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Was vermag Literatur?

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Was vermag Literatur? Wenn mir die Frage gestellt wird, was Literatur vermag, so drängen sich mir zwei Antworten auf: Literatur vermag gar nichts. Und: Literatur vermag sehr viel. Wie komme ich zu diesen zwei Sätzen?

Es war vor einigen Jahren, als in Linz eine junge Künstlerin auftrat, die sich -auf etwas ungewöhnliche Weise - für die Befreiung der Frau engagierte. Ich habe den Auftritt nicht selbst gesehen, ich ließ ihn mir aber beschreiben. Er war szenisch-theatralisch, also im Grunde literarisch. Der Auftritt erregte Aufsehen, ein heftiges Für und Wider.

Etliche Tage danach traf ich einen jüngeren Kollegen, einen klugen, gebildeten, feinsinnigen Mann. Er sagte mir: Ist es nicht einfach zum Verzweifeln? Da setzt sich eine junge Frau mit äußerster Hingabe ihrer Person für die Änderung der Welt ein, für die Befreiung ihrer Geschlechtsgenossinnen. Und am nächsten Tag gehen die Hausfrauen mit denselben Einkaufskörben auf denselben Markt um wie immer einzukaufen, wie immer das Essen zu kochen, wie immer abzuspülen. Nichts, aber auch gar nichts hat sich verändert.

So weit der Kollege. Ich war so überrascht, daß ich nicht einmal antworten konnte. Ich dachte: Um Gottes Willen, wo bin ich? Was wird da von den Menschen erwartet? Was von der Wirkung eines solchen Auftritts? Und - das dachte ich hinzu - wie labil, wie furchtbar gefährdet müßte das Leben seinerseits sein, wenn es sofort seismographisch auf eine solche Darbietung und ihre Botschaften reagieren würde?

So kam ich ins Nachdenken über das Problem, was an Wirkung möglich oder unmöglich ist durch Kunst im Allgemeinen, durch Literatur im Besonderen. Denn ich wußte doch andererseits aus meinem eigenen Leben und auch aus der Geschichte, wie gewaltig Literatur einwirkt, wieviel Literatur vermag.

Ich mußte mir sagen: Der moralische Imperativ, die umstürzende Idee hat wenig Aussicht, Gehör zu finden. Leider. (Vielleicht manchmal auch Gott sei Dank.) Der „Denkanstoß", der die Mitmenschen in Bewegung setzen soll, stößt nur auf unüberwindliche Trägheitsmomente. Die Brandfackelwirkung, die von der literarischen Botschaft ausgehen soll, scheitert an dem

Umstand, daß sie keinerlei entflammbares Material vorfindet. Die eingespielten Model des Lebens und Meinens sind weit mächtiger als die Manifestationen des einzelnen und mögen diese auch unter der äußersten Hingabe seiner Person zustande gekommen sein.

Wie aber wirkt nun Literatur? Ich glaube, sie wirkt sehr viel leiser. Sie verändert Lebensstimmung, sie nuanciert Emotionen, sie schattiert Erwartungen, trägt bei zum Lebensstil, sie schafft mit am Menschenbild einer Epoche. So vermag sie wirklich sehr viel.

Um, wenn ich darf, erst einmal von mir auszugehen: Ich kann mir mein eigenes Leben nicht vorstellen ohne Bücher. Da sammelt man als junger Mensch Erfahrungen, aber was wären diese Erfahrungen, ohne die Grundierung durch Literatur? Sie wären Rohstoff. Durch Literatur wird ihnen erst Richtung gegeben, Raster eingezogen, Sinn vermittelt.

Das begann in frühester Kindheit mit Märchen, Bibel, Fibel. Das setzte sich später fort: erste Liebeserlebnisse, höchst introvertierte, was wären sie denn gewesen ohne die Lektüre von Storm und Stifter? Erste gesellschaftliche Orientierungsversuche, was wären sie gewesen ohne die „Memoiren einer Sozialistin" von Lily Braun, ohne „Ger-minal" von Zola, ohne „Auferstehung" von Tolstoi? Wieviel Verführungskraft ging auf uns junge Leute um 1930 aus, von einer so mediokren Literatur wie Claude Anet? Und Sigrid Undset? Sie hat damals Neuland erobert auf dem Gebiet der Psychologie der Frau und hat uns die emotionale Verflechung eines Lebensganzen vor Augen gestellt, diese Verflechtung, zu der auch, und zwar unabdingbar, das Religiöse gehört.

Und dann: Nietzsche, Thomas Mann, und nach dem Krieg der große symphonische William Faulkner!

Was hätten wir verstanden von der geistig-moralischen Ruinenlandschaft, die der Krieg hinterließ, ohne die Dan-ziger Visionen von Grass, ohne die Heftigkeit Enzensbergers; welcher unerträglichen Sprachlosigkeit wären wir ausgeliefert gewesen angesichts weltweiter Lebensbedrohung, wenn nicht Samuel Beckett für uns formuliert hätte?

Natürlich wären wir aus eigener Anschauung auch belehrt worden; wir hätten Symptome gesammelt, Einzelheiten, die wie Splitter vor unseren Blicken wirbelten. Aber zu Mustern gelegt wurden sie von Grass, Enzensberger, Bek-kett und so fort.

Die Muster besetzen das Gedächtnis.

Sie besetzen es durchaus nicht mit Imperativen, sondern mit Bildern, Figuren, Konstellationen, Klängen, Kadenzen. Mit dem, was uns nach der Lektüre eines Buches bleibt: imaginier-te Realien. Die Phantasie des Lesers hat gelernt, die Welt des Autors zu teilen, in seiner Welt mit- und einzuhausen. Und erst durch die lange - und oft verlustreiche - Umleitung über Gedächtnis und Phantasie wird sich dann vielleicht auch einmal etwas im Leben, im Verhalten des Lesers ändern lassen.

Soweit die moralische Seite.

Doch darüber hinaus: Literatur wirkt auch typenbildend. Sie kann auch modebildend wirken. Wir alle kennen das Beispiel Werther: mit Werther-Rock, -Hut und -Stiefeln. Aber sollte nicht eine Figur wie die Madame Bovary für Jahrzehnte typenbildend gewirkt haben auf das etwas morbide Idol der femme fatale? Oder nehmen wir Remarques „Im Westen nichts Neues", damals ein ungeheurer Bucherfolg! Und halten wir daneben Ernst Jüngers „In Stahlgewittern". Hier sehen wir aus derselben kollektiverfahrenen Vernichtungswelt der Westfront 14-18 zwei Grundtypen abstrahiert, gegensätzlichster Art; doch beide, Typus und Gegentypus, haben Geschichte gemacht, haben Traditionen entwickelt, wobei ich meine, daß Remarque eher zum Kriegsdienstverweigerer der Bundesrepublik, Jünger -im Licht auch seines „Arbeiters" - zur Volksarmee der DDR führte.

Typenbildend auf ganz anderer Ebene war z. B. auch die kleine tapfere Spanierin Maria aus Hemingways „Wem die Stunde schlägt", die beschädigte Kurzgeschorene, die ihr Partner so gern „mein Kaninchen nennt" - schnell entschlossen zur Liebe, knabenhafte Schlafsackschläferin am Rande des Abgrunds; hat sie nicht Armeen von Nachfolgerinnen gefunden - sogar in einer Generation, die ihr Urbild nicht kennt, weil sie Hemingway gar nicht mehr liest?

In allen Künsten, somit auch in der Literatur, ist es ja so, daß ein einmal gefundenes Grundmuster gar nicht immer selbst weiterprägt, sondern daß es erst umgesetzt werden muß in Variation, Nachahmung, Nachbild, manchmal zweiten, dritten Ranges; so werden bestimmte Elemente weiterproduziert und popularisiert.

Es kann auch geschehen, und ich glaube, wir sind Zeugen eines solchen Vorganges, daß die Grundmuster, die die Literatur gefunden hat, allmählich in andere Medien abwandern und dort wirksam werden. Das erzählende Bild, der Film, hat viel von der Literatur gelernt; der Film und das Fernsehen haben vielfach die Aufgaben des Buches übernommen, wie gut oder wie schlecht, darauf möchte ich hier gar nicht eingehen. Der Krimi ersetzt die Novelle, aber er ist auch - im günstigen Fall - die Novelle; die Fernsehserie simuliert die große Epopöe; die Diskussionen machen uns zu Zeugen von Gesprächen; ja sogar die Werbung kann literarisch interpretiert werden, denn sie wildert ja - besonders in ihren suggestiven Schriftbildern - vielfach in den Ergebnissen konkreter Poesie. Für viele Zeitgenossen ist das Fernsehen einzige Teilnahmemöglichkeit an den höheren Strukturen unserer Zivilisation; man mag das bedauern oder nicht. Für sie liest die Kamera den Text der Welt -wählt für sie aus, zwingt in ihre Perspektiven.

Was vermag ihr gegenüber noch das, was literarisch im engeren Sinne ist?

Aber das ist schon wieder eine andere Frage.

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