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Bauen — ein menschliches Problem

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Ich will jetzt nicht von den verschiedenen Stilen sprechen, das ist für mich recht abstrus geworden in den letzten 35 Jahren. Was mich interessiert, ist, daß es zwei polare Strömungen gibt in einem menschlichen Hirn.

Die eine Strömung bewertet besonders das Gewohnte und hergebracht Bewährte, und ich schlage vor, sie hier weniger als eine moralische, sondern mehr als eine physiologische Angelegenheit und Notwendigkeit einzuschätzen. Sie ist schon bei den Tieren genau zu verfolgen und experimentell zu demonstrieren. Das Gewohnte ist etwas — ich will hier nicht sagen Ehrenwertes — nervlich Konstituierendes. Ob man das nun etwas unscharf Tradition nennt, englische, spanische oder japanische, ist gleichgültig. Manches davon ist in Wahrheit mehr intakt als anderes. Ich war in den letzten Jahren allein dreimal in Japan, und es gibt in diesem Inselland wirklich noch eine Kultur — auf dem Rückzug, aber noch lebend —, trotz der beiden letzten Generationen mit ihrem Zivilisationsimport. Da ist also, naturgemäß und rein psychologisch, etwas, was wir respektieren müssen an Leuten, die — innerlich bedingt — etwas tun wollen, was sie vorher getan haben oder was sie vor sich sahen, als sie Kinder waren. Dies zu verachten, zu bestreiten oder sich deswegen in schlecht erwogene Scharmützel und Gefechte einzulassen, ist sehr gefährlich, wenn jemand seinen Weg als Architekt finden will. Zuerst müssen wir einmal verstehen, daß so etwas wie Beharrlichkeit naturgemäß existiert und vom Architekten in der einen oder anderen Form gütig und verständnisvoll behandelt werden muß. Die Behandlung wird vielleicht mehr in Takt bestehen als in der Imitation des für immer Dahingegangenen.

Die andere ebenso natürliche polare Strömung ist die, welche das Gewohnte zum Abbruch bringen will und sich mit einer neuen Konstellation von Umständen durch Anpassung auseinandersetzt. Daß dies Hinwegfinden vom Gewohnten erst heute oder im letzten Jahrhundert aufgekommen sein soll, wäre eine lächerliche Auffassung. Es ist eine Angelegenheit und ererbte Tendenz von vielen Millionen Jahren.

Die Fähigkeit der Anpassung an neu auftretende Erfordernisse hat nicht nur mit dem Nervensystem zu tun, sondern mit dem ganzen Organismus. Zudem zeigen wir gelegentlich Ermüdungserscheinungen unter gewissen Umständen von Wiederholung und Unveränderlichkeit und haben eine Tendenz, das Bestehende von selbst abzubrechen und durch eine neue Situation abzulösen.

Um eine Veränderung herbeizuführen, wirft sich jemand unter pathologischen Umständen im Bett herum und ändert fortwährend seine Lage. Revolutionen, Reformationen usw. füllen ja die ganze Menschheitsgeschichte aus und sind etwas, was physiologisch ganz elementar begründet scheint. Diese schwerwiegenden Ereignisse des Abbruchs und der Erneuerung haben etwas mit Ermüdungserscheinungen zu tun, die eben ganz wesentlich organisch sind. Das ist nun, ebenso wie Konservatismus, eine Sache, die der Architekt auch zu würdigen verstehen muß, besonders, da er ja für lange Amortisationsperioden schafft.

Das Postulat, daß man den Menschen kennen muß — das „Kenne dich selbst“ —, ist ein Vorschlag, der von den Philosophen für Jahrtausende gemacht wurde, und zwar nicht nur von Sokrates oder Thaies. Ich nehme sicher an, daß Thaies das irgendwie von den alten indischen Philosophen gestohlen hat. Diese uralte Vorschrift des Menschenkennens wird aber neu erleuchtet von tausend physiologisch-biologischen Referaten jährlich. Gute Architekten haben zu allen Zeiten die laufenden wissenschaftlichen Errungenschaften zu begreifen versucht. Und heute müssen wir wohl die neue Erkenntnis des Organischen, von Sinnen- und Gehirnfunktionen, ernst nehmen.

. Außerdem glaube ich auch, daß man sich gewissermaßen in alle Klienten verlieben muß, nicht nur in die weiblichen, die ein Heim wünschen, sondern auch in die Verwaltungsräte, die Generaldirektoren und sogar in die Bankiers und Bauinspektoren, die wie Klienten unsere schöpferischen Mitarbeiter zu sein versprechen. Manche von all diesen Leuten sind auf den ersten Blick nicht sehr attraktiv. Aber Sie kommen ihnen langsam näher; und wenn Menschen merken, daß Sie tatsächlich ein verständnisvolles, sensitives Interesse an ihrer besonderen Art und ihren Problemen zeigen, dann fangen sie an, Sie lieb zu gewinnen. Und wenn sie das tun, dann treibt verdienterweise die kleine Pflanze des Vertrauens zu wundervollen tropischen Dimensionen, so daß Sie, ganz unabhängig von dem Etat, verschiedene Dinge so tun können, daß dauerndes Glück aufblüht. Vom Vertrauen vereinigt, finden Architekt und Klient zusammen tiefste Befriedigung.

Der Architekt ist ein Mann, der Vertrauen gewinnen muß, genau s6 wie zum Beispiel der Arzt. Der Arzt, der Sie operiert, verlangt einen Betrag von Vertrauen, der im täglichen Leben ungewöhnlich ist. Das gilt fast genau so für den Architekten, obgleich keine Anästhesie angewandt wird, bevor die Operation beginnt. Wenn jemand zu Ihnen kommt und eine Investition für dreißig bis vierzig Jahre machen will, vielleicht alles Geld sogar borgt und sich verschuldet und zum Sklaven dieser langwierigen Angelegenheit wird, und bei all dem es Ihnen überläßt, daß Sie so vielerlei für ihn tun sollen, dann ist es natürlich ein unerhörtes Vertrauen, das er in Sie steckt.

Wo jetzt noch Natürlichkeit daheim ist, scheint mir eine offene Frage. Die Menschen

ändern ihre selbstkonstruierte, fabrizierte Umgebung, ihr „Habitat“ (das ist der zoologische Ausdruck für die nähere Umwelt, in der ein Organismus gedeiht), mit einer ungeheuren Geschwindigkeit — in den letzten zwei Jahrzehnten mit einer viel größeren Geschwindigkeit als in den letzten zwei Jahrhunderten, und da wieder viel schneller als in den letzten zwei Jahrtausenden.

Die Leute fürchten sich heute ganz besonders vor Wasserstoffbomben. Aber wir erzeugen und vertreiben eine große Menge anderer patho-gener Objekte, die die Menschheit rasch in eine organisch-antiorganische und biologisch nicht tragbare Situation bringen. Wir tun dies ganz offen und ohne Einspruch der Polizei. Aber es scheint den Legislativen der Welt nicht bekannt zu sein, daß es Millionen von Giften gibt, die nicht geschluckt werden müssen, um ganz abscheulich wirksam zu werden. Wir wissen heute, daß wir nicht, wie Aristoteles glaubte, nur fünf Sinne haben, sondern Millionen von sensorischen Aufnahmemöglichkeiten, die wir dauernd mit giftigen Stimulationen von Artefakten umgeben sehen, ob sie nun geräuschweise oder visuell oder von irgendeiner anderen Art sein mögen.

Der Gestalter des konstruierten Milieus, und das eigentlich ist der Architekt, ist also im Grunde nicht ein Kind, das mit Formen, Farben oder Materialien herumspielt, sondern er ist wenigstens zum Teil verantwortlicher Erwachsener, ein Mann, der hinter der Szene sitzt und dort, wie an einem prekären Schaltbrett, alle diese Stimulationen ein- oder ausschaltet, die unsere innere Balance entweder stören oder fördern.

Der Mensch ist eine Einheit, sein Leben ein vielfaches und doch völlig geeinigtes Bündel von fortlaufenden Prozessen, in dem alles psychosomatisch zusammenarbeitet — der Architekt hat das zu verstehen, dann wächst Architektur aus dem nur photographisch Visuellen zu viel breiterer und tieferer Lebensdeutung.

Wir müssen uns, ganz wie Menschen früherer Tage, auf die Wissenschaft unserer Zeit einstellen, und Sie werden finden, daß vielleicht die aufregendste neue Wissenschaft die Physiologie ist. Es gab ja so etwas schon vor tausend Jahren in den naturwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles. Aber es gibt heute so viele neue Einblicke in organische Notwendigkeiten und die biologische Maßhaftigkeit des Menschen für alle Belange unseres Lebens, daß wir als Architekten, die etwas dafür tun sollen, hier anfangen müssen, uns mit den jetzt laufenden Dingen vertraut zu machen.

Man kann eine Familie in einer Momentaufnahme festhalten und sie in einem Rahmen auf das Cheminee stellen. Aber ein Haus kann man nicht so bauen, als ob es sich um eine Moment-photographie, starr gerahmt, handelte. Diese Familie wächst oder verringert sich an Zahl. Jedes einzelne Mitglied verändert sich, und die Proportionen verändern sich kontinuierlich wie die Macht- und Einflußverhältnisse. Der Kopf eines Kindes ist im Vergleich zum Körper im vierten Jahr viel größer als im vierzehnten Jahr. Das sind alles Dinge, die Leonardo in seinem Buch über Proportionen bereits erwähnt. Er ist nämlich fast der einzige, der damals einen gewissen Verdacht hatte, daß der ganze geometrische Fimmel doch nicht wirklich die Natur erfaßt.

Ueberau gibt es Schwierigkeiten für den Architekten. Die zu überwinden, ist seine Pflicht, und das bewohnbare Land auf unserem Planeten größer zu machen, ist seine Aufgabe.

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