"Wir schlagen die Welt auf wie ein Buch"

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Wendelin Schmidt-Dengler, Vorstand des Instituts fürGermanistik der Universität Wien und Leiter des Österreichischen Literaturarchivs,über das Lesen in Zeiten derWissensgesellschaft.

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Wendelin Schmidt-Dengler, Vorstand des Instituts fürGermanistik der Universität Wien und Leiter des Österreichischen Literaturarchivs,über das Lesen in Zeiten derWissensgesellschaft.

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die furche: Herr Professor Schmidt-Dengler, haben Bücher im Zeitalter von Internet und Fernsehen überhaupt noch eine Zukunft?

Professor Wendelin Schmidt-Dengler: Ich halte die Behauptung, dass die Medien das Buch ersetzen sollen, für einen Terror. Für einen Terror, der verbreitet wird, so, als ob etwas klaglos ersetzt werden könnte. Mag sein, dass diejenigen Menschen, die Bücher lesen, zahlenmäßig zurückgehen. Auf der anderen Seite steigt Jahr für Jahr die Buchproduktion geradezu ins Unermessliche. Die Schere, in die wir da geraten, gibt natürlich zu denken. Ich glaube aber, dass das Lesen und das Lesen im Buch durch nichts ersetzt werden kann.

Erstens: Schon die optischen Qualitäten eines Bildschirms sind noch lange nicht so, dass sie die eines Buches ersetzen können. Auch die Transportierbarkeit des Buches ist noch ganz anders die Transportierbarkeit eines Bildschirms. Und - die gedruckte Schrift entspricht einfach unserer menschlichen Existenz auf einer ganz anderen Weise als der Bildschirm.

Zweitens: wenn man generell über das Lesen spricht, muss man sagen, dass es sich hier um eine fundamentale Kategorie menschlichen Handelns handelt, um die wir nicht herumkommen.

Denken wir doch zurück. Es hat die sogenannten "Dunklen Jahrhunderte" gegeben, wo nur ganz wenige Menschen lesen und schreiben konnten. Die griechische Sprache ist noch durch 13 Gelehrte nach Griechenland transportiert worden! Wenn man sich anschaut, wie das überlebt hat, was das Griechentum uns hinterlassen hat, so spricht das doch gegen jede Theorie des Verfalls!

die furche: Gemäß einer Studie des Publizistikinstituts an der Universität Wien greifen mehr als 50 Prozent aller Österreicher ab dem 14. Lebensjahr nicht oder nur selten zu einem Buch. Lässt sich das Interesse fördern?

Schmidt-Dengler: Natürlich kann man es nur bei jenen fördern, die sich auch fördern lassen. Das Schöne ist ja, dass man zum Buch niemanden zu zwingen braucht. Ich halte es für völlig verfehlt, wenn man Menschen, die erwachsen sind, mit Gewalt an den Büchertisch hinbringen will. Die können damit einfach nichts anfangen! Das ist genauso, wie wenn man jemanden zwingt, Schi zu fahren. Wenn er das nicht tun will und lieber spazieren geht, dann soll er spazieren gehen.

Ich glaube, das Schöne am Lesen ist die Freiheit der Entscheidung, und auf dieser Freiheit möchte ich beharren. Fördern kann man es natürlich, indem man die Bücher billig hält, indem man die Bücher so hält, dass sie verfügbar sind und indem man auch ein vernünftiges Gespräch darüber führt. So ein Gespräch regt auch diejenigen an, die zum Beispiel naturwissenschaftlich oder mathematisch begabt sind, aber durchaus auch gerne zu Literatur greifen. Man soll diejenigen als Leser fördern, die auch lesen wollen. Und da gibt es immer noch genug!

die furche: "Das Buch kann die Welt nicht ersetzen. Im Leben hat alles seinen Sinn und seine Aufgabe, die von etwas anderem nicht restlos erfüllt werden kann", so Franz Kafka. Wo kann Literatur im Zeitalter der Wissensgesellschaft ansetzen? Wo ist sie von Nutzen?

Schmidt-Dengler: Ob etwas von Nutzen sein muss, ist ja auch eine Frage, die man sich stellen kann. Kann ich nur alles, was ich sehe, auch nach seinem Nutzwert bestimmen? Natürlich kann das Buch die Welt nicht ersetzen. Aber die Welt kann auch das Buch nicht ersetzen, um Franz Kafka pointiert umzudrehen.

Das Lesen ist ja auch eine Form der Weltaneignung. Das heißt: Ich lerne die Welt durch Lesecodes dechiffrieren. Wir schlagen die Welt so auf wie ein Buch. Und damit wir das können, ist es vorher ganz gut, wenn wir die Sandkastenübung in der fiktionalen Literatur hinter uns bringen und immer wieder lesen. Es mag sein, dass sich im Alter dieser schöne Schein, den die Literatur erzeugt, sich eben als Schein erweist. Aber - und das kann ich mit meinen Jahren bestätigen - wir kehren immer gerne zu diesem schönen Schein zurück.

Ich glaube doch, dass die fiktionale Literatur sehr viele Lösungsmodelle enthält. Denken Sie an die Dramen Shakespeares, die unverbraucht bis heute wirken. Denken Sie an Goethes oder Hölderlins Gedichte, oder denken Sie an einen Roman von Balzac, oder meinetwegen an James Joyce. Wenn man das wegwirft, dann verzichtet man auf einen Teil von Welterfahrung, der auch durch eine noch so kompetente Informationsgesellschaft nicht ersetzt werden kann.

Ich glaube, Literatur sagt etwas, was die anderen nicht sagen können. Das haben Leute wie Albert Einstein und Robert Musil, die sich in der Naturwissenschaft sehr gut auskannten, immer wieder bestätigt.

die furche: Also handelt es sich hier um eine, sagen wir, Zeitlosigkeit der Literatur?

Schmidt-Dengler: Natürlich gibt es Dinge, die dem historischen Wandel unterworfen sind, und es ist immer sehr gut, sich der historischen Position eines Textes zu versichern. Aber es überrascht mich, dass so etwas wie die Qualität eines Textes immer noch große Faszination ausübt. Denken Sie an Homer, der schon über 2.500 Jahre währt. Es kann natürlich sein, dass er eines Tages verschwindet. Alles wird einmal verschwinden! Aber 2.500 Jahre! Das ist ganz ein schönes Kontinuum. Zeitlosigkeit? Das Schöne an der Literatur ist, dass wir dadurch die Zeit auch erfahren, indem wir eben sehen, wie so ein Text sich in einem bestimmten Sozialgefüge, in einem bestimmten Weltbild verhält, und wie plötzlich Dinge verschwinden und dann in einer ganz überraschenden Wendung wieder aktuell werden. Das ist also nie so, dass etwas tot oder abgeschieden ist. Das ist ja auch das Entscheidende in der Kunst. In der Kunst gibt es nicht diesen simplen Fortschritt, dem jeder Hersteller von Software unterliegt. Der muss ständig etwas Besseres produzieren.

Ich kann mir kaum vorstellen, dass es viel bessere Gedichte gibt als etwa die Frühgriechische Lyrik. Trotzdem haben viele andere noch Gedichte gemacht, die ebenso zu den besten gehören, ob man jetzt Shakespeares Sonette nimmt, oder Baudelaires Gedichte: Das sind alles Dinge, hinter die man nicht zurückfallen kann! Und Kafkas Texte bedeuten auch einen entscheidenden Punkt in der Literatur, aber sie töten deswegen ja Vergil nicht unbedingt, obwohl es natürlich auch solche Theorien gibt, die sagen, dass ein Werk das nächste auffrisst. Das ist meiner Meinung nach etwas zu sehr vom ödipalen Standpunkt her geprägte Theorie, dass jeder Dichter der Mörder seines Vorgängers ist.

die furche: Die Schere von Lesern und Nichtlesern klafft auseinander. Welche Entwicklungen wird es hier in Zukunft geben?

Schmidt-Dengler: Also ich glaube daran, dass es zumindest in den nächsten Jahrzehnten eine Gesellschaft geben wird, die mit dem Buch aufwächst, die sich mit dem Buch identifiziert, die das Buch herstellen will, die mit dem Buch lebt und die immer wieder ihre Informationen aus dem Buch beziehen wird. Auf der anderen Seite steht eine Gesellschaft, die glaubt, dass sie alles, was es gibt, im Internet finden kann. Das heißt, diese Gesellschaft insgesamt wird sicher auseinanderklaffen.

Ich glaube auch an folgendes: Es wird eine Gesellschaft geben, die darauf aus ist, das zu finden, was nicht auf dem Datahighway zu haben ist, sondern versteckt entweder in den Archiven lauert oder - wie soll ich sagen - als kostbare Gabe in Gestalt des Buches von Hand zu Hand gegeben wird. Das Buch wird meiner Einschätzung nach gerade in der Informations- und Internetgesellschaft einen ganz neuen Stellenwert bekommen, nämlich den des Raren, den des Besonderen, den des Einmaligen. Es wird also durchaus nicht zu einer Abwertung des Buches kommen, sondern vielmehr zu einer Aufwertung.

In einer globalisierten Gesellschaft wird sich dann der Hölderlinleser in Argentinien mit dem Hölderlinleser in Sibirien verständigen können. Vielleicht auch mit Hilfe von elektronischen Medien. Aber das wird eine Verständigung sein, die außerhalb der von uns so angepriesenen Informationsgesellschaft liegt.

Das Gespräch führte Christine Weeber.

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