Bodrozic - © Foto: Peter von Felbert

Marica Bodrožić: „Das Leben ist keine Metapher“

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Die Pandemie erzwang den Rückzug, auch in die eigenen seelischen Landschaften. Marica Bodrožić hielt in ihrem Buch „Pantherzeit – Vom Innenmaß der Dinge“ ihre Reflexionen fest. Ein Vorabdruck.

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Die Pandemie erzwang den Rückzug, auch in die eigenen seelischen Landschaften. Marica Bodrožić hielt in ihrem Buch „Pantherzeit – Vom Innenmaß der Dinge“ ihre Reflexionen fest. Ein Vorabdruck.

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In einer Ausnahmesituation wird die Freiheit auf ihre Tiefe hin abgeklopft. Wie ist sie beschaffen? Was ereignet sich in diesem geistigen Raum, den wir für uns beanspruchen – und was tun wir, um ihm in Integrität zu begegnen?

Das Gedächtnis gehört den Verletzlichen, weil sie das Wagnis auf sich nehmen, in ihre Fragen hineinzuleben und sich auch den bittersten Schmerzlandschaften der Vergangenheit zu stellen. Diese zu verwandeln ist uns aber nur dann gegeben, wenn wir vom äußerlich starken Gehabe abrücken und in jenes Bewusstsein eintreten, das uns in unserer Vollständigkeit atmen lässt; darin ist auch alles Verletzliche enthalten. Menschen, die ihr Bewusstsein als Ort begreifen, können diese innere Geografie nicht nur sehen, sondern auch gestalten und sie im gleichen Atemzug in der Außenwelt erkennen, lesen und benennen.

Für mich ist dieser schöpferische Vorgang undenkbar ohne die schöpferischen Menschen, die dem eigenen Denken über die Zeiten hinweg zuarbeiten, es herausfordern und auch lange nach ihrem Tod in ihren Werken eine Art Bewusstseinsschneise hinterlassen, die wir abtasten, abwandeln und in etwas Neues, zum Beispiel in einen neuen Weg oder Blick umleiten können.

Bewusstsein als Landschaft

Das Bewusstsein ist wie die Geschichte, die Hans Blumenberg als „Tiefebene“ bezeichnet, eine Landschaft. Was sich hier ereignet, spielt für die gesamte uns umgebende Natur aus allen Perspektiven, die wir auf sie einnehmen, eine Rolle. Träume des Menschen in einer bestimmten Zeit etwa sind mit dieser Tiefebene verbunden und sprechen so zu uns.

Was träumen die Menschen heute in Ländern, in denen neue Gesetze einschränkend auf sie wirken? Was machen Restriktionen grundsätzlich mit uns? Ich frage das auch mich selbst, weil ich weiß, dass der Mensch immer einen Weg findet, sein Inneres auszudrücken, nur darf er sich nicht selbst vergessen. Bleibt er Leser seiner selbst, ist die Gefahr, dass äußere Restriktionen auch sein Inneres ergreifen, geringer. Es gibt einen Geist der Sinne, der die Zeit überdauert, der sie gestaltet und wie ein Unterwasserstrom beeinflusst, bis sie neu wird und eine Zeitenwende wie die unsere da ist.

Da der Europäer ein Mensch mit Erinnerungen ist, obliegt ihm gerade jetzt die Aufgabe einer Bewusstseinsarbeit, die seine schöpferischen Menschen, in denen Stefan Zweig das Fundament einer freien europäischen Welt sah, uns vorausgehend mitgestaltet haben. Um eben jenen Geist der Sinne, von dem ihre Wahrnehmung abhängt, neu zu spüren und ihn sichtbar zu machen, ist es unvermeidlich, neue Wege abzuschreiten und wahrhaft ein Erdenbürger zu werden, der im Kosmos beheimatet ist.

Dieses geistige Urmomentum Europas ist ohne das schmerzverzahnte Leben all jener nicht denkbar, die rechtbesehen erste Europäerinnen und Europäer waren, als die Barbarei Nazideutschlands sie unfreiwillig auf den Weg ins Anderswo oder auch auf der Flucht in den Tod führte. Hannah Arendt und Walter Benjamin gehörten zu ihnen. Beide haben sich durch ihre geistige Offenheit und Unbeirrbarkeit im eigenen Denken nicht nur einen Platz in der Geschichte der Intellektuellen dieser Welt ero
bert, sondern auch in den ihnen innerlich nachfolgenden Menschen, die sich das Denken und das Wissen um die Arbeit des Urgrunds nicht nehmen lassen wollen, auch wenn heute die Einflüsse der freiheitsfeindlichen politischen Parolen genau das versuchen.

Die Magnetismen der Lüge arbeiten dem destruktiven Vergessen zu. Sie können das aber nur tun, weil in jenen, die die Lüge als Wahrheit aufnehmen, eine dem Gedächtnis abgewandte schale Leere vorhanden ist, das heißt, weil das Bewusstsein der Lügenden so beschaffen ist, dass es die Lüge nicht erkennt. Die Lüge ist mit sich selbst identisch. Dennoch spricht das Gewissen immer mit, nur ist es ferner gerückt, es ist leiser.

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