6633633-1957_01_10.jpg
Digital In Arbeit

Musik der Schweiz — vom Barock zum „Weltenschrei”

Werbung
Werbung
Werbung

In dem vom Oesterreichischen Rundfunk veranstalteten Zyklus „Musik der Nationen” dirigierte der Schweizer Jean Meylan ein zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstandenes Concerto für Streichorchester von Henricus Albicastro (Weißenburg), der von den großen Italienern Corelli und Vivaldi den prunkvollen Klang und von Händel die schöne, gerundete Form hat. — Bei keinem anderen Komponisten fanden wir einen so direkten Einfluß Beethovens, der bis in die Details der Orchestrierung geht, wie bei dem genialischen und unglücklichen Aargauer Friedrich Theodor Fröhlich (1803 bis 1836), dessen Symphonie in A-dur zum ersten Male aufgeführt wurde. — Othmar Schoecks Opus 1 beginnt in echtem, liebenswürdig-elegantem Serenadenton, wird dann aber ein wenig süßlich und gerät in allzu große Strauß-Nähe. — Von H o n e g- g e r i IV. Symphonie mit dem Titel „Deliciae Basiliensis” erfreut vor allem der dritte, scherzo- artige Satz mit dem von Piccolo, Flöten und Trommeln intonierten „Basler Morgenstreich”. Dieser von Jean Maylan mit Intensität und Präzision vermittelte Querschnitt durch drei Jahrhunderte schweizerischer Musik war lehrreich und interessant.

Honeggers weltliches Oratorium „Crisdumonde” wurde bereits vor ,25 Jahren durch den Cäcilienverein Solothurn uraufgeführt und mag damals der Dernier cri der literarischen und musikalischen Mode gewesen sein. Das gilt aber nur in bezug auf den Stil der Dichtung Renė Bizets, nicht von ihrem Gehalt, ihrem Anliegen. Sie dramatisiert den Konflikt des Menschen von heute, der sich nach Ruhe, Einsamkeit und Sammlung sehnt, aber immer wieder in den Betrieb und Lärm des technischen Zeitalters hineingerissen — und von diesem zuletzt zermalmt wird. In dem eine knappe Stunde dauernden Monumentalwerk, das stilistisch mit den andern großen „Fresken” Honeggers verwandt ist, manifestiert sich eine wirkliche Kraft, die’die symphonischen und choralen Klangmassen bewegt. Nach lyrischen Partien und zuweilen recht banalen Klangmalereien gipfelt das Werk im letzten Chorsatz, wo die Stimmen des Meeres und der Berge, des Weltenraumes und der unbekannten Städte, der Arbeiter und Soldaten in einem hinreißenden, von Jazzrhythmen des Orchesters grundierten Quodlibet zusammenprallen: in den Schreien der Welt, wie der deutsche Titel eigentlich lautet. — „Babel” für Männerchor, Sprecher und Orchester von Strawinsky, war als Teil eines großen Genesis-Oratoriums gedacht, dessen einzelne Episoden von verschiedenen zeitgenössischen Komponisten ausgeführt wurden bzw. komponiert werden sollten (Milhaud, Toch, Schönberg, Hindemith, Bartök, Prokofieff u. a.). Es kam nicht zur Ausführung dieses ein wenig babylonisch anmutenden Projekts, aber wir haben das höchst eindrucksvolle Fragment Strawinskys, das besonders durch die strenge, lapidare Art, wie die Worte Jehowas (nach der Vulgata) wiedergegeben sind, aufschlußreich ist. — Gewissermaßen als Annex zu seinem venezianischen „Canticum sacrum” schrieb Strawinsky die Choralvariationen über „Vom Himmel hoch” nach J. S. Bach für kleinen gemischten Chor, zehn Streicher (ohne Violinen und Celli) und ein Dutzend Bläser: ein klares, durchsichtiges, helles und festliches Zehnminutenwerk, das in Geist und Klang dem großen Vorbild sehr nahe steht. Der von Hans Gillesberger einstudierte Riesenchor der Singakademie hat besonders in dem Honegger-Oratorium unter der Leitung Paul Sachers, dem wir dieses interessanteste Konzert der Saison zu danken haben. Außerordentliches geleistet.

Es war erregend und hocherfreulich, unter Lovro von Matacic im Zyklus „Die große Symphonie” wieder einmal die dramatisch-pathetische Musik zu hören, die Tschaikowsky über das Thema „Romeo und Julia” geschrieben hat. Im gleichen Konzert gab es noch eine zweite interessante Wiederbegegnung: mit dem ausgezeichneten, kraftvoll-männlichen und unfehlbaren Geiger Ricardo Odnoposoff in dem Violinkonzert von Sibelius, das etwas von jener Vis symphonica besitzt, die wir in den bekannteren Werken des großen Finnen immer wieder bewundern. — Unter dem versierten, kraftvoll-energischen Leiter spielten die Wiener Symphoniker mit Präzision und Schwung.

Uneingeschränkte Anerkennung gebührt diesem Orchester auch für ‘ein Konzert, das es unter dem Jungen Dirigenten Lorin Maazel im Konzerthaus absolvierte. Dieser scheint ein guter „Probierer” zu •ein. läßt aber bei der eigentlichen Aufführung das Orchester mehr erraten als wissen, was er will. Seine Interpretation von Tschaikowsky 6. Symphonie litt unter einigen völlig unstatthaften Willkürlichkeiten, dagegen waren wir für die elementare,, spannungsgeladene und aufpeitschende Musik zu dem Ballett „Der wunderbare Mandarin” von Bartök “in der Interpretation Maazels dankbar. — Der talentierte Junge französische Geiger Devy E r 1 i h hat mit dem Violinpart eines K ern z e r t s von Bohuslaw Martinu eine ebenso schwierige wie unlösbare Aufgabe übernommen: sich gegen die ungegliederten Massen eines viel zu dick besetzten Orchesters zu behaupten. — Von einigen Anfangstakten abgesehen, könnte jeder der drei Sätze dieses „neuen” Violinkonzerts vor 50 oder 80 Jahren geschrieben worden sein. — Der an dieser Stelle wiederholt gerühmte, in den USA lebende tschechische Komponist bereitete mit diesem Werk allen, die ihn schätzten, eine arge Enttäuschung.

i

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung