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Digital In Arbeit

Was nicht in der „Furche“ steht...

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Jede Woche gehen Seiten, Seiten, Seiten hinaus.

Sie sprechen von diesem und jenem, sagen dies und das. Akademisch, bisweilen fachlich, literarisch, selten schon aphoristisch. Themen von der Welt, für die Welt. Die große Geschichte: das Geschehen draußen und drüben, dann drinnen, im Innern unseres Landes. Dazwischen auch Geschichten von geistigen Kämpfen, vom Lebensweg eines hochverdienten Mannes. Acht Seiten Politik, Innen und Außen, Kultur (mit Notizen und Inseraten); vier Seiten .Krystall“, mit oft schönen Erzählungen, und Reimen. Zwei Seiten .Warte“, zwei noch für die Bücher. Schluß.

Das Leben hat aber noch andere Seiten.

Das Persönliche. Seine kleine Geschichte. Die oft so groß und überschwer ist mit ihren Nöten und Leiden und selteneren Freuden. Dieses Leben, drängend und gärend in allen Pulsen, taugt nicht für das Papier. Sein Ruf — manchmal ist es der Schrei einer Qual, das Stammeln der Verzweiflung, die müde Resignation eines verdüsterten Sinns — läßt sich nicht in einem .Artikel“ oder annoncenhaft abtun. Nicht immer ist es freilich so dramatisch: will aber doch, aus seiner Einsamkeit, sich kundtun, sucht das Wort von Mann zu Mann, von Mensch zu Mensch, fragt nach einem Du.

Dieses Leben macht nicht halt vor der Redaktionstür.

Wir danken es ihm — obwohl es uns täglich zeigt, wie schwach wir sind, wie gering oft unsere Gabe, wie halb das Werk da auf dem Papier.

Die Scharen, die in fünf Jahren durch unser offenes Tor gegangen sind und die an manchen Tagen sechzig, achtzig Prozent der Zeit (und mehr noch der Kraft) beanspruchen, gehören nur zum kleinen Teil zu unseren „Mitarbeitern“ im engeren, groben Sinn des Worts: Leute also, die bei uns Artikel schreiben, Aufsätze und Material für Nachrichten bringen.

Auch unter ihnen gibt es wahre Helden. Menschen, deren Arbeiten — eine ehrliche, bitter erkämpft Arbeit — au

\ formalen oder inhaltlichen Gründen mehrfach nicht von uns angenommen werden konnten — und die doch immer wieder kommen, in Treue und Vertrauen. Hier schon ereignet es sich immer wieder: daß im Gespräch, in der Aussprache über ihren Artikel sich eine innere Not offenbart, ein tieferes Anliegen, das nur einen Ausweg suchte durch eine Flucht ins Papier, in die Publizität. Mit dieser Tatsache rücken schon diese Menschen nah heran an jene Reihen, die wir hier in einigen Kategorien zu erfassen suchen.

Vorweggenommen sei: als Gesamt bilden diese Gruppen von Menschen jene andere Welt, von der das Offizielle und Offiziöse oft nichts wissen will, oder nur Falsches, Tendenziös-Verzerrtes, was sie als gefährlich oder uninteressant, als langweilig oder übersehenswert erachtet.

Da sind Schriftsteller, Dichter, Künstler, Literaten. Die keinen Verlag, keine .Existenz“ finden. Die sich abschinden In Brotberufen, die ihre Krft verzehren. Auf jungen und wieder sehr alten Beinen, aufrecht im gerechten Zorn und gebückt durch jahrelange Erniedrigung; von Stadt und Land, aus allen Kreisen und ständischen Grundierungen strömt es da herein: die Tragödie der geistig Schaffenden unserer Zeit.

Sehr diszipliniert, still, nüchtern, sachlich: an langes Warten gewöhnt, sitzen sie vor den Türen: Beamte ehemals, aus allen Regionen des alten Reichs, Pensionisten auch, mit und ohne Gnadengeld, Angehörige aller jener Berufe, die im Gestern und Vorgestern den Mittelstand gebildet haben. Diesen Stand gibt es kaum mehr: sein Drama aber sitzt vor unseren Türen. Hier trifft uns oft zu bitterst unser Unvermögen, großzügig, schnell und wirksam, ja überhaupt zu helfen. Das sind zudem die Menschen, die gerne Bücher lesen würden, ernste Stücke im Theater sehen wollten — in der Notdurft ihres Lebens west die Kulturkrise. Diese Menschen, von Beruf und Berufung Kulturträger, sind von der Zeit zerrieben worden ...

Nun fällt der Blick auf das Heer der Expropriierten, ex lege 1945. Die dem

Gesetz der Nachkriegszeit verfielen. Die Registrierten auch; die ganz, drei Viertel, halb, ein Viertel ihren Rechten, Berufen, Lebensstellungen Entnommenen. Viele, viele führte der Weg zu uns in jenen 'ersten Jahren nach 1945, als unser Blatt, oft als einziges weithin, auf Unrecht 'verwies, das sich in starrer Rechtssatzung .verbarg, und für Gerechtigkeit, Ausgleich, Versöhnung eintrat. ' Welche Schicksale I Welche Verbitterung ... Welche Sorge; welche Not. — Stumm “sind wir oft vor dem Zeugnis des Bekennens — und auch einer letzten Verwehrung gesessen. — Viele sind gekommen, viele sind gegangen. Manche haben uns verlassen, als ihnen von anderen Orten die Blüte neuer Hoffnungen zu winken schien. Manche auch von diesen sind wieder gekommen.

Und wieder eine neue Gruppe: nicht weltanschaulich, nicht ständisch gebunden; Menschen, die einfach eine Stellung suchen, „einen Posten“. Wieviel Schicksal aber birgt sich auch hier oft unter 'der einfachen Bitte, um eine Unterstützung, eine Intervention, i Nun warten nur noch die zwei schwierigsten Kategorien: die religiös Suchenden und die Jugend. Wir sprechen von ihnen am Schluß, weil sie unsere schönste und schwerste Aufgabe, Last und wohl Gnade zugleich, ins Haus tragen. Die beiden haben viel gemein: sie wollen, können, dürfen sich nicht abspeisen lassen mit ein paar Worten, die zu Schlagworten werden — billigen Firmenschildern, Zetteln, die man auf Einsiedegläser klebt, gleich. Gott ist mehr als wir erfassen, ist größer, als unser Begreifen; seine Wege sind oft Umwege; er ist der Ungleiche. Und der Mensch ist tiefer und weiter, als unser Papier, als unsere Worte ihn deuten.

Hier sehen wir' es von Angesicht zu Angesicht. Stege suchen wir zu bauen, Brücken ins Verständnis, in die Begegnung, über die Sümpfe, durch die Nebel, durch die Ungewißheiten. Und doch bleiben es oft Worte, Blätter, im Winde verweht. Die Kraft eines Zeugnisses? Einer Klärung? Einer Aufklärung? Bisweilen doch, so hoffen wir. Die Mittel einer Hilfe? Auch das wohl zuweilen.

Schon ist es Morgen. Die Sonne hebt sich aus dem Wintemebel.

Ein neuer Redaktionstag beginnt.

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