empirische, sichtbare, fühlbare Leben fördernde Tat getane teilweise Selbstblendung, meinetwegen sacrificium intellectum!

Es läuft schließlich doch vieles auf das Nicht-Partei-Ergreifen hinaus. Diese zunächst sehr ehrenwerte Weigerung - wenngleich in heftige Scharfzün-gigkeit gekleidet - kostet allerdings den Preis jener besonderen Art Vernichtung, der alles anheimfällt, was sich nicht als Teil bequemen will. Dies wird zwar höchsterreichbarer Geistigkeit manchmal verziehen, wäre aber in keinem einzigen ausgefalteten Wirklichkeitspartikel jemals straflos versucht worden. Uberparteilichkeit kostet stets die volle Physis bis zur zölibatären Unfruchtbarkeit. Und diese verpflichtend allgemeingültig oder auch nur idealtypisch vorzustellen, zu ideologisieren, solange quer durch alle Desaster das Prinzip Leben einzige gültige Ausrichtung bleibt - wer vermöchte dem schlechterdings und ohne Kommentar zu folgen?

I ch sage das als ein Mann, der dreißig Dienstjahre in einer Fabrik verbracht hat und hoffen muß, noch fünfzehn dort verbringen zu dürfen. Der den zweiten Weltkrieg und die Zeit seither wach mitgemacht hat und wissentlich und willentlich mit seiner Frau für vier Kinder lebt und sorgt. Die Quetschungen eines solchen ganz normalen und anspruchslosen Uberlebens habe ich weder ausgesucht, noch vorhergesehen, aber ich benenne sie, bekenne sie, ertrage sie in aller Blindheit mit einer willentlichen, unzerstörbaren Zustimmung.

Genug des mühsamen Abstandhaltens. Nicht zuletzt durch den Auftrag für diese Erklärung ist dieser Abstand erst entstanden, deutlich geworden, deutlicher als es mir lieb ist und als dies es mir noch ermöglichen würde, manches halb zurückzunehmen. Geboten ist endlich und vor allem gänzliche Devotion vor Musils Schicksal, damit meine ich auch Herbeirufung und Tragfähigkeit.

Weder Kakanien noch Erotomanie, weder Ironie noch Inzest, weder das gespenstische Personal dieses Romans noch dessen forciertes artifizielles Seelenleben - die in Sprechblasen ziselierten Philosopheme, jedes ein Essay -scheinen mich im Oberbewußtsein heute noch vital zu interessieren, wären Gegenstände meiner heutigen Aufgabe oder auch nur Vorliebe. Die Inhalte des Werkes ragen nirgends in meine täglichen Suchfelder. Was also macht mir den Meister dennoch unübertroffen und unersetzlich? Nur in einer einzigen Hinsicht, nämlich was das Netzwerk der Identität betrifft, volle und einzige Quelle, zugleich Spiegelung, muß ich außer der Bibel nur Goethe und Musil in diesem Atemzug des Geständnisses nennen. Ausnahmslos alle anderen Begegnungen, Bereicherungen und Beglückungen geschehen auf dieses Koordinatensystem bezogen und leuchten oft nur in einem winzigen, aber doch erkennbaren Abstand zu diesem. w, ie komme ich nun zu solcher Qualifikation, obwohl ich sozusagen mein heuliges Desinteresse am Stoff offen zugebe? Es ist die mir im Bereich der Literatur sonst nicht begegnete totale Tragik eines singulären humanen Rangs, einer auf dieser Welt nicht glücklich vollziehbaren Begabung und das exemplarische Standhalten ihr gegenüber. Musil hat seine Begabung nicht überlebt, sondern durchlebt, durchlitten. Eine ecce-homo-Assozia-tion, kochender Blick auf die nicht direkt gezeigte, aber tausendfach umschriebene, umstellte und durch Nachtleben gelebte allerwahrhaftigste Halbwahrheit unseres rätselvollen Daseins. In der purgatorischen Bitterkeit solcher Sicht, durch ihre zur Weißglut getriebene Indirektheit - heute würde man sagen, wo sich im Zyklotron die Lichtquanten selbst einzuholen beginnen -entstehen neue Materialien und Arzneien: paradoxerweise eben zur Förderung jener Qualität, deren Name Leben ist und auf die alle moralischen Unternehmungen hinauslaufen.

Vor dreißig Jahren las ich im Vorwort zu einer Mozartbiographie von Henri Gheon die Aufforderung des Verfassers, den Gegenstand dieses Buches, den Menschen Mozart, zu lieben -dies in einer ganz unmittelbaren und persönlichen Weise. Seit damals ist es meine Eigenschaft, auch die großen Begegnungen aus der Lektüre auf die Möglichkeit hin zu betrachten, sie in der genannten Art zu lieben. Dieses Vorgehen ist umso berechtigter, als ja in der Bilanz vieler Jahrzehnte der Einfluß jener Menschen, deren Taten nachhaltig das eigene Uberleben nicht nur förderten, sondern überhaupt erst möglich machten, durchaus überschaubar bleibt; ihnen also über die kognitive Reflexion hinaus und auch über das Grab hinaus ein heißes Gefühl zu schenken, erscheint nicht abwegig. Die Gestalt Robert Musils in ihrer überwältigenden Einmaligkeit, sowohl was die Größe des Werkes, die Unbedingtheit des Lebensvollzuges und die Einsamkeit des Menschen betrifft, setzte und setzt unablässig Werte, deren Bedeutung für die unmittelbare gegenwärtige Lebensführung sie in die Nähe jener leiblicher Eltern setzt. Ich bekenne also zum Schluß, daß ich auch in bezug auf Robert Musil dem Gheon'schen Gedanken auf das innigste folge.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung