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Alle unsere Spiele

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Im Rahmen einer Feier zum 100. Geburtstag der Dichterin Enrica von Handel-Mazzettl wurde Erika Mitterer, die den Lesern der „Furche“ nicht unbekannt ist, in Linz für ihren Roman „Alle unsere Spiele“ mit dem vom Unterrichtsministerium gemeinsam mit der berösterreichischen Landesregierung gestifteten Handel-Mazzetti-Preis ausgezeichnet. — Wir bringen hier ihre Dank-Ansprache.

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Im Rahmen einer Feier zum 100. Geburtstag der Dichterin Enrica von Handel-Mazzettl wurde Erika Mitterer, die den Lesern der „Furche“ nicht unbekannt ist, in Linz für ihren Roman „Alle unsere Spiele“ mit dem vom Unterrichtsministerium gemeinsam mit der berösterreichischen Landesregierung gestifteten Handel-Mazzetti-Preis ausgezeichnet. — Wir bringen hier ihre Dank-Ansprache.

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Fast scheint es wie ein Zufall, daß ich diesen Preis bekommen konnte: denn wären wir etwas später von unserer Frühlingsreise zurückgekehrt, und hätte ich dann nicht mit den anderen Drucksachen auch das Mitteilungsblatt des „Schriftstellerverbandes“ rasch durchflogen und wäre ich dabei nicht an einem bestimmten Satz hängengeblieben, das Romanmanuskript läge noch in meinem Schreibtisch oder befände sich auf der mühseligen Wanderfahrt von einem Verleger zum anderen. Aber verdanken wir denn nicht fast alles im Leben solchen Fügungen, die uns „zufallen“?

Jener Satz besagte, das eingereichte Werk habe „eine Epoche der österreichischen Geschichte in kennzeichnender Weise zu schildern“. Und genau dies war doch meine Absicht gewesen, während ich „Alle unsere Spiele“ schrieb.

Freilich war es nicht die einzige Absicht, ja vielleicht nicht einmal der ursprüngliche Antrieb des Erzählens. Vielmehr ergab sich die Schilderung der Epoche als notwendig für die Darstellung der Menschen, die sie durchleben mußten.

Schon der Titel „Alle unsere Spiele“ verrät ja, daß es mir nicht so sehr um die Nachzeichnung von Lebensschicksalen ging wie um die Aufdeckung der geheimen Antriebe, die unserem „Lebenslauf“ seine bestimmte Bahn vorschrieben. Sie zu erkennen fällt uns besonders schwer in stürmischer Zeit, wenn wir uns als ohnmächtig in die Ereignisse Verstrickte, vielmehr sogar als Verfolgte fühlen. Die Bekehrung der Schreiberin dieser Aufzeichnungen — die in der Ichform erzählt sind —, wird dadurch bewirkt, daß sich ihr während des Schreibens jede Darstellung, auch die bemüht objektive, als „Version“ enthüllt, und zwar natürlich als eine Version, in der sie selbst in günstigem Licht dasteht und, da ihr Schreckliches widerfährt, schließlich sogar als — Opferlamm, wie es ihr der kluge Geistliche schon früh, und damals zu ihrer Entrüstung, auf den Kopf zugesagt hat...

Und erst eineinhalb Jahrzehnte später, im Erinnerungsgespräch mit dem heimkehrenden Bruder, bemerkt sie, wie deutlich ihr ganzes Verhalten und auch ihr Versagen schon vorgeprägt war durch die Rollen, die sie in den frühen Spielen der Kindheit übernommen hatte.

Wohlmeinende Freunde und Kollegen haben mich gewarnt: Schreib doch um Gottes willen keinen Zeitroman! Vom Krieg, von der damaligen inneren und äußeren Not, will niemand etwas wissen. Die Jungen finden, das gehe sie nichts an; es liegt ihnen so fern wie der Dreißigjährige Krieg; die Alten aber wollen endlich vergessen.

Aber ich habe nie begriffen, wie man etwas erzählen kann, ohne den Zeithintergrund mitzugestalten. Gibt es denn überhaupt die so beliebten „privaten Schicksale“, die von politischen, wirtschaftlichen, geistigen Auseinandersetzungen unbeeinflußt wären? In unserer Zeit jedenfalls kenne ich solche Schicksale nicht, denn auch die Flucht in die Privatsphäre ist nur Vogel-Strauß-Politik, und wer allzulang den Kopf in den Sand steckt, der erstickt und verhungert eben!

Die Dichterin, deren Andenken heute hier gefeiert wird, hat österreichische Geschichte lebendig gemacht, obwohl es auch ihr um ganz anderes ging als um historische Reminiszenzen, nämlich um die Frage des rechten Glaubens. Und nach dem berühmten Wort Goethes ist ja das einzige Thema aller der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, die Auseinandersetzung zwischen Glauben und Unglauben.

Der Schauplatz dieses Kampfes im unsichtbaren Bereich ist die menschliche Seele. Dieser Bereich ist ohne Zeit, ohne Ort, darum kann Lyrik, die unmittelbare Sprache des Herzens, zeitlos sein. Aber ein „zeitloses“ Drama? Das wäre ein Widerspruch in sich. Und ebenso ist, meiner Uberzeugung nach, jeder Roman, der mit Wirklichkeit — in welchem Sinne immer — zu tun hat, Zeitroman. In lange andauernden ruhigen Epochen, in denen die Wertmaßstäbe scheinbar unangetastet sind, können die Zeitumstände, weil allgemein bekannt, im Hintergrund blieben. So um die Jahrhundertwende. Und doch — was ist etwa Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“, dieses scheinbar subjektivste Werk, anderes, als ein ungeheuer intensives — Zeitgemälde?

Aber in den Dezennien, die meine Generation durchlebte, gelang wohl keinem auch nur der Versuch einer Abkehr von der Geschichte!

Vielleicht wird ein junger Leser meines Buches etwas weniger schroff über die Generation der Väter urteilen, wenn er durch die Lektüre erkennt, daß die nun so leicht zu durchschauende und zu verurteilende Vergangenheit einmal unwegsames Gestrüpp der Gegenwart war, durch das der Weg nicht leichter zu finden war als jemals in früheren Zeiten. Denn selbst die, die die Verirrungen einer Epoche erkennen, vermögen sich ihnen in ihrem Handeln selten ganz zu entziehen. Die klarsichtigen Helden und Heiligen sind selten, und zu ihrer Zeit gelten sie oft als Narren oder gar als Verbrecher.

In meinem großen historischen Roman „Der Fürst der Welt“, der im Krieg erschien, steht die Frage eines Knaben im Mittelpunkt: „Wer ist stärker, Gott — oder der Teufel?“

Dieselbe Frage stellt sich, ob auch in verhüllter Form, zu jeder Zeit. In

„Alle unsere Spiele“ klingt sie verhaltener an: „Der Mensch, der sagt: „Ich habe schuld, oder ich bin schuld', bekennt damit ausdrücklich, daß er an Gott glaubt, vielleicht ohne es zu wissen. — ,Ich kann doch nichts dafür!' heißt, mit anderen Worten: ,Was wollt ihr denn von mir? Ich bin ein Produkt endloser Zufälle und bin endlosen Zufällen ohnmächtig ausgeliefert: denn es gibt keinen Gott.“

Aber in meinem Buch geht es nicht um Selbstbezichtigung, sondern um Selbsterkenntnis. Nur aus ihr kann, wie schon die Inschrift am Giebel des Apollotempels in Delphi mahnte, die Reinigung des Menschen erfolgen; nur, indem er seine Vergangenheit annimmt und bejaht, wird er frei von allen Ängsten und fähig, die Gegenwart zu erleben und die Zukunft mitzugestalten.

Enrico von Handel-Mazzetti stellte einem ihrer Bücher, die ebenfalls voll sind von Verblendung, grausamer Schuldverstrickung und menschlichem Versagen, das Motto voran: „Magna res est amor.“

Damit aber die Liebe, die die Lebenskraft selber ist, von einem Herzen ganz Besitz ergreifen kann, muß es sich reinigen lassen, nicht nur von Haß und Neid, sondern auch von dem so weit verbreiteten, so schwer durchschaubaren „Ressentiment“, wörtlich: vom Gegen-Gefühl, als sei ihm nicht Recht, sondern immer nur Unrecht geschehen.

Eine solche Befreiung verleiht Mut und Kraft zu neuem Beginn, und mit einem solchen Ansatz schließt meine Geschichte.

Deshalb widerspricht, das weiß ich wohl, dieser Zeitroman dem öffentlich demonstrierten Lebensgefühl unserer Tage, das auf den angeblich billigen Trost einer doch immer nur menschlich konstruierten Sinn-Bezogenheit verzichten will — um sich dann allerdings desto billiger zu trösten, wie Esau, der das Linsengericht den für ihn vagen Rechten der Erstgeburt vorzog.

Ich bin also freudig überrascht, daß mein Buch hier so hohe Anerkennung gefunden hat. — In meiner Jugend war ich durch Lob und öffentliche Zustimmung verwöhnt. Dann ist es still geworden, viele Jahre lang. Darf ich schließen mit einem Spruch, den ich einmal mir zum Tröste vorsagte, und der zugleich auch ein Versprechen enthält:

Als mich viele lobten, war ich innen tief erschrocken, denn ich wußte frühe, daß sie vor der Wahrheit feig erschauern, daß die Schönheit ihnen nicht gefällt!

Nun erstarre ich in düsterm Sinnen, weil mich niemand hört: Lohnt es die Mühe? — Keiner wird sein Hiersein überdauern, der sich selber nicht die Treue hält...

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