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Wer wagt, gewinnt

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Nicht immer 1st ein so glanzvoller tmd würdiger Anlaß wie die 1200-Jahr-Feier des Salzburger Domes für eine Uraufführung gegeben: Der ORF war der Mäzen, der an Krzysztof Penderecki vor einem Jahr einen Auftrag erteilte, den dieser zeitgerecht, von November 1973 bis Juli 1974 teils in Krakau, ieUs in den USA realisierte. Anfangs dachten die Salzburger Initiatoren an einen auf die Stadt oder den Dom bezüglichen Text, aber dann entschied man sich für das „Magnificat“ aus dem Lukasevangelium. Das erinnert uns an den ersten Kontakt Pendereckis mit Salzburg i“or vier Jahren: als im Dom seine „Lukaspassion“ aufgeführt wurde, mit der die Reihe der ORF-Konzerte mit neuer Musik im Rahmen der Festspiele begann.

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Nicht immer 1st ein so glanzvoller tmd würdiger Anlaß wie die 1200-Jahr-Feier des Salzburger Domes für eine Uraufführung gegeben: Der ORF war der Mäzen, der an Krzysztof Penderecki vor einem Jahr einen Auftrag erteilte, den dieser zeitgerecht, von November 1973 bis Juli 1974 teils in Krakau, ieUs in den USA realisierte. Anfangs dachten die Salzburger Initiatoren an einen auf die Stadt oder den Dom bezüglichen Text, aber dann entschied man sich für das „Magnificat“ aus dem Lukasevangelium. Das erinnert uns an den ersten Kontakt Pendereckis mit Salzburg i“or vier Jahren: als im Dom seine „Lukaspassion“ aufgeführt wurde, mit der die Reihe der ORF-Konzerte mit neuer Musik im Rahmen der Festspiele begann.

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Es war damals ein zögernder und schwieriger Beginn. Und. nun, bei dieser Uraufführunig, war ea notwendig geworden, zusätzlich zu den aus- verkauften Sitzen weitere 400 Stehplätze auszuigeben. Ein großes Ensemble war aufgeboten: ziwei Chöre mit insgesamt 48 Stimmen, dazu ein Knabenchor, ein SolLstenensemble von 7 Männerstimmen mit Solobaß, ein mittelgroßes Orchester mit Harfe, Celesta, Klavier, Pauken und anderem Schlagwerk. Das 40-Minu- ten-Werk, das der Komponist selbst leitete, ist in sieben Sätze mit kontrastierender Besetzung und „Stimmung“ gegliedert. Es beginnt mit einem anscbwellenden tiefen Ton und einem mächtig sich steigernden Paukenostinato, der zweite Satz ist eine große Trippelfuge der sieben Solisten, zu denen der Chor tritt, so daß ein realer 55stimmiger Satz entsteht, stelleniweise auch viertel- tönig gesetzt; die mittleren Teile sind mit sparsamerer Kontrapunktik gearbeitet; im 5. Teil tritt zu den beiden Chören noch ein Knabenchor (Wiener Sängerknaben, Schola Cantorum, Stuttgart, und ORF-Chor, Wien); und im abschließenden Gloria wird das gesamte Ensemible eingesetzt. — Bedenkt man den ungewöhnlich großen Nachhall des Domes von acht Sekunden (vier Sekunden gelten als gerade noch erträgliches Maximum), so war die Leistung aller Ausführenden vorbehaltslos m bewundern. Darüber sei aber nicht vergessen, daß Penderecki, obwohl man natürlich unter diesen Umständen nicht alle kunstvollen Details wirklich hören konnte, ein überaus wirkungsvolles und auch profiliertes Werk geschaffen hat, das ihm und den Auftraggebern gleichermaßen zur Ehre gereicht.

Das wurde vom Herrn Erzbischof von Salzburg bei einem Empfang, den dieser gemeinsam mit dem Hörfunkprogrammdirektor Dr. Härtner nach dem Konzert veranstaltete, in freudig-ibewegten Worten ausgesprochen. Eine Pikanterie am Rande: Dem „Magnüicat“ Pendereokis waren Fragmente der Schauspielmusik zu „Le Martyre de Saint Sébastien“ von Debussy voraüsgegangen, die ‘ dieser 1910/11 für ein schwülstiges Mysterienspiel in fünf Akten von d’Annunzio geschrieben hatte. „Der Hof der Lilien“ oder ,J>as Glaubens-

gericht“ ist der Titel des 1. Teiles, hierauf folgen: „Die magische Kammer“, „Das Konzil der falschen Götter“, „Der verwimdete Lorbeer“ und „Das Paradies“ — ein heüloser Mischmasch von Mystizismus, Erotik und wollüstigem Märtyrertum. Ida Rubinstein, Startänzerin des Pariser Diaghilew-Balletts, mit über dem Kopf erhobenen Armen und so nackt, wie man sich das damals leisten konnte, an einen Lorbeerstamm gefesselt, aus vielen Wunden blutend: Das war dem damaligen Erzbischof von Paris zu arg, und er belegte das Werk und etwaige Besucher des fragwürdigen Sp>ektakels mit dem Bann. Aber der ahnungslose Debussy hat eine zauberhafte Musik dazu geschrieben, und es war ein Zeichen der Liberalität, daß man diese konzertant (mit Arleen Auger als Solistin und Milan Horvat als Dirigenten) im Salzburger Dom spielen ließ. Da allerdings bereitete der überlange Nachhall Schwierigkeiten, aber aus dem Lautsprecher soll die Musik Debussys sehr schön geklungen haben — und von dem wirren Text hat man eh nicht viel verstanden.

Nach dieser musikalischen Großtat folgte 2wei Tage darauf eine weitere: Endlich konnte man auch in Österreich, wenn auch nur konzertant und fragmentarisch, jenes Werk kennenlernen, daß ich für das bedeutendste des zeitgenössischen Musiktheaters halte; ,J5ie Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann, 1918 geboren und 1970 unter tragischen Umständen aus dem Leben geschieden. Bereits die Texfwahl weist auf den „Woyzek“-Dichter Georg Büchner. Dieser hat ja neben seinen Dramen auch eine Novelle über den aus dem Baltikum stammenden, in Moskau dem Wahnsinn verfallenen genialen Jakob Michael Reinhold Lenz geschrieben, wie es ihm der Straßburger Pfarrer Oberlin geschildert hatte. Überdies gibt es „Anmerkungen übers Theater“ von Lenz, die wohl zum Aufregendsten, weil so sehr in unsere Gegenwart Weisenden gehören, was über dieses Gebiet zu sagen ist, so daß die Faszination des Komponisten Ziramermann, der auch Germanistik, Geschichte, PhUosophie und Psychologie studiert hat und zuletzt eine Professur an der Kölner Musikhochschule innehatte, begreiflich ist… Aber es geht ja nicht in erster Linie um die Theorie von der relativierten Zeit, der zwischen morgen, gestern und heute pendelnden Handlung, um die Sprache in vielfachen Übergängen vom geflüsterten Wort zur Kantilene, sondern um eine geniale, fesselnde, aufregende, keinen Augenblick lang „auslassende“ Musik. Sie ist freüich von hoher, von höchster Kompliziertheit, und nach der Uraufführung in Köln 1965 (in deren Auftrag der Komponist die Partitur 1958 bis 1960 geschrieben hat, dann vert>rannte und in anderer Notation neu schrieb) sind „Die Soldaten“ nur in vier deutschen Städten gezeigt worden.

Wir hörten drei Szenen mit einer Gesamtdauer von etwa 45 Minuten, und es waren nicht nur die strengen, aber von Ausdruck glühenden Formen von Preludio Ricercari, Notturno, Capriccio, Córale und Ciacona, die uns an Alban Bergs „Wozzeck“, mehr noch an seine „Lulu-Symphonie“ erinnerten (ich hörte sie bei ihrer Wiener Uraufführung 1935, es war das letzte Konzert, das Berg besuchte, und das eiste Mal, daß er Musik aus seiner unvollendet gebliebenen Oper hörte), sondern es war der Ausdruck, die neuartige — von einem großen Vorbild inspirierte Sprache dieser Musik, die Bernd Alois Zimmermann als einen der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart — jedenfalls im deutschsprachigen Raum — ausweist.

Dies Werk, weni’gstens durch ein Gastspiel, dem Wiener Publikum vorzuführen, wäre wichtiger als adle die Intendanten-, Direktoren- und Dirigentenmätzohen, über die man sich den Kopf zerbricht. Bei der Wiedergabe dieser Musik in der Felsenreitschule vor etwa 800 Zuhörern — das ist nicht viel, aber auch nicht wenig, wenn man bedenkt. in welcher künstlerischen Unmündigkeit dieses Publikum seit zwei Jahrzehnten gehalten wird — hat das ORF-Symphonieorchester, diesmal tmter der Leitung von Leif Segerstam, Hervorragendes geleistet. Nicht zu vergessen die Solisten Gabry, Anderson, Wewezow, de Ridder, Runge und Rinzler.

In einem anderen Programm wäre vielleicht Luciano Berio mit seiner 1959 bis 1961 entstandenen „Epifanie“ der Star und Held des 2. Konzertes mit neuer Musik gewesen. Wir kannten diese Musik unter dem Titel Quademi I und II, die er 1965 umarbeitete, indem er (für Cathy Ber- berian, die auch die Solistin war) gesungene Texte von Proust, Machado, Joyce, Sanguinetti, Claude Simon und Brecht einmontierte. Berio ist ein Meister dieses Genres der Kombination von Vokal- und Instrumentalklang, ihrer verschiedenartigsten Beziehung zueinander, der wechselseitigen Erläuterung und Beleuchtung. Und er weiß, was sowohl auf dem Gebiet der Instrumentation wie auf dem der Literatur nicht nur gut und teuer, sondern auch wirkungsvoll und „modern“ ist. „Mit Essig fängt man keine Fliegen“, sagte Brecht einmal seinen Schauspielern. Berio jedenfalls handelt nach dieser Maxime — und hat Erfolg den wir jedem gutgemachten und talentierten Werk unserer komponierenden Zeitgenossen von Herzen gönnen. Aber der andere — Bernd Alois Zimmermann — ist eine geniale Begabung. Und das ist halt ganz etwas andereä — tmd ein großer Unterschied.

Neben diesen „Großveranstaltungen“ können die sehr wichtigen, sehr erfreulichen Kammerkonzerte mit neuer Musik nur erwähn werden, da es uns hier mehr um neue Werke, Ur- imd Erstaufführungen, als um das Interpretatorisdie geht. Friedrich Cerha hatte sie einvemehmlich mit dem ORF-Miisikchef Dr. Sertl programmiert und dirigiert: Schönbergs „Pierrot iunaire“ und Ligetis „Aventures et Nouvelles Aventures“, edn 10-Minuten-Stück von E. Krenek, Cerhas „Objets“, „Das Lied der Waldtaube“ aus den „Gurre- liedem“ in Kammerfassung sowie Schönbergs „Kammersymphonie“ standen auf den Programmen, bei deren Ausführung sich „die reihe“ wieder einmal als ein wahres Meisterensemble für die Interpretation von Neuem erwies. Doch eine Ausnahme bei unserer zwangsläufigen und raumbedingten Abstinenz, was die Namen der Interpreten betrifft, müssen wir machen: Die drei Sänger, Sprecher, Plapperer, Kicherer, Flüsterer, Lacher und Schreier in Ligetis abenteuerlichen „Aventures“ müssen wir nennen, schon wegen der humoristischen Note, die sie in diese vielen ernsten Programme und Stücke brachten. Jedem von ihnen gebührt ein Kränzlein: Gertie Charlent, Marie-Therese Cahn und William Pearson. Und ein ganz großer Kranz dem, der das alles mit sicherer Hand leitete: Friedrich Cerha.

Damit scheint, zumindest was die Salzburger Festspielkonzerte betrifft, die Schallmauer, die Altbewährtes von echtem, kompromißlos Neuem trennt, durchbrochen zu sein. Gleichzeitig wurde die Richtung signalisiert, in der die Bemühungen in den nächsten Jahren fortzusetzen wären. Und schließlich hat die „moderne Musik“ in der Person des Komponisten Gerhard Wimberger ja einen Vertreter und wohl auch einen Wortführer im Direktorium. Einen Sitz und eine Stimme. Gegen wieviele wohl? — Auf dem Gebiet der Oper sieht es fürs nächste Jahr entsprechend trist aus. Da droht uns, als Ersatz für Neues, lediglich eine Neuinszenierung des Verdischen „Don Carlos“ …

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