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Im Osten nichts Neues…

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I.

Seit der Eiserne Vorhang mitten durch Deutschland an vielen Stellen ganz reguläre Türchen bekommen hat, seit das Hinüber- Herüber von Reisenden im großen und ganzen kein Abenteuer mehr geworden ist, hat sich sein Charakter im allgemeinen Bewußtsein verändert. Er ist zu einer grauen Nebelwand geworden, die sich unmerklich zwischen zwei Welten geschoben hat. Mit Recht standen in den letzten Wochen und Monaten die Einzelreisenden in umgekehrter Richtung, die John und Schmidt-Wittmack — ihrer außergewöhnlichen Situation wegen — stärker im Scheinwerferlicht. Und mancher, der über alle Einzelheiten dieser Fälle (bis in die unkontrollierbaren und unkontrollierens- werten Details hinein) genau Bescheid weiß, hat von einer anderen, dokumentarisch fest- liegenden Zahl kaum mehr eine Ahnung, von jenen 300 bis 600 Menschen, die nach wie vor täglich allein in West-Berlin als Flüchtlinge ankommen. Kaum eine Zeitung nimmt von dieser allabendlich amtlich im Berliner Rundfunk durchgegebenen Stärkemeldung mehr Notiz. Gewiß ist das Notaufnahmeverfahren heute fast zu einer Routineangelegenheit geworden, gewiß ist die Organisation des Abflugs und der Unterbringung nach Menschenmöglichkeit reibungslos gestaltet, aber das ändert nichts am Entscheidungsklima, an der unmittelbaren Ausgesetztheit, in der sich jeder einzelne dieser „Fälle" vollzieht. Die Analyse der Fluchtgründe, die statistisch vorgenommen wurde, deutet allerdings darauf hin, daß der Prozentsatz der sogenannten „echten“ Flüchtlinge immer geringer wird, jener, die aktenkundig nachweisen können, daß sie aus politischen Gründen an Leib und Leben bedroht worden waren und sich nur durch Flucht der unmittelbar bevorstehenden Verhaftung entziehen konnten. Der Maßstab hierfür ist nach wie vor sehr streng. Rein religiöse Differenzen beispielsweise werden nicht unbedingt als „politisch“ im engeren Sinn anerkannt. Sie fallen allgemein unter den Passus „andere zwingende Gründe“. Dort rangiert unter anderem auch der sogenannte „wirtschaftliche Existenzverlust“, wohl der häufigste Fluchtgrund von heute. Denn es besteht für den genauen Beobachter der Dinge kaum mehr ein Zweifel: Die nun schon seit Jahren andauernde regelmäßige Abwanderung von durchschnittlich einem halben Tausend Menschen pro Tag, kann nicht mehr als „Fluch t“ bezeichnet werden, die sich im Dunkel strengster Illegalität vollzieht. Es ist undenkbar, daß die Sowjetzonenbehörden bis heute keine wirksamen Maßnahmen ausfindig machen konnten, dieser Massenabwanderung einen Riegel vorzuschieben, wenn sie es wirklich und entschlossen wollten … Aber es scheint, daß sie cs gar nicht wollen. Die Abwanderung nach Westen nimmt immer mehr den Charakter eines gewaltigen sozialen Umschichtungsprozesses an, einer unblutigen, aber nicht weniger konsequenten Liquidierung von ganzen Gesellschaftsschichten. Die Probleme der Wiedervereinigung, mit denen man sich in vielen westlichen Kreisen heute nur sehr flächenhaft beschäftigt, können nicht gelöst werden, ohne ein ständiges und genaues Studium dieser gewandelten Situation, die auch im Falle eines ganz unwahrscheinlichen Wandels der politischen Kräfteverhältnisse nicht einfach wiederhergestellt oder nach dem Rezept der Bourbonen von 1815 „restauriert“ werden könnte.

II.

Aber nicht das ist das brennende Problem von heute. Wie es zur Stunde aussieht, ist eine grundlegende Aenderung dieser Prozesse in absehbarer Zeit kaum zu erwarten. Viel entscheidender ist’ die auch aus der Analyse der Flüchtlingszahlen abzuleitende Erkenntnis: Viele bleiben drüben. Sehr viele Intellektuelle, die wesensmäßig keine Kommunisten sind und auch keine werden wollen, haben sich entschlossen, in der Ostzone zu bleiben. Ihre Situation, besser gesagt, das Bewältigen ihrer Situation, ist ein Vorgang, über den uns nur noch vereinzelte Unterlagen erreichen. Und dennoch messen wir ihm eine außerordentliche Bedeutung zu. Die Erfahrungsberichte westlicher Teilnehmer an Kongressen und Zusammenkünften, bei denen auch Teilnehmer aus der Ostzone — größtenteils legal — teilnahmen, lauten ziemlich einhellig. (Es liegen uns solche vom gesamtdeutschen katholischen Studententag, vom Katholikentag in Fulda, vom Dichtertreffen auf der Wartburg und manche andere vor.) Die Männer und Frauen von „drüben“ sind schweigsam geworden. Aber es ist nicht das ängstliche und verdrückte Schweigen der Angst vor dem Spitzel am Nebentisch, es ist ein nachdenkliches, versonnenes, und — man kann es nicht leugnen — kritisch beobachtendes Schweigen. Mit kritischen Augen musterten die meisten Jugendlichen des diesjährigen Berliner Pfingsttreffens die vollen Schaufenster, die leuchtenden Neonreklamen am Kurfürstendamm. Diejenigen, die aus übervollem Herzen auf den Osten schimpften, waren merkwürdigerweise in der gleichen Minderzahl wie diejenigen, die in eingelernter Weise kommunistische Propagandareden hielten. Aber ein ähnliches männliches und zuweilen auch inneres Suchen verbergendes Schweigen lag auch auf den Gesichtern derer, die zu gesamtkatholischen Tagungen erschienen. Kaum einer war oder ist unter ihnen, der solche Treffen zu dem an sich verständlichen Wunsch benützt, Verbindungen existenzmäßiger Art mit der westlichen Welt anzuknüpfen, einen Brückenkopf zu schaffen und bei gegebener Stunde herüberzuwechseln. Die meisten von ihnen wissen, daß sie wieder zurückgehen. Und sie bejahen es in einer reifen, ruhigen, keinesfalls falsch pathetischen Art. Wer heute noch als Intellektueller nichtkommunistischer Prägung im Leben der deutschen Sowjetzone steht, ohne zu den wenigen und allgemein bekannten Kollaborateuren zu zählen, weiß genau, daß er für immer gestempelt ist. Die Werbung des Kommunismus unter den dem Jugendalter Entwachsenen hat so ziemlich aufgehört. Die Partei wird von Tag zu Tag mehr eine Kaderorganisation, ähnlich wie in der Sowjetunion ein Orden, der eher auf Exklusivität, denn auf Mitgliederzahl Wert legt. Wer sich entschlossen hat, außerhalb zu stehen, hat damit ein Leben gewählt, von dessen Ernst und Kargheit, aber auch von dessen innerer Energie und Strahlkraft wir uns hier kaum eine Vorstellung machen können. Wir wissen von verschiedenen solchen Einzelfällen, von einem Dirigenten etwa, der als einsamer Verfechter moderner Musik gilt, von Pastoren und Buchhändlern, sogar von Puppenspielern, von Rechtsanwälten und Aerzten … Das Ethos, aus dem sie leben, ist nicht immer der christliche Glaube, oft ist es ein adeliger Stoizismus, oft eine tiefe Geborgenheit in konservativen Wertbegriffen, immer aber ist es, vielleicht weil es jeden Tag und jede Stunde beansprucht, „gefordert“ wird, von einer stählenden, lebenspendenden Energie. Gewiß, es gibt bittere Pessimisten unter ihnen, Men-sehen, die im Bewußtsein und aus dem Bewußtsein leben, so etwas wie „letzte Ritter“ zu sein. Aber jenen, heute weite Kreise im Westen erfassenden, zentrumslosen, mutlosen Nihilismus der Witzelei und der panikartigen Flucht vor jeder Entscheidung, wird man vergebens unter ihnen suchen. Für sie ist der Kommunismus in seiner sowjetdeutschen Realform eine feste Größe geworden. Sie sehen ihn weder als eine Theorie, mit der man im luftleeren Raum koexistentielle Kompromisse schließen kann, noch als jenes Zerrbild und als jenen kolorierten Räuberkitsch an, als der er uns von einer Seite serviert wird, die sonst Anspruch auf ein höheres geistiges Niveau erhebt. Sie sehen in ihm eine fremde, durch nichts zu assimilierende oder zu versöhnende Lebensmacht, in deren Strahlungsbereich sie hineingestellt sind, in dessen vorgezeichneten Atembereichen sie geistig leben müssen. Die materiellen Bevorzugungen des „Intellektuellen“ sind ihnen im wesentlichen verschlossen. Ihre Einkünfte — am Durchschnitt gemessen — bewahren sie heute vor dem nackten Hunger, aber der Zutritt zu den höheren Genüssen des Bourgeoisdaseins ist ihnen verschlossen. Nicht einmal die lockende Versuchung, sich solche Zuckerbrote durch einen Gesinnungsverrat zu erkaufen, besteht heute mehr. Die Kulturfunktionäre des Regimes legen keinen Wert mehr auf sie. Von außen gesehen, wäre es düsterer Fatalismus, der ihrem Leben das Gepräge geben müßte.

III.

Und dennoch haben sie, die Namenlosen, Zähen und Unbeirrbaren, einen Sieg errungen, dem das Wort „abendländisch“ wahrhaft eher als so manchem Geschwätz im sicheren Hinterwald zukommen müßte. Johannes R. Becher, der sowjetdeutsche Kulturminister, mußte es auf dem Kirchentag zu Leipzig unumwunden und in aller Oeffent- lichkeit zugeben: Die Partei hat eingesehen, daß die weltanschaulichen Gegensätze zwischen Kommunismus und Christentum unüberbrückbar sind, es kann also nur ein korrektes Nebeneinander angestrebt werden. Diese Feststellung Bechers, die im Grunde ein erzwungenes Hochachtungsbekenntnis vor den lebendigen Zeugen des Wortes in seinem eigenen Machtbereich war, wird uns in der Praxis von allen Gewährsleuten bestätigt. Die westlich-humanistisch geprägte Form christlichen Bekenntnisses hat in diesen Jahren der Feuerprobe standgehalten, sie hat sich weder einschmelzen lassen wie ein Teil der russischen Orthodoxie, sie hat aber auch nicht ihr Gesicht verloren, indem sie zur eindeutigen Fünften Kolonne einer feindlichen irdisch-politischen Macht degradiert werden konnte. Denn dann hätte Becher gewiß nicht von der „Realität des Christentums“, sondern von „feindlichen Agenten“ gesprochen, die bekämpft werden müßten. Beruhigt also hat „es“ sich nicht jenseits der Elbe, es sei denn, daß auch die inneren, weltanschaulichen Fronten erstarrt wären. Das Niemandsland ist schmal geworden. Die Illusionen sind geschwunden. Aber in diesem harten und rauhen Klima hat sich die innere Substanz einer abendländischen Elite verfestigt, die heute ohne Veröffentlichungsmöglichkeiten, ohne eine geschäftige Presse, die jede ihrer Lebensäußerungen mit großem Gegacker begleitet, einen geistigen Kampf führt, der nicht mehr bloß Abwehr und Existenzbehauptung, der echtes Zeugentum genannt werden kann, Und „Martyr“ heißt Griechisch auch der unblutige Zeuge. Wir aber haben um so weniger Grund, uns über „den Osten“ zu beruhigen.

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