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Musik der Nationen

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Um uns ein Bild von der Kultur und dem Kunstschaffen jenseits unserer Grenzen machen zu können, waren wir bisher fast ausschließlich auf Theaterstücke, Filme und Musikwerke angewiesen. In der Musik, der immateriellsten und zugleich wesenhaftesten Kunst, spiegelt sich — jenseits der Tagesereignisse und Oberflächenströmungen — vielleicht am deutlichsten die Eigenart und der gegenwärtige Zustand der Kultur unserer engeren und weiteren Umgebung. Freilich vermochten uns die zahlreichen Konzerte mit Werken zeitgenössischer europäischer oder amerikanischer Tondichter, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum mehr als vorläufige Orientierung zu bieten. Zu einem fruchtbaren Austausch ist es kaum noch gekommen. Man bedauert dies um so mehr, als man das Gefühl hat, daß wir Österreicher dem Auslande Wertvolles und Interessantes zu bieten hätten — zumal wir immer wieder feststellen müssen, daß außerhalb unserer Grenzen auch nur mit Wasser gekocht wird, und zuweilen sogar recht dünn.

Ein Novum bildete für die meisten unserer Musikfreunde die symphonische Musik Amerikas. Der ersten Musikepoche der Neuen Welt entstammt Mac Dowelts Klavierkonzert in d-moll, das 1885 in Europa beendet und vier Jahre später in Amerika uraufgeführt wurde. Ein Eigenton ist kaum zu hören; das beste daran stammt von Grieg und Schumann. (Robert Wallenborn war der vom Tonkünstlerorchester begleitete Solist.) Im gleidien Konzert hörten wir zwei Stücke aus dem Ballett „R o d e o“ von A. Copland. Wohl enthalten die beiden Tanzszenen typische, zum Teil auch folkloristische Elemente, doch sind sie als Kompositionen so schwach, daß die Notwendigkeit der Aufführung gerade dieses Werkes im Rahmen eines repräsentativen Konzertes nicht eingesehen werden kann (Französisch-amerikanisches Konzert unter Dr. Hans Wolf).

Der junge tschechische Dirigent R a f a e l K u b e 1 i k, ein Sohn des großen Geigers, brachte uns die IV. Symphonie seines in Amerika lebenden Landsmannes Bohuslav Martinu (geb. 1890). Von diesem Werk wird uns berichtet, daß es einen Siegeszug durch die Konzertsäle der Welt gemacht habe. Welchen Vorzügen Martinus Symphonie diese Aufnahme dankt, wurde nach einmaligem Anhören des vor allem rhythmisch außerordentlich komplizierten und schwierigen Werkes nicht klar. Eigenartig und ansprechend ist ein zartes folkloristisches Filigran, das um die etwas dürren Themen gelegt ist. Der entscheidende Fehler scheint jedoch in der unklaren stilistischen Haltung des Werkes zu liegen, das zwischen Stra-winsky und Ridiard Strauß pendelt. Um so weniger befriedigt das neueste Werk von Martinu, wenn wir es mit dem strengen, gehaltvoll-ernsten Doppelkonzert für Streicher, Klavier und Pauken vergleichen, das mehrere Jahre früher in Europa entstanden ist. Sollte sich die Neue Welt dem Schaffen des tschechischen Komponisten ungünstig erwiesen haben? (Die mit großer Aufmerksamkeit spielenden Wiener Symphoniker waren die Ausführenden.)

Von Bela Bartök hörten wir das 1936 noch in Europa entstandene dreiteilige „Divertimento“ für Streichorchester. Wie die meisten Kompositionen des großen ungarischen Meisters machte das Werk einen zwiespältigen Eindruck. Bartöks Herz gehörte der heimatlichen Folklore, sein scharfer Verstand war ständig mit Klang-, Form- und Harmonieexperimenten beschäftigt. Nur in wenigen Werken ist es bei Bart6k zu einem glücklichen Ausgleich zwischen Kopf und Herz gekommen. Das „Divertimento“ gehört nicht zu diesen seltenen Werken. Jeder Teil enthält prachtvolle, vielversprechende Ansätze, an die sich aber immer wieder grüblerische und abstrakte Partien ansdiließen, so daß die Gesamtwirkung ausbleibt. Doch sind auch die weniger inspirierten Stellen von einer herben Schönheit, die wir nicht missen möchten. Weniger kompliziert als Persönlichkeit und als Musiker ist Zoltän Kodäly. Auch er kommt ganz von der ungarischen Folklore her, gestaltet jedoch weniger konstruktiv, sondern arbeitet mit den Ausdrucksmitteln des westlichen Impressionismus. Kodäly steht näher bei Debussy als bei Strawinsky oder Schönberg, denen Bartöbs Kunststil verpflichtet ist. In dem „P s a 1 m u s hungaricus“ für Tenor, Chor und Orchester ist ihm — ein seltener Glücksfall in der Geschichte der neuen Musik — ein repräsentatives Werk der „Moderne“ und zugleich eine volkstümliche Komposition gelungen: eine Art zweiter Hymne des Ungartums. Der Text des Oratoriums ist die Nachdichtung des 55. Psalms durch den im 16. Jahrhundert lebenden ungarischen Dichterprediger Michael Veg aus Kecskemet. Die Klage des Königs David wird zur Klage des ungarischen Volkes. Seit der Uraufführung zur Jubiläumsfeier der ungarischen Hauptstadt ist Kodälys Psalm eine der meistaufgeführten Kompositionen der neueren ungarischen Musik. Doch auch der Fremde kann sich dem schwungvollen, hinreißenden Werk nicht entziehen, zumal wenn ein Ungar es interpretiert (Ferenc Fricsay dirigierte die Wiener Symphoniker, die Chorvereinigung der Volksoper und den Akademie-Kammerchor). Die beiden zuletzt besprochenen Konzerte wurden von der Wiener Konzerthausgesellschaft veranstaltet, die das Tor zur Welt der neuen Musik aufgestoßen und trotz schwierigster Umstände durch volle zwei Jahre tapfer offengehalten hat.

Einen aufschlußreichen Einblick in das zeitgenössische Schaffen des Nordens gewährte uns das skandinavische Festkonzert unter der Leitung des jungen dänischen Dirigenten Arne Hammelboe, Kopenhagen. Norwegen war mit G r i e g s Huldigungsmarsch aus „Sigurd J o s a 1 f a r“ vertreten, Schweden mit Hugo A 1 f v e n s volkstümlicher Suite „Midsommar-vaka“, Dänemark mit Carl Nielsens „Kleiner Suite für Streicher“ op. 1 und L e i f K a y s e r s festlicher Ouvertüre „Kong Kristian stod“ und Finnland mit der 5. Symphonie von Jan Sibelius. Alfven und Nielsen gehören der älteren Generation an und reichen in ihrer Technik und Harmonik kaum über Grieg hinaus. Den weitaus stärksten und ursprünglichsten Eindruck machte Sibelius, dessen Symphonien nicht an der Norm unserer klassisch-romantischen Kunst gemessen werden dürfen. Audi seine 5. Symphonie ist ein breitangelegtes Tongemälde seiner rauhen nordischen Heimat: weiträumig-monoton und wie von dichten Nebeln verhangen. Von allen zeitgenössischen Komponisten ist die Musik von Sibelius vielleicht am stärksten von der heimisdien Landschaft inspiriert. Dies macht die Stärke ihrer suggestiven Wirkung aus — und ihre Sdiwäche, wenn sie unvermittelt in den Rahmen eines klassischen Programms gestellt würde. Die junge Generation vertrat der 1919 geborene Kayser, der als eine Hoffnung der dänischen Musik bezeichnet wird und eine ganze Reihe größerer Werke geschrieben hat, darunter zwei Symphonien und ein Weihnachtsoratorium. Die kurze Probe, die wir hören durften — eine Gelegenheitskomposition zum 70. Geburtstag König Christians X. — genügt nicht, um ein Urteil über den Umfang seines Talents abzugeben. Das auf dem alten dänischen Königslied aufgebaute Orchesterstück ist eine saubere akademische Arbeit, bei deren Polyphonie und festlicher Stimmung die Meistersinger-Ouvertüre Pate gestanden hat. Unter der sehr sicheren, klaren und von jeder Pose freien Leitung Hammelboes spielten die Wiener Symphoniker das bunte Programm größtenteils unbekannter Werke mit bemerkenswerter Sicherheit.

Bergenz, Dezember. Das kleinste Bundesland Österreichs, Vorarlberg, besitzt in der Vorarlberger Oratorienver-eüiigung einen einzigartigen künstlerischen Ver-band.

Als im Jahr 1930 Musikdirektor Odo Polzer aus der Steiermark nach Bregenz berufen wurde, fand er in gewissem Sinne musikalisches Neuland vor. Zunächst gestaltete er aus dem Cäcilienverein den Stadtpfarrchor Bregenz, der in kurzer Zeit künstlerisches Ansehen über die Grenzen des Landes hinaus gewann. Aus dem Stadtpfarrchor wuchs die Vorarlberger Oratorienvereinigung hervor, ein Klangkörper von über 100 Chor- und 50 Mann Orchestermitgliedern, der schon am Palmsonntag 1931 Beethovens einziges Oratorium „Christus am ölberg“ und Max. Springers „Abend auf Golgatha“ zu Gehör brachte. Jene Aufführung wurde in der Musikgeschichte des Landes ebenso bedeutsam wie die Kunstreise nach Bologna im Frühjahr 1934. Die Vereinigung wuchs bis auf 250 Mitwirkende; sie durfte sich an die bedeutendsten Werke der Musikliteratur wagen. 1941 wurde die Vereinigung kurzerhand verboten.

Unmittelbar nach der Befreiung im Mai 1945 wurde die Arbeit mit einem Stand von 200 Mitgliedern wieder aufgenommen und trotz aller zeitbedingten Schwierigkeiten gelang die vollendete Wiedergabe von Rossinis „Stabat mater“, Haydns „Die sieben Worte des Erlösers“, Mozarts „Requiem“, Haydns „Jahreszeiten“, Brudcners „Großer Messe in f-moll“ usw. Mit Besuchen im Fürstentum Liechtenstein sowie in der Schweiz hat die Vorarlberger Oratorienvereinigung ihren Ruf neuerlich auch, außerhalb der Grenzen Österreichs bewährt. H. H.

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