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Die Situation der neuen Musik

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Um die Jahrhundertwende kam, ähnlich wie bei ihren Schwenerkünsten Malerei, Tanz und Dichtung, Bewegung in das ver hältnismäßig stabile Gebäude der Musik. Nicht, als ob dies zum erstenmal oder plötzlich geschehen wäre: immer schon hat es Neuerungen und ' Revolutionen gegeben, in jeder Epoche wurden neue Räume entdeckt und erschlossen. Diesmal aber wurden die Fundamente erschüttert und verändert. Wir sagen dies nicht, nachdem wir neue Partituren studiert oder in musiktheoretischen Werken nachgelesen haben, was denn eigent lieh geschehen sei, sondern wir gehen von dem Eindruck und dem Gefühl aus, den der Nichtfachmann, der Laie, beim Anhören neuester Musik hat. In die Werke etwa eines Max Reger oder Debussy kann er sidi, auch wenn ihm anfänglich einiges ungewohnt schien, einhören Denn es handelt sich in den Werken dieser beiden Musiker — deren Namen hier nur paradigmatische Bedeutung hat — im wesentlichen um eine Erweiterung der Harmonik und um Differenzierung des Orchesterklanges. Seit dem Impressionismus müssen wir jedoch feststellen, daß die Musik beim Hörer gleichsam auf Widerstand stößt. Wir wollen uns mit der billigen Erklärung, daß dies zu jeder Zeit so gewesen sei (es war übrigens nicht immer so!) nicht begnügen, sondern wollen versuchen, einige der Gründe zu finden.

Die Welt der Formen bleibt bei dieser Untersuchung außer Betracht. Denn hiebei handelt es sich, wie Georg Simmel einmal ausgeführt hat, um ein zeitloses, um ein ewiges Problem, da immer ein Konflikt bestehen wird zwischen dem Anspruch auf Dauer, den jedes vollwertige Kunstwerk erhebt (und der mit dem der Form aufs engste verbunden ist), und dem stets im Fluß, im Werden und Vergehen befindlichen Lebensprozeß. Außerdem hat es sich wiederholt gezeigt, von welch geringem Erkenntniswert formkritische Untersuchungen sind, ganz davon abgesehen, daß sie immer erst post festum durchgeführt werden können und keinen normativen Wert haben. Sie münden letzten Endes in die geistvolle Frage, was denn nun eigentlich zuerst dagewesen ser das Ei oder die Henne?

Wir sagten eingangs, daß die Fundamente des musikalischen Gebäudes erschüttert wurden Dies geschah durch den gleichen Meister, der in der großen Reihe der Tradition der letzte war und von dem sein Landsmann Andre“ Maurois eine seiner Romanheldinnen sagen läßt: „Die ganze moderne Musik stammt von ihm ab.“ Und Debussy war in der Tat ein großer Neuerer: er hat ein für allemal das symmetrische Formschema überwunden; er hat die Harmonik außerordentlich bereichert und die Klangfarbe des Orchesters differenziert und ihr neue Leuchtkraft verliehen; er hat, nicht als erster, aber am überzeugendsten, exotische Elemente in die abendländische Musik eingeführt; und er hat schließlich den Rhythmus, der im romantischen Klanggewoge unterzugehen drohte, wieder in seine Rechte eingesetzt. Und trotz dieser bedeutenden Neuerungen empfinden wir seine Musik, oft schon beim ersten Anhören, als „schön“ Meiner Meinung nach deshalb, weil er als Romane die hohe Kunst des Maßhaltens in höherem Grade besaß, als viele seiner Kollegen und Zeitgenossen. Und ferner deshalb, weil die einzelnen Elemente (Harmonik, Klang, Farbe, Rhythmus) verbunden werden durch ein Ubergeordnetes, das wir andeutungsweise mit dem Terminus „das Atmosphärische“ zu kennzeichnen versudien.

Seither können wir beobachten, wie sich bei den führenden großen Neuerern die einzelnen Elemente gleichsam selbständig machen. Um zu verdeutlichen, was gemeint ist, vereinfachen wir bewußt und stellen fest, daß eine Überbetonung, eine Präpon-deranz des Harmonischen stattfindet bei Schönberg, die des Rhythmus bei Stra-

winsky und der Stimmführung bei Hinde-mith. Bei Schönberg setzt diese Entwicklung mit der „Kammersinfonie“ op. 9 aus dem Jahre 1906 und dem 2. Streichquartett op. 10 ein. Straw:nkys gewollt primitive Motivtechnik, die aus der russischen Volksmusik stammt, und sein fast monomanischer Rhythmus, brechen zum erstenmal im „Petruschka“ 1912 durch und entladen sich am elementarsten im „Sacre de Printemps“ 191? (beide; bezeichnenderweise, Ballett-Kompositionen). Hindemitb findet über die parodistisch negierende Haltung seiner Frühwerke bald zu der für ihn so charakteristischen plastisch-linearen Melodieführung, zu jenem musikantischen Stil, der durch ein? lebhafte figuntive Bewegung der Einzelstimmer. gekennzeichnet ist, und schenkt un* als eines seiner letzten Werke ein „Ludus tona!:s“. (Hindemiths Harmonik, besonders die der späteren Werke, ist weniger revolutionär ils man uns glauben machen wellte. Er hat das selbst in Form einer Selb'tanalvse im Anhang zur „Unterweisung im Tonsatz I“ sehr schön und überzeugend nachgewiesen.)

Manchen Leser mag es vielle:cht befremden, daß in der Reihe der großen. Neuerer der Name Richard Strauß fehlt. Es geht uns hier aber um die Bausteine und nicht um die Vervollkommnung der alten Gattungen, zum Beispiel d;e der Symphonischen Dichtung und die d;i Reiz-Oper. Und was die wirklichen großen Neuerungen anbetrifft, so scheint uns Strauß mehr zu deren Konsumenten als zu deren Findern zu gehören, Es ist aber das Schicksal des Bahnbrechers und Propheten, neues Land zu entdecken, ohne sogleich seine Früchte zu genießen. Womit keine Herabsetzung, sondern nur eine Kennzeichnung verschiedener Typen ausgesprochen sein soll.

Niemand vermag die Zeit, in der er lebt, zu überblicken, und keine Epoche kann sich selbst die Diagnose stellen. Mit dieser Einschränkung und unter diesem Vorbehalt darf aber vielleicht doch gesagt werden, daß es die Aufgabe unserei Zeit (des vergangenen und dieses Jahrzehnts) zu sein scheint, die Grundfragen zu klären und die Bausteine bereitzustellen Kann man in einer solchen Zeit überhaupt hoffen, daß

Kunstwerke von hohem Wert und von einiger Dauer geschaffen werden? Dahin zielte auch, was man gelegentlich von Ausübenden und Laien hören kann: man solle in der gegenwärtigen Situation überhaupt nicht komponieren! Und in der Tat: nichts scheint gefährlicher und verderblicher, als eine vorzeitige Synthese erzwingen zu wollen. Das war ja der Grundfehler der „Kulturpolitik“ (nebenbei eine contra-dictio in se) der Zeit von 1933 bis 1945, daß man auf der einen Seite alles wirklich Neue und Zukunftweisende ablehnte oder sich durch Absperrung davon ausschloß, andererseits aber auf dem Gebiet der Musik — analog wie auf dem der Dichtung und der bildenden Kunst — eine epigonale Richtung von staatswegen begünstigte, die in ihren beiden Zweigen (Wagner-Nachahmung und Spätromantik; Anknüpfung an barocke Formen) unfruchtbar sein mußte. Diese „Gebrauchsmusik“, die wohl jeder noch in lebendiger Erinnerung hat, war traditionshörig in der Form, ängstlich

und unorigjnell in der Harmonik, langweilig im Rhythmischen und asketisch im Klanglidien. Das aber kommt, wenn alle diese Mängel in einem einzigen Werk zu schöner Synthese vereinigt sind, einem musikalisdien Todesurteil gleich.

Es ist daher besser und ehrlicher, zu erkennen, daß wir uns auf dem Gebiet der Musik, wie auf so vielen anderen Gebieten des Lebens und der Kunst, im Stadium der Diskussion befinden. Diskussion aber hat. und das gehört zu ihrem Wesen, voraussetzungslos zu sein und die Grundfragen zu klären. Gleichzeitig wollen wir aber nidit vergessen, daß eine vernünftige und zweckvolle Diskussion am Sdiluß zu neuen Erkenntnissen und Ergebnissen zu führen hat, die in die Tat umgesetzt werden müssen. Ich hoffe, nicht in dem Sinn mißverstanden zu werden, als sei es möglich oder auch nur wünschenswert, daß man auf dem Gebiet der Kunst etwas diskutiere, beschließe und dann verwirkliche. Denn die große Synthese, die schöpferische Tat ist Gnade, ist Sache und Aufgabe des Genies. Vielleicht weilt dieser schöpferische Genius schon unter uns, vielleicht gibt es ihn sdion irgendwo in einem anderen Land. Von dem Neuen, das dort in der Zwischenzeit geschaffen wurde, ist audi bis zu uns schon dunkle Kunde gekommen. Nachridaten, die uns sehr neugierig gemacht haben und zu den schönsten Hoffnungen berechtigen. Aber — „besdiriebene Musik ist wie ein erzähltes Mittagessen“, hat Brahms einmal gesagt. Jedenfalls sehen wir den angekündigten neuen Werken mit freudiger Spannung und Erwartung entgegen.

II.

Neue Musik, und zwar durchwegs wertvolle und interessante Werke aller Richtungen, wurde uns während der letzten Morfate vor allem durch die „Internationale Gesellschaft für Neue Musik“ vermittelt, die sofort nach Kriegsende ihre unterbrochene Tätigkeit wieder aufnahm, am 28. Juni vorigen Jahres zum erstenmal vor die Öffentlichkeit trat und seither sechs gutbesuchte Konzerte veranstaltete. Was in diesem Rahmen gebeten werden konnte, wurde zu Gehör gebracht. Die Programme waren in sich gesdilossen und abwechslungsreich, die Ausführung ließ kaum einmal einen Wunsch offen. Ihre vornehmste Aufgabe erblickten die Veranstalter darin, nachzuholen, was wir bisher versäumen mußten: so zum Beispiel die in der Zwischenzeit entstandenen Werke der Altmeister der Neuen Musik Hiridemith und Strawinsky. Es gab auch interessante Wiederaufführungen bei denen der jungen Generation manche carmina non prius audita vorgesungen wurden. Ich meine vor allem den Liedsrabend des Schönberg-Kreises mit den George-Liedern des Meisters und Liederzyklen seiner Schüler Alban Berg, Anton Webern und H. E. Apostel. Frankreich war, neben Debussy und Milhaud, mit den jüngeren Komponisten Kaufmann und Tournier vertreten, die Schweiz durch den Wahlfranzosen Honegger. Von Rußland gab es ia diesem Rahmen bisher nur eine bescheidene Probe mit einem Werk von Proko-fieff, dagegen machte man an einem Abend gleich die Bekanntschaft mit vier jungen amerikanischen Komponisten. Der Südosten spradi durch je ein Werk von Janacek und Moyzes, Ungarn ebenfalls mit je einem Werk von Kodaly und Bartok zu uns. Nicht sehr ausgiebig war bisher Österreich vertreten. Neben dem bereits erwähnten Liederabend des Schönberg-Kreises hörten wir einen Liederzyklus von Hanns Eisler, eine Passacaglia und Fuge von Eckhardt-Gramatte und eine Toccata für zwei Klaviere von Anton Heiller. Diese Reihe wird hoffentlich bald ergänzt durch weitere Werke, unter denen die Kompositionen eines jungen aufstrebenden Talents, Paul Angerer, nicht fehlen mögen.

Die Konzerte der IGNM umfaßten bisher nur Kammermusikwerke und wandten sich an einen kleineren Kreis. Und das war vielleidit gut so. Wir wollen die Dinge ruhig beim Namen nennen und fürchten nicht, mißverstanden zu werden: So, wie es Kunst für alle gibt — und nicht nur Kinder der leichten Muse —, so kann und mag es zw bestimmten Zwecken auch Veranstaltungen für einen engeren Kreis geben. Nicht einer Musik für Musiker soll das Wort geredet werden, aber an einem einzigen Beispiel möge erläutert werden, was gemeint ist. In einem der letzten Konzerte, das übereinstimmend als das bisher wert-

vollste und interessanteste der IGNM be-zeidmet wurde, spielte man eine Sonate von Bartok. Eine ungewöhnliche Besetzung: zwei Klaviere und ein riesiger Schlagwerkapparat, den drei Musiker bedienten, die an einigen Stellen budistäblich alle Hände voll zu tun hatten —, und eine noch ungewöhnlichere Musik. Diese Musik, deren Wert hier gar nicht weiter diskutiert werden soll, hatte für den Musiker oder für Kollegen von den „anderen Fakultäten“ nidit nur viel Anregendes, sondern geradezu etwas Aufregendes. Eine einmalige Klangvision war hier verwirklicht worden, die aufreizend und inspirierend wirkte. Eine Tänzerin sagte nach der Aufführung, daß dies Stück auf sie den Eindruck einer „Sinfonie der Großstadt“ ge-madit habe und daß es sie dazu dränge, diesen Eindruck ins Choreographische zu übersetzen. Wie leicht aber kann eine solche Aufführung vor einem größeren, bunt zusammengesetzten Forum nicht nur ihre Wirkung verfehlen, sondern unter Um-

ständen“ ganz unerwartete Reaktionen auslösen — zum Schaden des dargebotenen Kunstwerkes und zum Leidwesen der wenigen, die es angeht und die es ungestört genießen wollen

Daher mögen die Veranstaltungen der IGNM bis auf weiteres auf den Rahmen beschränkt bleiben, den sie bisher mit soviel Geschmack und Geschick ausgefüllt hat, so sehr es auch zu wünschen wäre, daß sie ihre Tätigkeit auch auf moderne Orchesterwerke ausdehnen möge. Erwachsen einmal aus unserer Mitte oder kommen von auswärts zu uns jene großen repräsentativen Werke, die eine Synthese jener Elemente darstellen, von denen diese Be-traditung handelt, dann mögen sie einem nicht nur staunenden, sondern auch bewunderndem und ergriffenem Publikum dargeboten werden Jedes bedeutende Werk neuer Musik aber wird in seinem Fundament und in seiner Mauern jene Steine aufweisen, die jetzt gebrodien und behauen werden.

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