6711582-1964_23_15.jpg
Digital In Arbeit

Vom Jugendstil zum Euro-Jazz

Werbung
Werbung
Werbung

Als erstes trastorcnester traten im Großen Musikvereinssaal die Warschauer Philharmoniker unter Witold Rowicki, dem Pionier der neuen westlichen Musik in Polen, und Stanislaw Wislocki auf. Die Warschauer sind — das muß bei allem Wohlwollen, auf das unsere Gäste zählen...können, gesagt worden — zwar ein tüchtiges und ambitioniertes; aber Kein Spitzenorchester. Um das zu erkennen, braucht man aur die verschiedenen Aufnahmen, die es von Prokofieffs „Symphonie classique“ gibt, nach dem Konzert auf den Plattenteller zu legen. Mit diesem einfach scheinenden, iber überaus heiklen und decouvrierenden Stück hat sich das Orchester, vor allem in den Streichern (und hier waren es besonders die ersten Violinen), ganz einfach übernommen. Die Musik Ravels zu dem Ballett „Daphnis und Chloe“ (erfreulicherweise wurde auch der selten zu hörende 1. Teil der Suite gespielt) ist schon leichter zu exekutieren. Diese Meisterpartitur klingt immer brillant. Der in der Originalfassung vorgeschriebene Chorsatz wurde vom Chor der Warschauer Philharmonie sauber und dezent ausgeführt. Dieser Chor trat, hauptsächlich mit Vokalisen, in dem interessantesten Stück des Abends noch einmal hervor: in Karol Szymanowskis „Lied von der Nacht“ (der Titel ///. Symphonie op. 27 ist nur eine Attrappe). Das einsätzige klangschwelgerische, von einem mystischen Panerotis-mus erfüllte Phantasiestück über Verse eines persischen Lyrikers aus dem 13. Jahrhundert, wurde 1914 bis 1916 komponiert, und man versteht die Zweifel und die Unsicherheit, die Szyma-nowski (1882 bis 1937) quälten: Diese Musik war zweifellos er selbst, sie entsprach ganz und gar seinem hypersensitiven und komplizierten Wesen. Aber war es ihm auch gelungen, das alles in eine tragkräftige musikalische Form zu bringen? Die Frage muß, auch nach 50 Jahren, offengelassen werden. (Ebenso wie die nach dem absoluten Wert der Orche-sterpoem von Skrjabin, mit dem Szyma-nowski manches gemeinsam hat.) — Als Zeugnis für den Spätexpressionismus und den Jugendstil kommt dem Werk jedenfalls ein bedeutsamer Stellenwert zu, und deshalb war es in diesem Rahmen durchaus zu begrüßen. — Tadeusz Baird, der sich ebensogut auf seinen Landsmann Szymanowski als auf die Wiener Schule, speziell auf Alban Berg, berufen könnte, hat Feineres und Persönlicheres geschrieben als die „Variationen ohne Thema für Sinfonieorchester“. Das 1961/62 komponierte Zehnminutenstück für großes Orchester mit raffiniertem Schlagwerkapparat, der von sechs Spielern bedient wird, kann nach einmaligem Hören kaum beurteilt werden. Man bemerkt, daß das Intervall der kleinen Sekund eine wichtige Rolle spielt, wie sich daraus Tontrauben bilden, die aufeinandergeschich-tet oder auseinandergefaltet werden. Aber warum das mit so großer Lautstärke erfolgen muß? (Auch bei Szymanowski könnte man auf die Idee kommen, daß die Polen die lauten Ekstasen Heben — wüßten wir's von Chopin nicht anders ...) Sehr eindrucksvoll und brillant im Sopransolo des „Liedes von der Nacht“

Stejania Woytowicz, Polens erste Konzertsängerin. H. A. F. *

Das Warschauer Philharmonie-Orchester unter Stanislaw Wislocki bot in seinem 2. Konzert in disziplinierter Wiedergabe Witold Lutoslawskis Jeux Yjßiliciis^ ein Orchesterstück, das über das Motto der Festwochen „Anbruch unseres Jahrhunderts“ beträchtlich hinausging, mit seinen aleatorischen Freiheiten eher in die Gruppe der Stockhausen, Boulez, usw., einzureihen ist. Mit der „Paganini-Rhapsodie“, op. 43, von Serge Rachmaninow war man allerdings wieder in der „Zeit“. Shura Cherkassky zeigte im anspruchsvollen Klavierpart seine ganze Musikbesessenheit und wußte damit eine unmittelbare Wirkung zu erzielen, die allerdings mehr den Verstand als das Herz beteiligte. Dieses kam sogleich darauf in den Vier letzten Liedern von Richard Strauss auf seine Rechnung. Steiania Woytowicz sang diese Lieder, in deren Kantilene der Komponist eine Synthese von alpenländischem Melos und persönlichem Ausdruck erreicht, sowohl stimmlich wie vortragsmäßig mit vollendeter Kunst. Im abschließenden „Konzert für Orchester“ von Bela Bartök bewiesen Orchester und Dirigent äußerste Konzentration und Musizierfreude.

Symphoniker und Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde verbanden sich unter Joseph Keilberth zu einer festlichen Wiedergabe der romantischen Kantate „Von deutscher Seele“ von Hans Pfitzner. Die Darbietung war in der Tat in • allen ihren Teilen „festlich“, ja außerordentlich. An der Spitze stand allerdings das Solistenquartett Agnes Giebel (ein süßer, ausgewogener und mühelos dahinströmender Sopran), Herta Top-per (eine der hervorragendsten Oratoriensängerinnen mit volltönendem, umfangreichem Alt), Donald Grobe (“seinen tenoralen Aufgaben glänzend gewachsen) und 0(ro Wiener (dessen Name an sich ein Qualitätsbegriff ist). Die Komposition wurde 1921 vollendet, ist also im buchstäblichen Sinn ein Werk aus dem Anbruch des Jahrhunderts, was sich auch darin bestätigt, daß man merkt, wie weit wir uns von diesem Anbruch bereits entfernt haben. F. K.

*

Die stärkste Faszination in einem von Wolfgang Sawallisch geleiteten Konzert der Wiener Symphoniker ging ebenfalls von einem „Jugendstilwerk“ aus, von Schönbergs frühexpressionistischem, 1909 geschriebenem, Monodram „Erwartung“ auf einen halbliterarischen Text von Marie Pappenheim. Der Inhalt des Textes, den die Musik gewissermaßen psychographisch und mit großem Raffinement illustriert, ist der leidenschaftliche, angstgehetzte Monolg einer Frau, die im nächtlichen Wald ihren Geliebten sucht — und diesen tot wiederfindet. Die Interpretin war Helga Pilarczyk (wegen ihrer meisterhaften Darstellung der Titelpartie von Alban Bergs Wedekind-Oper auf westdeutschen Bühnen kurz ..Bundes-Lulu“ genannt): durch ihre nnehmusikalische. treffsichere Gestaltung der Solopartie ebenso faszinierend wie durch die unausgesetzte Spannung, mit

der sie das Publikum eine volle halbe Stunde lang zu fesseln wußte. Im 1. Teil des Konzertes hörten wir einen virtuosen „Till Eulenspiegel“ und eine sehr intensive, wenn auph zuweilen etwas lautstarke Darbietung von Hindemiths .Mathis“-Symphonie.

Eine kleine Sensation war das erstmalige Auftreten Friedrich Guldas im Großen Musikvereinssaal an der Spitze des Euro-Jazzorchesters, eines fünfzehn Mann starken, ad hoc zusammengestellten Ensembles hervorragender Solisten. In dem neun Nummern umfassenden Programm muß man zwischen quasi konventionellen Stücken (und Arrangements) unterscheiden sowie zwischen jenen, in denen sich Guldas Absicht manifestiert, „durch Besinnung auf unsere eigenen Traditionen dem reichen Stoff jazzmäßiger Musikausübung europäischen Geist zu assimilieren“. Das geschah am eindrucksvollsten in Guldas eigenen Kompositionen „Music jor Piano and Band Nr. 1 und 2“, „The Veiled Old Land“ und „The Air from other Planets“ (ein beziehungs-

ulier Titel, aber wo ist die Parallele zu Schönbergs „Ich spüre Luft von anderen Planeten“ auf ein Gedicht von Stefan George?). Zu dieser Gruppe möchten wir auch noch das „Penzing Nocturne“ zählen, das von Gulda nur arrangiert wurde. Was auf diese Weise entsteht, ist eine neue Art von symphonischem Jazz, basierend vor allem auf der Harmonik Debussys und Ravels. Aber auch Rimsky-Korssakow, Rachmaninow und — natürlich — Gershwin wirken hinein. Die Wiener Klassik und die deutsche Romantik erweisen sich als diesem Stil nicht assimilierbar. Merkwürdigerweise macht Gulda auch von den präklassischen Stilelementen (Kontrapunkt, Motorik, Satzform) kaum Gebrauch. Das Bild des Musikers Gulda, der vom Klavier aus das Ensemble leitete, wurde durch dieses Konzert in höchst aufschlußreicher und erfreulicher Weise bereichert. Übrigens auch das des Virtuosen, der sogar im Stehen die schnellsten Läufe und kompliziertesten Akkorde „trifft“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung