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Akzidentismus

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In unserer Zeit des wissenschaftlichen Denkens gehen alle Traditionen allmählich verloren; es ist kein Grund mehr dafür einzusehen, Gesetze -anzuerkennen, die nicht bewiesen werden können. Dadurch sind solche Begriffe wie Kunst und Schönheit zweifelhaft geworden, die sich nicht einmal definieren lassen. Wer keine Tradition hat, der ist gezwungen, sich seine eigenen Kunstgesetze zu erfinden, die dann ziemlich willkürlich isein müssen. Er muß ihnen moralische oder utilitaristische wissenschaftliche oder mystische Motivierungen zugrunde legen, um an sie selbst zu glauben und den Glauben an sie zu verbreiten.

Solche Regeln müssen, um den nötigen Eindruck zu machen, sehr streng und eindeutig formuliert sein, und keine Abweichungen dürfen zugelassen werden. Die Moral, die ihnen heute zumeist zugrunde liegt, Ist die des Puritanismus, der momentan anscheinend für die einzige anerkannte Tugend gilt, wenn auch sehr wenige Menschen nach ihren Grundsätzen leben. Darum sind diese Kunstgesetze mehr negativ als positiv, vieles ist verboten, aber weniges wird erlaubt. Wenn heute irgendeinem Ding rühmenswerte Eigenschaften zuerkannt werden, so geschieht dies im allgemeinen mit den Worten: stramm, nüchtern, spartanisch; wahrend doch Menschen, die sich durch Eigenschaften auszeichnen, die mit diesen Epitatas charakterisiert werden (besonders des letzteren), keineswegs für erfreuliche Erscheinungen gelten.

Es ist dadurch eine Kunst entstanden, die nicht nur wenig mit unserer wirklichen Lebensauffassung zusammenbängt, sondern geradezu ihr direktes Gegenteil symbolisiert. Während wir hoffen, daß die Kunst der Zukunft eine solche sein werde, an der eine möglichst große Anzahl von Menschen teilnehmen kann, schließen sich nun die Künstler immer mehr in eine Schale ein und scheinen die Kunst als etwas zu betrachten, was nicht mehr zeitgemäß ist.

Der Designer als Dekorateur

Die Architektur, die ja nur mehr !n : sehr wenigen Fällen Kunst isein kann, hat deren gefährliches Gebiet verlassen und dadurch die Möglichkeit gewonnen, sich den neuen Ideen anzupa-ssen. Ihre heutigen Formen sind utilitaristisch bedingt, und die anderen bildenden Künste versuchen es nun, dem Beispiel der Architektur zu folgen und sogar deren Materialien anzuwenden, um am Fortschritt und am Geschäft teilnehmen zu können. Die Kunst will etwas Nützliches werden und weiß nicht wie. Und so sollen nun selbst Industrieprodukte zur Kunst gerechnet werden (da dieser Begriff ja immer unklarer wird), um mit der reinen Kunst eine Einheit zu bilden.

Als Vermittler tritt nun der sogenannte Designer auf, der individuell denkt und darum nicht imstande sein kann, selbstverständliche typische Formen zu erfinden. Er hat heute die Aufgabe, ununterbrochen Neuigkeiten zu erfinden, die für kurze Zeit wohl ihren ästhetischen Wert haben können, den sie aber sehr bald verlieren sollen, um neuen Bedürfnissen Platz zu machen und das ischönheitsdurstige Publikum dazu ermuntern, etwas Neues zu kaufen: der Designer wird Dekorateur.

Die Tätigkeit solcher Modezeichner besteht also darin, funktionelle Formen abzuändem und sie, wenn das nicht möglich ist, zu verkleiden oder zu dekorieren. Das typischste Beispiel ist das populärste technische Produkt unserer Zeit, das Automobil, dessen Form heute ihren Einfluß auf alles Menschenwerk ausübt. Sowohl der Pferdewagen wie auch die Dampflokomotive sind von ihren Erzeugern selbst geformt worden und hatten deshalb ihre selbstverständliche natürliche Schönheit. Die Au-to- moibilkarosserie dagegen ist ein ziemlich willkürliches Gebilde und ihre Form wird nicht allein durch praktische Rücksichten bedingt. Sie wird nach der Mode des Tages ohne ersichtlichen Grund abgeändert. Alle Gegenstände, die auf diese Weise zustande kommen, haben immer etwas Unechtes an sich, da sie von der .selbstverständlichen Form ab- weichen, und eben das ist es, was das Publikum für schön hält. Man denke zum Beispiel .an unsere modernen Eßbestecke. Die Hebung des guten Geschmacks geschieht auf Kosten des Charakters, der durch das Streben nach Formeinheitlich- ke.it immer mehr verlorengeht. Um ihn .zu bewahren und zu betonen, brauchen wir eine deutlichere Scheidung als je zuvor -zwischen Kunstwerk und Gabrauchsgegenstand. Das Kunstwerk ist Selbstzweck und kann nicht dazu verwendet werden, irgend etwas anderes herzustellen oder zu einem bestimmten Zweck verwendet zu werden.

Darum soll unser Wohnzimmer kein Kunstwerk sein, aber wer sich beute ein solches einrichtet oder es sich gar von einem Künstler einrichten läßt, versucht fast immer, ihm jene unveränderliche Harmonie zu geben, die es zu einem Kunstwerk machen soll; um ihn dazu anzuregen, werden ihm eine Menge Vorbilder ,in Zeitschriften und auf Ausstellungen gezeigt, die natürlich aus Gründen der Propaganda immer etwas von Theaterdekorationen an sich haben müssen. Mit Hilfe sogenannter stilreiner Gegenstände und Farbenharmonien wird versucht, etwas zu erreichen, das der Bewohner für schön hält und deshalb als Kunstwerk betrachtet. Er wählt sich sogar Bilder aus, die zu den Farben seiner Tapeten passen .sollen und bildet sich für -diesen Zweck ein, eine Lieblingsfarbe zu haben. Er will sich einen -effektvollen Hintergrund verschaffen und -sonst nichts. Das Wohnzimmer, in -dem man frei -leben und denken kann, ist w-ed-er schön noch harmonisch noch photogen. Es ist auf Grund von Zufälligkeiten entstanden, ist nie fertig und kann alles in sich .aufnehmen, um die wechselnden Ansprüche -seines Bewohners zu erfüllen.

Vom Wohnzimmer zum Architekturprinzip

Ich nehme hier das Wohnzimmer als Beispiel, w-eil ich von ihm aus zu einem Architektur-prinzip kommen will. Das Wohnzimmer ist für uns sozusagen -das Endziel -der Architektur, denn es ist derjenige Bestandteil des Hauses, der uns -am wichtigsten ist; ich finde es deshalb für mehr geeignet, von diesem beweglichen Detail auszugehen und dessen Prinzipien zu erweitern, als den umgekehrten Weg einzuschlagen und das Wohnzimmer als eine Art von Konsequenz eines bestimmten Ar- chitekturstils anzusehen und es -in Einheitlichkeit mit diesem zu formen.

Die Voraussetzungen, die für Wohnzimmer gelten, um sie angenehm zu machen, gelten auch für Häuser, Straßen und Städte, deren gegenwärtige starre Formen ihre Einwohner heiim-a-tlos machen. Diese Starrheit ist nicht durch irgendwelche Notwendigkeiten bedingt, sondern sie beruht -hauptsächlich auf ästhetischen Forderungen, -die darauf binaiusgehen, irgendwelche Prinzipien restlos zu -erfüllen. W-as wir brauchen ist eine weit größere Elastizität, aber keine starren Formgesetze, eine Entmonumentalisierung, ohne deshalb in historische Stile zu verfallen. Diese Stile sind und verbleiben tot. Was ich auf lange Sicht moderne Architektur nenne (also nicht die im ersten Halbjahr 1958 modern war), unterscheidet .sich prinzipiell von jeder historischen Architektur. Das Wesen dieser Stile bestand in der Anwendung plastischer Formen, wie Kapitalen, Gesimsen und dergleichen, -dii-e dem Auge die Statik des Baus erklärten. Harmonie zwischen tragenden und getragenen Bauteilen plastisch darzustellen, wurde für -eine Hauptaufgabe der Architektur angesehen. Diese statischen Symbole waren seinerzeit notwendig, denn ohne -sie fühlte man sich niicht sicher. Für uns sind sie keine Notwendigkeit mehr, denn wer wissenschaftlich denkt, der hat Vertrauen zu -den errechneten Konstruktionen, auch dann, wenn er sie nicht versteht. Mit dem Wegfall dieser statischen Symbole -scheidet die Bildhauerei als wichtiger und organischer Bestandteil der Architektur aus; diese ist nur auf ihre eigenen Mittel beschränkt, das sind die Gruppierungen der Bauteile, und nur mehr durch solche Gruppierungen kann man jene Plastik erreichen, die für das Stadtbild und dessen abwechslungsreichen Ausdruck so wichtig ist. Ich wi-l-l damit nicht sagen, daß dadurch jeder skulpturale Schmuck an Gebäuden unmöglich geworden ist, aber er ist nicht mehr ein organischer Bestandteil, sondern etwas Hinzugefügtes, das den Bau seihst nicht mehr charakterisieren kann; in manchen Fällen wird solcher Schmuck sehr wünschenswert isein, um eine Einförmigkeit zu mildem.

Die drei bildenden Künste sind also heute voneinander getrennt, da es keine Zusammenarbeit im Rahmen der Architektur mehr gibt, wie das zu Zeiten der historischen Stile war. So kann nun jede Kunstart ihren eigenen Weg gehen. Es war früher oft die symbolisierende Bauplastik, also Bildhauerarbeit, die, besonders an Fassaden, deren Architektur erst zu einem Kunstwerk machte. Wir haben keine Möglichkeit mehr, durch derartige Zutaten ein Gebäude, das vorwiegend irgendeinem praktischen Zweck dient, zu etwas zu machen, das einem Kunstwerk nahekornimt. Architektur kann heute nur dann Kunst werden, wenn die Funktion des Baues im Vergleich zur Bedeutung seiner Form sehr einfach ist, wie zum Beispiel ‘bei Kirchen.

Kein neuer Stil

Ein neuer Stil entsteht mit dem Aufkommen einer neuen Ideologie und nicht aus praktischen Gründen. Wir können einen Stil als die Zusammenfassung der sichtbaren Symbole eines Zeitalters definieren, als Symbol eines Glaubens, der, wenn er nicht länger existiert, Aberglauben genannt wird. In den Zeiten der historischen Stile bedienten sich die drei bildenden Kunstarten gleichartiger Symbole und dadurch entstanden Universalstile. Diese sind, je mehr das wissenschaftliche Denken sich ‘entwickelt hat, mehr und mehr verschwunden. Was wir dadurch gewonnen haben, ist die Möglichkeit, ein jedes Ding in seiner eigenen funktionellen und charakteristischen Form herzustellen. Das hat uns eine Freiheit und Mannigfaltigkeit verschafft, wie sie früher weder notwendig noch wünschenswert war. Aber die Menschen fühlen sich in dieser Freiheit nicht recht wdhl, und in unserer Zeit gibt es ja auf allen Gebieten so manchen Rückfall in Aberglauben. Dessen Anhänger sehnen sich wieder nach einem Universalstil, einem Abbild des harmonischen Weltalls, das ein Grundprinzip aller Mystik ist. Sie können sich keine Harmonie vorstellen, in der Monumente und Maschinen nicht formal einander gleichen. Die moderne Architektur war kaum durchgedrungen, als die anderen bildenden Künste, ohne daß hierfür ein sichtbarer Grund vorlag, es versuchten, sich deren Formen anzupassen, um zu der ersehnten Gleichförmigkeit und einem Universalstil zu kommen. Auch alle Gebrauchsgegen- stände sollten gleichgerichtet werden. Das geschah durch ausdruckslose geometrische Formen, die nun die organischen verdrängten. Dadurch wurde mitten in aller Sachlichkeit auf mystischer Grundlage unser dekoratives Zeitalter begründet und die Moderichtungen drangen nun in alles ‘ein.

Ein Vorschlag

Die moderne Architektur hat nicht ihrer Zweckmäßigkeit ihre populären Erfolge zu verdanken. Jedes moderne Haus kann ebensogut -in jedem der historischen Stile ausg-eführt werden, ohne daß seine Brauchbarkeit darunter leiden müßte. Es sind die ‘ n-euen ästhetischen Effekte, verbunden mit den Symbolen unserer Zeit, unseres wissenschaftlichen Denkens, die nun mit Hilfe neuer Materialien und neuer Konstruktionen hergestellt werden können, die so überzeugend wirken. Die moderne Architektur hat -auch ihre Symbole, nur -sind es nicht mehr di-e statischen. Um nur eines der wichtigsten zu nennen, wähle -ich das flache Dach, dessen praktische Vorteile keineswegs immer so bedeutend sind, um so leidenschaftliche Diskussionen hervorzurufen,, wie sie im Kampf um die neue Architektur stattgefunden haben. Aber es ist heute für uns ein Symbol -des wissenschaftlichen Denkens; es schließt das Haus Oben ab, dort, wo seine Funktion ab schließt, ohne die Zutat des unklaren irrationalen Dachbodens mit -seiner Mystik.

Jeder Mensch braucht eine gewisse Menge von Sentimentalität, um sich frei zu fühl-en. Diese wird ihm weg- g-enommen, wenn er -gezwungen wird, an jedes Ding moralische Forderungen zu stellen, zu denen auch die ästhetischen gehören. Was wir brauchen i-st Abwechslung und keine stereotype Monumentalität. Niemand füh-lt sich wohl in einer Ordnung, die ihm aufgezwunge-n wird, wenn sie auch mit einer Sauce von Schönheit übergossen i-st. Was ich darum vorschlag-e, sind nicht neue Regeln und Formen, sondern eine prinzipiell andere Einstellung zur Kunst. Weg mit den Universalisten, weg mit -der Gleichschaltung von Industrie und Kunst, weg mit dem ganzen Ideenkomplex, der unter dem Namen Funktionalismus populär geworden ist. Diesem neuen Architek- tursystem, das das jetzige ersetzen soll, möchte ich nach der Mode unserer Zeit einen Namen geben, der seine Tendenz erklärt. Ich nenne es bis auf weiteres Akzidentismus und will damit sagen, daß wir unsere Umgebung so gestalten sollen, als wäre sie durch Zufall entstanden.

Einförmigkeit aus Ideologie

Alle Stellen, an denen man -sich wohiifühlt, Zimmer, Straß-en und Städte, sind durch Zuf all entstanden. In organisch gewachsenen S-tädten -stehen Gebäude aus allen Epochen in Harmonie nebeneinander. Solches k-ann -gewiß heute nicht erreicht werden, aber ich -bin überzeugt davon, daß die Einförmigkeit nicht aus praktischen Gründen, -sondern auf Grund einer Ideologie entsteht, die nicht -einmal die unsrig-e ist. Die Architaktursymbo-le der Statik, die früher einmal Abwechslung verschafften, existieren nicht mehr. Wir brauchen heute darum andere Mittel, die viel stärker sein müssen, um -bei unserer Massenproduktion von Häusern wirken zu können. Architektur ist Plastik, aber deren Effekte müssen -nun mit architektonischen Mitteln erreicht werden. Der ästhetische W-ert des einzelnen Hauses ist darum heute nicht mehr von so großer Bedeutung, wenn wir ihn auch nicht unterschätzen sollen. Was wir in einer Straße -sehen, -das sind -die Schaufenster und die Silhouette. Darum wird der Städtebau das wichtigste Problem -der Architektur. Was uns Abwechslung verschaffen kann, ist nicht allgemeiner guter Geschmack, .sondern -individualisierender Charakter. Ein Theater muß nicht so aussehen wie -eine Fabrik und -ein Banksaal wie eine Konditorei.

Es ist gewiß ein verführerischer Gedanke, all-es zum Kunstwerk zu „erhöhen”. Aber wir wollen nicht vergessen: Wenn wir auch nicht definieren können, was ein Kunstwerk ist, so gehört es doch zu dessen wesentlichen Eigenschaften, daß es unveränderlich ist und keinem anderen Zweck dienen kann wie dem, betrachtet zu werden. Dadurch stellt es seine Forderungen an die Menschen, und ich glaube nicht, daß man sich auf die Dauer in einer Umgebung wohlfühlen kann, in der ununterbrochen und überall solche Forderungen an uns gestellt werden.

Ich habe hier von Kunstwerken gesprochen; aber um wieviel -schlimmer ist es erst, wenn es sich um Dinge handelt, die sich nur für Kunstwerke ausgeben, deren Forderungen stetten, ohne ihren Wert zu besitzen!

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