6567934-1950_06_05.jpg
Digital In Arbeit

Verantwortung vor dem Werk

Werbung
Werbung
Werbung

Durch verschiedene Einflüsse, durch Einwirkung einzelner, durch eine bewußtere und theoretisch mehr festgelegte Art, der Musik der Vergangenheit (die ja ihrerseits auch in immer größere Ferne rückt) zu begegnen, ferner durch das technische Denken usw. hat unser Musizieren begonnen, eine Wandlung durchzumachen. Man muß sich dabei natürlich vor zu großen Verallgemeinerungen hüten; nicht das Musikleben im ganzen und nicht in allen Ländern gleicherweise wandelt sich, aber immerhin ein Teil, der mit dem Anspruch auftritt, ein wesentlicher, ein führender Teil zu sein. Auch erstreckt sich diese Wandlung nicht auf alle Literatur mit derselben Stärke. Am meisten von ihr betroffen wird zweifellos die sogenannte „klassische“ Musik. Diese klassische Musik ist nun aber nicht nur irgendein beliebiger Teil der Weltliteratur. Es ist die Musik, bei der Architektur und Ausdruck, Form und Leben am engsten ineinander greifen, die die größte Formstrenge mit der größten Natürlichkeit verbindet; bei der gleichsam Architektur Ausdruck und Ausdruck Architektur geworden ist. Es war kein Zufall, daß Wagner, als er anfing, sich um Darstellungsfragen zu kümmern, sich ausschließlich mit einer Musik beschäftigte, die schon damals ein Menschenalter und mehr zurücklag — eben der Musik dieser Klassiker einschließlich Beethovens —, anstatt mit der Musik seiner eigenen Zeit. Gerade an ihm aber können wir ablesen, wie sehr wir uns inzwischen gewandelt haben. Sind uns die Interpretationsfragen, über die er in seinen Schriften (besonders mit Bezug auf Beethoven-sche Symphonien) schreibt, überhaupt noch wichtig? Haben diese Fragen für uns heute noch irgendwelche Aktualität? Nehmen wir — um es ganz deutlich und dürr herauszusagen — diese ganze klassische Musik — wozu dann auch noch Bach und die späteren, Brahms usw., gehören — überhaupt noch ganz ernst?

Ich entnehme einem Bericht eines guten, früher in Deutschland tätigen Musikers über Konzerte in Hollywood, daß große klassische Symphonien in Amerika heute „veraltet“ seien und nicht mehr wie früher im Mittelpunkt des Publikumsinteresses stünden. Nur „wisse“ das Publikum dies noch nicht.

Diese Beobachtung ist richtig — auch wir wissen es noch nicht, daß dem so ist. Der Grund dafür liegt weder in dieser Musik, noch in uns, sondern in den Aufführungen, die wir von ihr machen. Die Aufführungen wandeln sich und mit ihnen allerdings dann auch unser Verhältnis zu dieser Musik.

Es ist nicht ganz leicht, sich über diese Dinge klar zu werden. Neimen wir einmal eine Grammophonplatte zur Hand, möglichst von einem einfachen Werk, das keine besonderen Probleme bietet: etwa Mozarts „Kleine Nachtmusik“. Es ist eine Platte, die geeignet ist, das Durchschnittsmusizieren von heute zu repräsentieren: als modernes Grammophonerzeugnis eine gute Platte, aber auch vom Standpunkt des Musikers aus einwandfrei. Eine Darstellung: vernünftig, natürlich, gleicherweise der Tradition entsprechend wie den Anforderungen des Notentextes.

Und zunächst wird auch jeder Hörer darüber erfreut sein, wie selbstverständlich sich alles vollzieht, wie klar und deutlich jede Mittelstimme zu hören ist usw. Er wird die Aufführungen als gelungenes Beispiel einer bis ins letzte korrekten Darstellung betrachten, ein Musterbeispiel werkgetreuer Wiedergabe. Was aber ist es, das — wenn wir uns genau prüfen — dennoch dieser Darstellung jenen Hauch von Kälte, verbunden mit einer aufdringlich prallen Selbstverständlichkeit, ja Selbstzufriedenheit verleiht? Warum mutet uns die Klarheit des Details auf einmal hier so unbarmherzig an? Wo ist das Geheimnis, der Zauber des lieblichen Werkes geblieben? Ich bemerke ausdrücklich: auch der kritischeste Hörer könnte an der Platte direkt nichts aussetzen. Es ist keine Einzelheit, die zu bemängeln wäre,-und doch scheint für die, die das Werk kennen und lieben, irgendwo am „Ganzen“ etwas zu fehlen!

Und nun kommt das große Geständnis, das jeder Hörer, der den Mut dazu besitzt, vor sich selbst oder anderen machen wird: die Platte ist vorzüglich, gewiß, und Mozart ist ein großer Meister, aber — ist sie nicht etwas langweilig? Geht uns diese Musik noch etwas an? Ist sie nicht ganz und gar Vergangenheit?!

Was ich hier schildere, werden vor diesem oder jenem Musikstück, vor dieser oder jener Grammophonplatte, bewußt oder unbewußt, immer wieder Menschen von Sensibilität und lebendigem Gefühl erleben. Ich sage damit gewiß nicht, daß alle Platten so sind oder so sein müssen; viele gibt es, die — bei architektonisch schwierigeren Werken — unendlich schlechter sind und doch infolge ihrer technischen Makellosigkeit akzeptiert werden. Ich nehme dies Beispiel hier gerade als charakteristisch für das, was man sich heute im Durchschnitt unter „gutem Musizieren“ vorstellt. Die Platte ist plattengerecht, abgerundet, das Werk ist in jedem Teil vollkommen klar, das Ganze vernünftig disponiert und durchgeführt. Und dennoch fehlt durchaus das Jauchzen des Schöpferischen, der Zauber des Abenteuers, die Lust des Lebens. Trotz aller Vollendung liegt es wie ein Hauch von grauer Freudlosigkeit über dem Ganzen, und wenn wir genauer hinhören, bemerken wir auch die Eiseskälte, die all diese Perfektion begleitet. Auch für uns ist Sauberkeit in den Details, Präzision des Zusammenspiels Voraussetzung jedes Musizierens. Erscheint es jetzt aber nicht, als ob die Musik im selben Maße, ate sie technisch vollendeter wird, immer inhaltsloser, wenn man so will, immer überflüssiger zu werden scheint?! Es ist, als ob ihr ein bestimmter Stoff fehle, den sie früher besaß. Man möchte sie vergleichen mit jenen Konserven, die in schönen Gläsern in herrlichen Farben leuchten, fabelhaft aussehen und doch nicht schmecken; bei denen die Verpackung wunderbar, der Inhalt aber enttäuschend ist. Es ist, als ob dieser Art Musik die eigentlichen Vitamine, die ein Nahrungsmittel erst vollwertig und lebensfördernd machen, fehlen, obwohl dabei — oftmals mit viel Raffinement — auf alle möglichen Geschmacksbedürfnisse Rücksicht genommen wird.

Was aber folgt aus alledem? Sind wir uns darüber schon klar? Ist es nicht geradezu, als ob der lebendige Garten wunderbarster abendländischer Musik aus drei Jahrhunderten mit all seiner blühenden Pracht über Nacht ein Friedhof geworden sei? Thomas Mann spricht in seinem Musikerroman „Doktor Faustus“ einmal von dem tiefen Überdruß, der den heutigen lebenden Musiker vor allem und jedem, was mit der bisherigen Musik zu tun hat, überkommen mag. Von der abgrundtiefen Verbrauchtheit all dieses Musikerwesens, das mit den bisherigen Mitteln arbeitet. Aber ist es wirklich nur das Mittel etwa des bisher herrschenden tonalen Systems, das so abgenützt, so bis auf den Grund verbraucht ist, daß es den Geist, die Form, die Eingebung, kurz alles übrige in der Musik mit sich in den Untergang hinabzieht? Oder ist es nicht unser ganzes

Musizieren überhaupt, das sinnentleert, ohne Geheimnis, ohne Lebenslust sich weiterschleppt? Wahrlich, von hier aus ist der Kopfsprung in die atonale Flut verständlich, in das Ganz-Andere, bei dem alle Erinnerung an Früheres ausgelöscht wird.

Charakteristisch bei alledem ist, daß wir uns zwar dieser Wandlungen als solcher bewußt werden, uns aber über ihre tieferen Zusammenhänge und Gründe keineswegs klar sind. Wie schon gesagt, ist die Entseelung der Vergangenheit, die in so vielen unserer heutigen Aufführungen zutage tritt, nicht schwarz auf weiß beweisbar. Im Gegenteil, im Oberbewußtsein glauben viele von uns sogar, daß Musik noch nie so gut und sachgerecht aufgeführt wurde wie eben heute. Gerade- in diesem Glauben aber liegt die allergrößte Gefahr. Wagner war es noch gelungen, seine Zeitgenossen aufzurütteln, ihnen klar zu machen, daß es an ihnen liege, wenn sie der großen Musik nicht mehr gerecht würden. Heute steht es anders; heute machen wir es uns bequemer und glauben, daß es an ihr, an der Musik liege, wenn sich unsere Beziehung zu ihr wandelt, wenn sie ihre Bedeutung für uns verliert.

Was aber den tieferen Grund dafür, das heißt für unsere Aufführungen betrifft, so wird das, was ich hier meine, am besten durch das Sprichwort charakterisiert, daß einer „den Wald vor Bäumen nicht sieht“. Wir sehen, wir erleben bei unserem Musizieren das Ganze, das Wesentliche, den lebendigen Zusammenhang — eben den „Wald“ — nicht mehr und glauben in den Details, das heißt in den „Bäumen“ die eigentliche Wirklichkeit in Händen zu haben. Und so beginnt das Detail an Stelle des Ganzen, das Bewußtsein an Stelle des Instinkts, die Materie an Stelle des seelischen Ausdrucks zu treten.

Uber diese Dinge zu sprechen ist deshalb so überaus schwer, weil wir uns ja gerade damit, daß wir vor „Bäumen den Wald nicht sehen“ einbilden, auf dem Wege des Fortschritts, und damit der wahren Wirklichkeit auf der Spur zu sein. Einem einseitig an technisches Hören gewöhnten Hörer, einem Rundfunkmann von heute zum Beispiel etwas von „Auffassung des Ganzen“, von „tieferen Zusammenhängen“ eines Musikwerkes zu sprechen, bedeutete nichts anderes, als wenn man dem Blinden von der Farbe reden wollte. Und wer zu den Blinden gehört, das heißt wer nicht vorher schon all dies, worüber hier die Rede war, irgendwie am eigenen Leibe erlebt hat, wird mich nie verstehen.

Es ist immer der Mensch, der die Kunst macht. All dies wäre nicht möglich, wenn nicht hinter dieser Art von Musik der Mensch stünde, dem sie entspricht. Und da scheinen es mir heute vor allem zwei Typen zu sein, die in Frage kommen: die einen, die beim Musizieren nicht mehr Seinserfüllung, nicht mehr Ausdruck eigenen Lebens und Erlebens suchen, sondern mehr das Machen, das Vollbringen, die „perfekte Leistung“. Uberwiegt dies — und das ist in unserem Zeitalter der Technik eine große Gefahr — so wird die Kunst allgemach mehr und mehr zum Sport. Der sportliche primitive Begriff des Wettlaufs, der mit Kunst in Wirklichkeit so gar nichts zu tun hat, beginnt dann immer mehr Besitz vom Bewußtsein der Menschen zu ergreifen.

In Ländern mit alter Musikkultur wie Österreich und Deutschland ist indessen diese Gefahr nicht so groß. Gefährlicher sind hier jene, die sich deshalb mit jeder Wandlung abfinden, weil sie von jeher gewohnt sind, sich mit allem „abzufinden“. Und das, weil sie die ewigen Zuschauer sind, die sich höchstens angelegen sein lassen, was geschieht, als „historisch notwendig“ zu begreifen, als „psychologisch bedingt“ zu verstehen. Sie sind es, die dann davon reden, daß es nun einmal zur Charakteristik unserer schnellebigen Zeit gehöre, daß in ihr seelische Inhalte nicht mehr dieselbe Rolle spielen könnten wie früher; sie sind es, die — aus denselben „historischen“ Gründen — die Romantik, ja jedes „Gefühl“ in der Kunst abzulehnen sich beeilen. Es fehlte nur noch, daß sie eines Tages — ebenfalls aus „historischen“ Gründen — diö Liebe überhaupt für veraltet, für überlebt erklärten. •

Indes, Spaß beiseite: In der Kunst nicht mehr den Ausdruck des eigenen Selbst, sondern in erster Linie Anlaß für historische und psychologische Erkenntnisse zu finden, gilt heute als zeitgemäß. Es ist die Funktion, die eine alternde Kunst im Kulturbewußtsein der Menschen hat, als Dokument zu dienen für die, die sie einst geschaffen haben, die hinter ihr stehen. In einem Zeitalter der Wissenschaft ist der dokumentarische Wert der letzte, der der Kunst, diesem vornehmsten und lebendigsten Zeugnis menschlichen Seins, noch verbleibt. Dann freilich ist es nicht mehr Leidenschaft und Hingabe, nicht mehr Wille zur Selbstbetätigung und Selbstverkörperung wie bisher, was unsere Musik trägt. Der Muttergrund aller Kunst, die Liebe, hat sich dann gewandelt, ist herabgesunken zur hloßen „Neugier“.

Noch ist es nicht so weit; noch sind produktive Kräfte am Werke, unter Schöpfern wie unter Darstellenden. Noch wollen wir — jedenfalls ein Teil von uns — uns selbst verkörpern, uns selbst verwirklichen, wenn wir schaffen; noch setzen wir uns mit den Werken direkt Auge in Auge auseinander, wenn wir darstellen. Gewiß, die Welt ist alt, wir sind „Enkel“. Aber bloß zuschauen, abtreten — nein, soweit sind wir Gott sei Dank noch nicht; des wollen wir — Schaffende und Darstellende — eingedenk bleiben. Und des mögen auch diejenigen, die die Kunst tragen und für die sie geschaffen wird, eingedenk bleibenl

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung