Ende Jes Lesexeitalters?
Rede, gehalten beim Dreiländertreffen des katholischen Buchhandels Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz in Wien, Juni 1957
Rede, gehalten beim Dreiländertreffen des katholischen Buchhandels Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz in Wien, Juni 1957
Meine sehr verehrten Anwesenden! Jeder von Ihnen kennt sicher die Geschichte des jungen Hochschulprofessors, der einst in Norditalien dozierte und schwere seelische Kämpfe durchmachte, die ihn fast an den Rand des Irrsinns brachten. Eines Nachts, als er an einem Tiefpunkt seines seelischen Elends angekommen war, hörte er plötzlich eine Stimme, die ihm zurief: „Nimm und lies! Nimm und lies!“ Der junge Professor ging in das Haus, das er vor kurzem verlassen, zurück, nahm das erstbeste Buch, das ihm in die Hände fiel und schlug es willkürlich auf. Er las nur einen Satz, denn, wie er selbst sagt, es bedurfte eines Weiterlesens nicht. „Sogleich, da ich den Satz beendet hatte, war mein Herz von dem Lichte hellster Zuversicht durchstrahlt und alle Finsternis des Zweifels war geflohen." Und der junge Mann begann von diesem Augenblick an ein völlig neues Leben, das ihn zu einem der größten Menschen der Erde und zu einem der größten Heiligen der Kirche werden ließ.
EinBuchwaralsoderauslösende Faktor für ein neues Leben im Dasein dieses Mannes, von dem Sie schon längst wissen, daß es sich um den heiligen Augustinus handelt. ns .?r % das Ehrfurcht, gefragt,
Rättpi CiStųntnej-zu-diesem jungen Äurpljus'' Augustinus gesagt, wenn er drei oder vier Jahr-1 hunderte nach seinem geschichtlichen Dasein gelebt hätte? Sie hätte dann nicht mehr „Nimm und lies!" sagen können, denn mit 95prozentiger Sicherheit kann behauptet werden, daß der junge Augustinus, würde er statt um 400 um 700 nach Christi gelebt haben, nicht mehr die Kunst des Lesens und Schreibens besessen hätte. Denn das Europa um 700, soweit es überhaupt eine Geschichte hatte, war ein kulturell völlig anderes als jenes Europa, in dem der heilige Augustinus lebte. Zu seiner Zeit konnte noch jeder innerhalb der damaligen römischen Welt lesen und schreiben, bis zu den Sklaven herunter. Es gab sogar eine eigene Stenographie. Es gab große Bibliotheken, nicht nur öffentliche, sondern auch private. Um 700 ist alles anders und wird für Jahrhunderte anders bleiben. Die Kunst des Lesens und Schreibens besitzen nur noch die Priester und Mönche, sonst niemand. Die Kaiser, selbst Karl und Otto der Große, unterschreiben die Urkunden dadurch, daß sie innerhalb eines vorgezeichneten Monogramms nur noch einen kümmerlichen Schlußstrich ziehen. Nur in Klöstern gibt es Bibliotheken, alles andere kann nicht mehr den Namen einer Bibliothek beanspruchen. Was war geschehen, daß dieses Europa plötzlich aus einem lesenden und schreibenden Europa zu einem Europa wurde, das nichts mehr las und nichts mehr schrieb? Hätte man den Zeitgenossen des heiligen Augustinus gesagt, Europa werde sozusagen über Nacht nicht mehr lesen, nicht mehr schreiben können, die damaligen Menschen hätten jeden, der dies behauptete, ungläubig verlacht. Für sie wäre es unvorstellbar gewesen, daß es eine Krise des Lesezeitalters geben könnte. Und doch kam sie, über Nacht.
Wieso dies möglich war, ist noch nicht ganz geklärt, wir sind heute auch nicht dazu da, um diese Frage zu untersuchen. Die damalige Katastrophe Europas wurde auch nur angeführt, um zu zeigen, daß unser Kontinent schon einmal eine Krise des Lesens durchmachte, eine derartige Kulturkrise somit nicht unmöglich ist, ja über Nacht kommen kann.
Sie werden, meine sehr geehrten Damen und Herrn, sagen, dies sei ja wohl alles richtig, aber ür unsere Zeit nicht interessant, denn wir seien himmelweit von jeder Krise des Lesens entfernt und stünden absolut vor keinem Ende des Lesezeitalters.
Nun, meine Damen und Herren, stelle ich eine Behauptung auf, die sofort Ihren heftigen Widerspruch finden wird. Denn ich behaupte zwar nicht, daß wir vor einem Ende des Lesezeitalters stehen, wohl aber uns innerhalb einer schweren Krise des Lesens befinden, des Buchlesens allerdings, einer Krise, die, wenn sie nicht behoben werden kann, möglicherweise sogar zu einem Ende des Buchlesezeitalters hinführen könnte. Sie werden jetzt, meine verehrten Anwesenden, sagen, daß diese Behauptung ganz falsch sei und dabei als Beweis auf die heute herrschende große Konjunktur des Buches hinweisen. Tatsächlich befinden wir uns im Mittelpunkt einer Massenproduktion von Büchern innerhalb des deutschen Sprachraumes. Noch nie wurden in diesem Raum derart viele Bücher hergestellt wie jetzt. Die Frankfurter Buchmesse zeigt alljährlich 8000 bis 12.000 Neuerscheinungen. Wir befinden uns aber nicht nur in einem Zeitalter der Massenerzeugung von Büchern, sondern auch in einem Zeitpunkt des Massenabsatzes von Büchern. Noch nie wurden soviel Bücher wie jetzt gekauft. Im Zeitalter des Aufstieges der Massen scjjeint das Buch auch die Massen zu erobern. Dennoch darf diese Konjunktur noch nicht überschätzt werden. Das deutsche Institut für Volkstumsfragen hat durch eine Rundfrage vor kurzem festgestellt, daß jeder zweite Erwachsene in der westdeutschen Republik überhaupt kein Buch besitzt.
34 Prozent haben überhaupt noch nie ein Buch gekauft.
44 Prozent bekannten, daß sie noch nie ein Buch gelesen hätten, während 80 Prozent der Befragten erklärten, ständig Illustrierte und 90 Prozent erklärten, ständig Zeitungen zu lesen. Der durchschnittliche Umfang einer Privatbibliothek stellte sich bei jenen Befragten, die überhaupt Bücher besitzen, auf 40 bis 50 Bücher.
Die derzeitige Konjunktur hat eine besondere kaufmännische Bedeutung für das Buchgeschäft. Jeder Sortimenter weiß zu berichten, wie sehr der Aufschwung im Buchhandel damit zusammenhängt, daß das Buch, heute viel weitgehender als früher, als Geschenk verwendet wird. Es ist vielleicht vom geistigen Standpunkt aus tragisch zu sehen, eine wie weitgehende Eingliederung der Buchproduktion in die Geschenkmittelindustrie heute erfolgt ist. Es ist tragisch, dies zu sehen, weil die Bücher nur zu oft den gleichen Rang wie Bonbonnieren oder Parfümeriewaren einnehmen, somit Verlegenheitsgeschenke sind, die man gibt, weil einem in der allgemeinen Phantasielosigkeit nichts Besseres einfällt. Diese Heranziehung des Büches in so weitem Maße zum Geschenk ist kaufmännisch für Sortimenter und Verleger nicht zu verachten. Denn wer ein Buch schenkt, will meistens damit einen guten Eindruck erwecken, und das kann man oft nur, wenn man ein wertvolles Buch schenkt. Ein wertvolles Buch ist aber der Ansicht vieler Menschen nach ein preislich teures Buch, und deswegen erstehen sie zu Geschenkzwecken Bücher, die sie sich persönlich nie kaufen würden, weil sie eine solche Ausgabe als eine Fehlinvestition ansehen würden. Die großen Bildbände und Kunstbücher profitieren besonders vön dieser Hebung. '
Aber mit dieser weitgehenden Eingliederung der Buchproduktion in die Geschenkmittelindustrie sind zwei Erscheinungen verbunden, die sehr bedauerlich sind: erstens spielen sich jetzt schon fast 70 Prozent des Buchgeschäftes um Weihnachten ab, und fast jeder Verleger ist gezwungen, nur im Hinblick auf das Weihnachtsgeschäft zu produzieren. Ein Zustand, der absolut ungesund ist. In der übrigen Zeit müssen sich die Sortimenter bemühen, mit Brotgeschäften, wie Verkauf von Schulbüchern, Reiseführern, Ansichtskarten, Landkarten, Fachbüchern usw., ihr Geschäft aufrechtzuerhalten. Und zweitens ist mit dieser Tatsache noch etwas verbunden, was man vielleicht als „Novitätenfimmel“ bezeichnen könnte, der jedem Verleger und noch mehr dem Sortimenter bekannt ist. Dieser Novitätenfimmel besteht darin, daß der Käufer zu Weihnachten immer nur „neueste“ Ware verlangt, das heißt Bücher, die sozusagen erst in dieser Saison, in diesem Herbst erschienen sind, und alle älteren Bücher, und möchten sie noch so wertvoll sein, als überaltert ablehnt. Das hat für den Verleger wieder die Rückwirkung, daß er sich nur schwer entschließt, gute Werke neu aufzulegen und daß er anderseits dauernd erpreßt wird, neue Werke zu produzieren. Womit verbunden ist, daß er dauernd nach neuen Autoren angelt. Wo sich deshalb nur irgendwo ein Talent zeigt, wird es schon eingefangen, aufgepäppelt und muß nun produzieren, ob es will oder nicht. Das Ende dieser jungen Männer und Frauen kommt meist sehr bald. Ihr noch frühes Talent wird überfordert durch die hohen Preise der sich gegenseitig konkurrenzierenden Verleger, zu denen noch Radio und Filmgesellschaften treten, aufgepeitscht und bald zerstört. Obwohl einmal Rilke gesagt hat, man solle ja nicht zu früh publizieren, übersehen sowohl junge Autoren und Verleger zu beider Schaden diese Warnung.
Dieser Novitätenfimmel hat außerdem die Apparate. der meisten Verlags,, s. ?X4lą,ij f- gebl.äht, daß sie. produzieren müssen, ob sie wollen oder nicht. Denn wenn sie ein -Jaht unter einer bestimmten Menge von Büchern produzieren würden, könnte es nur zu leicht geschehen, daß ihre Apparate leerlaufen und unrentabel sind, Manuskripte müssen deshalb her, koste es, was es wolle.
Es gibt heute praktisch nur noch vier Institutionen, die es noch wagen, sich mit alten Titeln abzugeben: das sind einmal die pocket-books, die zu 90 Prozent nur alte Titel aufnehmen, ferner die Buchgemeinschaften, dann die Antiquariate und schließlich noch die Verramschfirmen.
Aber ich fürchte, meine sehr verehrten Anwesenden, daß Sie langsam ungeduldig werden, weil ich scheinbar noch immer nicht zum Thema spreche.
Was ich bisher ausführte, werden Sie sagen, waren nur Beweise dafür, daß die Produktion der Bücher in einem unerhörten Aufschwung begriffen ist, daß immer weitere Kreise sich für das Buch interessieren und auch Bücher erwerben, daß diese Produktion, wie oft in solchen hektischen Situationen, ihre schiefen Lagen mit sich bringt, aber von einer Krise, einem Ende eines Lesezeitalters sei dagegen nichts, aber auch schon gar nichts zu bemerken. Und doch bleibe ich bei meiner eingangs aufgestellten Behauptung, daß es inmitten des deutschen Sprachraumes zwar keine Krise der Produktion gibt, noch nicht gibt, wohl aber eine Krise des Lesens. Wohl ist es richtig, daß unendlich viel mehr Menschen als früher Bücher kaufen und lesen. Aber bei einer ganz bestimmten Schicht, einer sehr ausschlaggebenden Schicht gibt es eine Krise des Lesens: bei einer Kernschicht allerdings, beiderlntelligenz. Also bei jener Schicht, der die Lehrer, Professoren, Aerzte, Priester, Architekten, Ingenieure, Künstler, Journalisten, Beamten usw. angehören. Sofort, meine sehr verehrten Anwesenden, wird jetzt Ihr Protest laut. Sie können mit Recht darauf hinweisen, daß die Angehörigen all dieser angeführten Berufe ununterbrochen lesen. Die Aerzte ihre Fachbücher und -Zeitschriften, die Gelehrten ebenso, die Priester teilweise ebenso usw. Das ist scheinbar richtig. Was aber, so lautet jetzt die Frage: Was lesen alle die Angehörigen dieser Schicht heute neben ihrer beruflichen Literatur, aus freiem Willen, weil einfach das Buch ein Bestandteil ihrer Kultur ist? Bei Beantwortung dieser Frage werden sie auf ein großes Vakuum stoßen. Denn dasLesenalseinTeildeskulturel- len Daseins verschwindet bei der Intelligenz. Ja, und jetzt werden Sie sofort mit den Argumenten kommen, warum dies so sei: Erstens liest man genug beruflich, man kann daneben, sozusagen als Luxus, nicht mehr lesen. Schön, dann dürfte man aber auch nie ein Festmahl zu sich nehmen, nur weil man täglich essen muß. Außerdem, heißt der zweite Einwand, wer könnte denn das alles lesen, was jetzt erscheint. Nun, das verlangt wirklich niemand, hat nie jemand verlangt und wird nie jemand fordern. Denn es ist menschlich ausgeschlossen, daß jeder die 12.000 jährlichen Neuerscheinungen liest. Aber — man geht doch auch nicht in jedes Theaterstück, nicht in jedes Konzert, nicht in jeden Film, nicht in jede Ausstellung, sondern nur in jene, die einen interessieren. Warum kann man dann nicht jene Bücher lesen, die einen interessieren, neben allen, die man beruflich lesen muß? Ja, gehen die Einwände weiter, wer hat heute noch von uns gejagten Menschen Zeit, Bücher zu lesen? Dies ist vielleicht einer der perfidesten Einwände. Denn Zeit, wenn wir wollen, haben wir immer. Die Neurologen sagen jetzt \schon, daß die Langeweile ihnen viel mehr zu schaffen mache als alle anderen Nöte der Menschen. Wenn die heutigen Menschen überhaupt keine Zeit hätten, dann könnten sie doch auch nicht stundenlang auf Fußballplätzen sich herumtummeln, dann dürften sie doch auch nicht ins Theater, in Konzerte, ins Kino, in Ausstellungen, in Vorträge gehen, in alle anderen Spielarten der Kultur. Dann dürften sie doch nicht stundenlang auf Bällen tanzen — wobei gar nichts gegen das Tanzen gesagt ist.
Machen Sie einmal einen Test.
Beobachten Sie während einer Reise, wieviel Reisende im Zug ein Buch lesen. Es ist immer eine verschwindende Anzahl. Wenn die Reisenden schon etwas lesen, dann sind es Illustrierte. Die meisten dösen dahin oder frönen der großen Leidenschaft aller Reisenden, dem Essen, oder erzählen einem Unbekannten ihre Lebensgeschichte oder sehen sich die Landschaft an. Hier, in den Zügen, zeigt es sich, daß die heutigen Menschen Zeit zum Lesen hätten, aber das Buch für sie nicht mehr interessant ist. Erinnern Sie sich an die Zeit bis 1915, damals hatten wir auch alle kaum Zeit, weil es einfach in dem Wesen der totalitären Regime liegt, dem Menschen keine Zeit zu lassen, damit er nicht zu sich kömmt. Wie hatten wir damals aber alle Zeit, Bücher dennoch zu lesen? Ebenso ist es heute in den Ländern östlich des Eisernen Vorhanges.
Nur zu oft sagen heute die Menschen, die zur Intelligenzschicht gehören: Wir haben keine Zeit für Bücher, und sagen damit etwas sehr Wahres. Sie haben nämlich Zeit, oft sehr viel Zeit, aber für Bücher haben sie keine mehr. Sicherlich hängt diese Krise des Lesens auch mit der Hinwendung unserer Zeit zum Visuellen zusammen. Unser tägliches Leben, diese Lichtreklamen, diese Lichtzeichen der Autos erziehen ja immer mehr zum Visuellen. Das Kino und das Fernsehen erziehen ebenfalls zum Visuellen. Wir lesen einen Roman nicht mehr in Form eines Buches, sondern in Form eines Films, was uns außerdem die Möglichkeit gibt, Zeit zu sparen, denn einen Roman wie Werfels „Bernadette" oder „Vom Winde verweht" oder „Krieg und Frieden" waren doch immerhin Bücher, für die wir ein bis drei Wochen benötigten, während der Film es uns ermöglicht, diese in zwei, höchstens vier Stunden zu „lese n". Wir müssen aber hier die Frage aufwerfen, ob die Zeit uns zum Visuellen drängt oder ob wir es sind, die das Visuelle immer stärker in unser Leben hereinnehmen. Die technische Entwicklung fördert, wie schon erwähnt wurde, den Zug zum Visuellen, anderseits sind aber wir es, die die technischen Errungenschaften unserer Zeit immer weiter ausbauen. Hinter diesem Zug zum Visuellen steckt ja etwas ganz anderes: wir sehen es beim Beispiel Buch und Film. Beim Lesen müssen wir unsere Phantasie anstrengen, beim Film nicht mehr. Es wird uns alles vorgekaut. Wir werden phantasieloser, das heißt, geistig ärmer. Tatsächlich stellt noch jede Epoche, die das Visuelle in den Vordergrund stellte, einen Rückschritt im Denken dar. Deshalb gehen so viele weg vom Lesen eines Buches, weil es nur dann zerstreut, wenn der Leser sich sammelt und denkt, wozu er aber heufe oft zu bequem ist.
Den einzigen Nutzen von dieser Hinwendung zum Optischen haben auf der Buchseite die Schaubücher, die Bildbände, bei denen das Wort nur noch ein Vor wort im wirklichen Sinn ist, oder die Schrift zu einer B e schriftung herabsinkt. Immer mehr Bildbände verlassen die Produktionsstätten der Verleger und finden auch immer mehr Absatz. Denn sie alle befriedigen das visuelle Bedürfnis des heutigen Menschen und geben ihm, der immer glaubt, keine Zeit zu haben, die Illusion, ein solches Buch in einer halben Stunde durchblättern zu können und es dadurch gelesen und gleichzeitig keine Zeit vergeudet zu haben.
Neben dem Haupteinwand des heutigen Menschen gegen das Lesen, daß er nämlich keine Zeit dazu habe, gibt es noch andere Argumente, die immer wieder in die Debatte geworfen werden. Da heißt es oft: Ich habe ja gar keinen Platz in meiner Wohnung für eine auch noch so bescheidene Bibliothek. Tatsächlich, in jenen Wohnungen, die heute gebaut werden, scheint kein Platz für — Kinder und Bücher zu sein. Aber stimmt dies wirklich? Hatten in anderen Zeiten die Menschen nicht noch kleinere Wohnungen als heute und doch eine Menge Kinder? Einfach deshalb, weil sie Kinder haben wollten. Aehnlich liegt der Fall bei Büchern. Wer die oft so häßlichen Möbel in den Wohnungen sieht, die noch dazu ganz unnütz sind, und anderseits weiß, daß eine Bücherstellagc für 40 Bücher nur ein Meter breit mit drei Fächern sein muß, der steht auch diesem Einwand skeptisch gegenüber. Wie schön ist dagegen in einem kleinen Zimmer eine Wand, die ganz von einer Stellage mit Büchern eingenommen wird, wieviel schöner ist noch ein Zimmer, ein kleines Zimmer, das längs der Wände Bücherstellagen besitzt. Diese Stellagen sind viel billiger als andere Möbel und viel schöner. Außerdem kann man auf solchen Stellagen leicht 4000 Bücher unterbringen.
Ein anderer Einwand, der oft gehört wird, ist: man habe kein Geld für Bücher, sie seien zu teuer. Das stimmt auch nicht mehr. Denn diese billigen pocket-books, die heute nicht nur Literatur, sondern weite Teile des Wissens umfassen, sind so billig, daß jeder sich diese Form von Büchern erstehen kann. Aber außerdem hört man den Einwand gegen die teuren Bücher sehr oft von Menschen, die im Besitze wertvoller Kameras sind un'd viele, viele Aufnahmen machen, die Roller oder Autos haben, die weite Reisen machen, die herrliche Langspielplatten besitzen. Nicht daß dies schlecht wäre. Ganz und gar nicht. Aber wenn sie für diese an sich schönen Dinge Geld haben, dann können sie nicht sagen, daß die Bücher für sie zu teuer sind.
Wir haben keinen Platz für Bücher, wir haben kein Geld für Bücher, wir haben keine Zeit für Bücher. Sie sind aus unserem kulturellen Leben verschwunden oder im Verschwinden. Natürlich liest die Intelligenzschicht enorm, aber sie liest diese vielen Bücher als Handwerkszeuge für Ihr tägliches Managerleben. Und selbst hier gilt leider auch oft das Wort, das der berühmte Schweizer Jesuit P. Gutzwiller vor zwei Jahren in Einsiedeln sprach: Wer von uns liest ein Buch noch ganz durch? Sie liest sie nicht mehr als einen Teil ihres kulturellen Daseins. Für diese Art von Kultur haben schon viele der heutigen Intelligenzschicht keine Zeit mehr, einfach, weil ihnen der Sinn für diese Art Kultur abhanden gekommen ist, weil irgendwo, und hier sind wir im Kern der Krise, der Eros zum B u c h' nicht mehr vorhanden ist. Es ist eine bedenkliche Krise. Sie ist, es sei nochmals erwähnt, was eingangs gesagt wurde, eine Krise, die auf die Weite des deutschsprachigen Raumes beschränkt ist.
Denn die romanische Welt kennt diese Krise nicht, in Frankreich, in Italien, in Spanien, in allen diesen Ländern wird enorm gelesen, und nicht, weil vielleicht das Lesen zur Verbesserung des täglichen Handwerkszeuges gehört, sondern als Teil eines kulturellen Lebens. Aber nicht nur die romanische Welt kennt diese Krise nicht, auch Holland und Belgien kennen sie nicht. Die Menschen dieser Länder sind aber ebenfalls gehetzt, sie haben nur teilweise mehr Geld als wir und teilweise eine noch größere Wohnungsnot als wir. Und ebenso kennt, aus ganz anderen Gründen, die Welt jenseits des Eisernen Vorhanges diese Krise nicht. Auch hier wird gelesen, soviel man kann, obwohl auch dort die Menschen, gar die Angehörigen der alten Intelligenz, nur wenig Zeit, gar kein Geld und so gut wie keinen Wohnraum besitzen.
Es ist eine gefährliche Krise, die nur verdeckt durch die enorme Konjunktur sowie durch die Gewinnung weiter neuer Leserschichten ist. Sie ist gefährlich für die Kultur überhaupt, wie für uns Verleger und Sortimenter. Denn wenn nicht immer neues Leben durch Lesen in die Schicht der Intelligenz geschüttet wird, wird sie eines Tages keine neuen Bücher mehr produzieren. Wer nichts bekommt, kann nichts geben. Nur durch ein ununterbrochenes Bereichertwerden kann man Reichtum wieder austeilen.
Es ist eine gefährliche Krise. Daß sie nicht notwendig ist, zeigt das Beispiel Westeuropas. Sie kann behoben werden. Das Wie aufzuzeigen ist nicht mehr Aufgabe dieses bescheidenen Vortrages. Er sollte nur den Finger auf eine Wunde legen, die schwer, aber nicht unheilbar ist.