Grenzen im Raum und Grenzen im Kopf
GASTKOMMENTAR. Ohne Grenzen geht es nicht. Ohne Grenzüberschreitungen aber auch nicht.
GASTKOMMENTAR. Ohne Grenzen geht es nicht. Ohne Grenzüberschreitungen aber auch nicht.
Seit Generationen begeben sich Ostasien-Reisende zur Chinesischen Mauer, um dieses Zeitlosig- und Unendlichkeit atmende Bauwerk, das gegen die Mongolen errichtet worden war, zu bewundern, und kaum ein Besucher wird sich die Frage stellen, wieviel Baumaterial hierzu notwendig war, woher jenes herangeschafft worden war, wieviele Menschen wie lange daran gearbeitet haben usw. Wer nach Berlin fährt, wird hingegen gerne „Mauer schauen“ wollen – nicht um deren Ästhetik willen (wie bei der Chinesischen Mauer), sondern um sich in jene Menschen hineinzuversetzen, deren Alltag im Jahr 1961 von heute auf morgen schlagartig ganz anders verlief. Und wir alle entnehmen der medialen Berichterstattung in Winterzeiten laufend, dass wieder jemand in ungesichertem Schneegelände die „grenzenlose Freiheit“ suchte und dabei ums Leben kam; man bedauert den Fall und geht zur Tagesordnung über. Aus diesen wenigen Beispielen wird ersichtlich, dass wir mit dem Thema Grenze (in welchem Zusammenhang auch immer) ständig zu tun haben.
Das war schon immer so, wie aus der Geschichte bekannt ist: Bauliche Beispiele hierfür sind der Limes entlang von Rhein und Donau zur Zeit des Römischen Reiches ebenso wie die im Mittelalter errichteten Burgen, die die eine Landesherrschaft von der nächsten abgrenzen sollten, bis zu den Stellungen auf den Golanhöhen, um die nahöstlichen Streitparteien auseinanderzuhalten. Beispiele von Grenzen im Kopf sind die argumentativen Mauern, mittels derer sich die christlichen West- und Ostkirchen voneinander zu unterscheiden bemüht waren, oder die politische Instrumentalisierung der Rassenkunde, die ursprünglich auf rein wissenschaftliches Interesse zurückgegangen war. Von den Phänomenen Grenzziehung, Grenzbehauptung, Grenzbauten profitieren wir, denn dahinter steht ein beträchtlicher Planungs-, Bau- und Wartungsaufwand, der sich in Akten, Dokumentationen und Plänen widerspiegelt, weshalb derartige Vorgänge von der Frühzeit bis zur Gegenwart mittels schriftlicher, archäologischer und visueller Quellen ausgewertet werden können. Außerdem: „Grenze“ als Betriebsform bindet unzählige Arbeitskräfte von Architekturbüros, Baufirmen, diversen Industriebranchen, Handwerksbetrieben, Grenzwachpersonal, Versorgungsketten, Tourismusagenturen, Verlagen usf.
Geflecht von Ordnungssystemen
Grenzen bestehen nicht nur im Raum, weshalb wir solche sehen, erleben und überqueren können, sondern auch im Kopf, denn wir wollen sie ja auch und brauchen sie auch. Dies mag in einem Zeitalter erwünschter Grenzenlosigkeit unplausibel klingen, aber es ist so, denn unser menschliches Dasein wird von einem dichten Geflecht von Ordnungssystemen bestimmt, die im Interesse zerebraler Orientierung auf Unterscheidung aufbauen. Das simpelste Beispiel hierfür ist unsere jeweilige Sprache, die sich nicht nur von anderen Sprachen grammatikalisch und klanglich unterscheidet: die einzelnen Laute, Silben, Worte und Sätze sind voneinander trennbare Komponenten, ohne die wir aber keine Aussagen formulieren und keine Botschaften vermitteln oder empfangen können. Auch das Zusammenleben von Menschen steckt voll von Regeln, wie man sich zu verhalten habe und wie nicht und was daher Zustimmung erwarten darf und was nicht.
Zu den fundamentalen Umgangsformen mit dem Phänomen Grenze gehört ein bestimmter Lebensraum, innerhalb dessen sich nicht alle Menschen persönlich kennen müssen, aber sich als Gemeinschaft erfahren und daraus Identität ableiten. Das Wir-Bewusstsein einer solchen Gruppe wurzelt nicht nur in der intuitiven Vertrautheit (gleiche Sprache, Ortsansässigkeit, gleiches Rechtssystem, gleiche kulturelle Normen), sondern auch im gemeinsamen Wirtschaften (Versorgung, Steuerleistung, Existenzsicherung). Die „Gäste“ (hospites) waren schon in der Antike eine besondere juridische Kategorie (Gastrecht), solange sie keine Unkosten zu Lasten der Einheimischen verursachten. Die Kategorie der Flüchtlinge oder sonstiger Personen unsteten Aufenthalts waren in allen Zeiten für die Ansässigen jedoch ein Problem: Betroffen waren und sind einerseits all jene für die örtliche Sicherheit zuständigen Instanzen, die jene „Zugereisten“ entweder irgendwie zu integrieren oder abzuweisen haben, und andererseits die örtliche Bevölkerung, die den „Neuen“ Unterkunft und Versorgung bieten sollte. In solchen Situationen tauchen seit Jahrtausenden immer die gleichen zwei Motive auf, um diese „Neuen“ als Eindringlinge einzustufen, die Grenzen (so vorhanden) „dicht zu machen“ und hiermit die Welt des Eigenen zu sichern: die Sorge, ob die vorhandenen Ressourcen für alle reichen, und die Abneigung, sich geistig auf etwas Neues, vorerst Unvertrautes einzulassen – auf Menschen mit anderem Aussehen, mit anderen Sprachen, anderen Lebensgewohnheiten und dergleichen mehr.
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