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Das Altern der neuen Musik

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Die Musica nova von heute ist die Musica antiqua (oder incognita) von übermorgen, und die Moderne von gestern bekommt Runzeln. Sie zeigt sie in unserer Zeit — infolge der rasanten Entwicklung neuer musikalischer Techniken und Kompositionsverfahren während der letzten zehn Jahre — früher als zwischen 1900 und 1950. Zu solchen — und noch trüberen — Gedanken regte das letzte Konzert des Ensembles „die reihe“ im Mozartsaal an. Karlheinz Stockhausen, Jahrgang 1928, schrieb sein „Kreuzspiel“ 1951. Es war eine der ersten „punktuellen“ Kompositionen und beeindruckte damals sowohl durch die Gruppierung und Verwendung der vielerlei exotischen Schlaginstrumente wie auch durch die neue (sich dem Ohr freilich kaum erschließende) Technik. Solche sich zeitlich und räumlich kreuzende Klangvorgänge haben wir in der Zwischenzeit viele erlebt. Das von Stockhausen arrangierte „Kreuzspiel“ zeichnet sich durch brutalen Lärm aus. (Aber das hat Varese 20 Jahre früher schon besser gemacht!) Überdies ist das etwa 15 Minuten dauernde Stück um zehn Minuten zu lang. Wir haben seinerzeit die erste und — in Fragmenten — die zweite Sonate von Pierre Boulez (Jahrgang 1925) gehört. Gegenwärtig bastelt er an seiner dritten, einem „work in progress“ in mehrfacher Beziehung, zumal auch der Interpret durch Auswahl der einzelnen Teile (Texte, Parenthese, Glosse und Commentaire) schöpferisch mitwirken muß.

Das neue Werk verdankt, was Anlage und Details betrifft, seine Eigenart „mehr literarischen Berührungen des Autors als musikalischen Erwägungen“. Das darf man dem hochtalentierten Künstler ebenso glauben wie die Ehrlichkeit seiner Arbeit. Doch scheint uns,daß, wo sich diese auf literarische Vorlagen stützt (etwa in „Le Marteau sans Maitre“ oder in den „Improvisations sur Mallarme“), erfreulichere Resultate gezeitigt werden. — Sehr lesenswert sind im Programmheft die Erläuterungen zu der Technik von Boulez, insbesondere zu seiner neuen Sonate, durch Rudolf Klein. Aber hören — ao, wie es der Autor gemeint und konzipiert hat — kann das kein Mensch. (Else Stock-Hug war die nicht zu beneidende Interpretin.)

„Fünf geistliche Lieder“, op. 15, von Anton von Webern, bereits vor 40 Jahren geschrieben, sind um nichts sangbarer geworden. Nur singt man sie heute — dank des jahrelangen Trainings durch ähnliche Kompositionen — wesentlich leichter (Marie Therese Escribano). Auch die Relation zwischen den schönen, alten geistlichen Volksliedtexten und ihrer Vertonung ist um nichts überzeugender, und die Bezeichnung „expressionistisch“ hilft ebenfalls nicht weiter.

Wenn man diese Musik hört, so versteht man Maurice Ravels Einwand gegen die deutsche Musik zwischen Reger und Hindemith: Sie sei ihm zu gelehrt; er und seine französischen Komponistenkollegen schrieben nur „Unterhaltungsmusik“. Das an diesem Abend aufgeführte Stück, „Introduction et Allegro“, für Harfe, Streichquartett, Flöte und Klarinette ist allerdings ein besonders charmantes Beispiel für diese Art Divertissement, die Ravel meinte, zumal, wenn eine so ausgezeichnete Künstlerin wie Christine Anders am Soloinstrument sitzt, das überdies einen besonders schönen und sonoren Klang hatte. — Diese Komposition, schon 1906 geschrieben, also ein Frühwerk Ravels, zeigt keinerlei Altersrunzeln. Ebensowenig wie Strawinskvs Oktett für Bläser von 1923, also schon 40 Jahre alt. Die beiden knapp 20 Minuten dauernden Sätze, „Sinfonia“ und „Tema con Varia-zioni“, bekunden von der ersten bis zur letzten Note die Handschrift eines Meisters. Substanz, Form und Klanggestalt stehen zueinander in idealem Verhältnis. Und der Hörer wird aufs geistvollste unterhalten. (Ausführende des sehr instruktiven Konzerte waren Mitglieder des Ensembles „die reihe“ unter der Leitung von Friedrich Cerha.)

Der junge deutsche Dirigent Thomas Baldner, seit einem Jahr ständiger Leiter des Rheinischen Kammerorchesters, das in der laufenden Saison in seiner Heimatstadt acht interessante Konzerte mit vorwiegend modernem Programm veranstaltete, gastierte mit seinem Ensemble im Mozart-Saal des Konzerthauses. Auch hier spielten die deutschen Gäste ausschließlich neue und neueste Werke. Zunächst Fünf Essays des 1924 in Kroatien geborenen Milko Kelemen, der in seiner Heimat und auch auf westlichen Musikfesten als Avantgardist einen gewissen Namen hat. Seine seriellen Miniaturen von insgesamt neun Minuten Dauer klingen, wie wir's von Musik dieser Art gewohnt sind. Wesentlich mehr Schwung, Stimmung und Lyrismus zeigt die einsätzige „Fantasia concertante“ des in Budapest geborenen, seit 1935 in London lebenden Matyas Seiber (1905 bis 1960). Der Solist des keineswegs spröden, stellenweise sogar effektvoll-virtuosen Soloparts war Peter Herrmann. Die weitaus härteste Nuß gab den Exekutanten und dem Publikum Henri Pousseur mit seinen „Traits“ für 15 Streicher zu knacken. Es ist eine jener ganz neuen und neuartigen Partituren, die, auf unsere traditionelle Notierung verzichtend, Schnittmusterbogen oder graphischen Blättern gleichen, den Ausführenden weitgehend Freiheit lassen — und entsprechend klingen. In Bartöks oft gespieltem „Divertimento“ zeigten die 16 Instrumentalisten eine bedeutende Klangkapazität, die sie wohl größtenteils der Schulung durch ihren energischen und intelligenten Leiter verdanken. Trotzdem bevorzugen wir bei diesem Werk die Besetzung für größeres Streicherkorps.

Am Beginn des von Heinz Wallberg geleiteten 6. Konzerts im Zyklus „Die große Symphonie“ standen Hindemiths drei Instrumentalsätze aus seiner Oper „Mathis der Maler“: Eine großartige, immer wieder fesselnde Musik, die uns den plötzlichen Tod des Komponisten als schweren Verlust für die zeitgenössische Musik — und nicht nur für diese — empfinden läßt. — Solist des 2. Klavierkonzerts von Chopin war ein sehr junger, sehr schlanker, sehr romantisch aussehender Herr namens Andre Tschai-kowsky, der den Solopart zart und schüchtern — wie ein junges Mädchen — spielte. Aber ist das der ganze Chopin? Man müßte, um sich über das künstlerische Format des jungen Pianisten ein Urteil bilden zu können, noch andere Werke von ihm hören. — Den Abschluß des von den Wiener Symphonikern ausgeführten Konzerts bildete die Symphonie „Aus der neuen Welt“ von Dvorak.

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