6635047-1957_09_13.jpg
Digital In Arbeit

Deutscher Madrigalchor und Ödipuslegende

Werbung
Werbung
Werbung

Der aus Stuttgart kommende Süddeutsche Madrigalchor, aus 32 durchweg jungen Mitgliedern bestehend, sang im Mozart-Saal unter seinem ständigen Leiter Thomas Christian David (dem Sohn des bekannten Komponisten) vier Motetten von J. S. Bach: „Singet dem Herrn”, „Komm, Jesu, komm”, „Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf” und „Jesu, meine Freude”, mit dem rührend naiven und tiefgläubigen Text von J. Franck. Das Ensemble besitzt alle Qualitäten eines deutschen Spitzenchores, Qualitäten, die das Resultat strengen Trainings und disziplinierter Kunstbegeisterung sind: vollkommene Sicherheit jedes einzelnen Sängers, Präzision der Einsätze, Reinheit der Intonation und eine Homogenität des Klanges, die bemerkenswerter erscheint als dessen Schönheit. Das Konzert war ein großer Erfolg für die willkommenen Gäste.

Den Programmen nach zu schließen hat das Publikum der Gewerkschaftskonzerte, welche die Gesellschaft der Musikfreunde mit den Wiener Symphonikern veranstaltet, für neue Musik mehr übrig als etwa die Besucher der „Philharmonischen”. Rudolf Morall dirigierte die „Symphonie classique” von Prokofieff, die „Konzertante Symphonie für Violine und Viola” von Mozart (Solisten W. Barylli und R. Streng) und Franz Schmidts IV. Symphonie, jene „letzte Musik, die man ins Jenseits hinübernimmt, nachdem man unter ihren Auspizien geboren wurde und das Leben gelebt hat”. Diese Musik ist ebenso groß durch ihre Meisterschaft wie durch die Kraft, mit der sie von der ersten Note an den Hörer ergreift. Rudolf Moralt gestaltete sie intensiv und klangschön. Die Symphoniker, die das Werk 1934 unter Kabasta uraufgeführt haben, spielten so großartig wie damals. (Und niemand, der dabei war, wird jenes Konzert vergessen.)

Das fünfte Abonnementkonzert des Wiener Kammerorchesters brachte als Neuheit Paul Ange- rers „Legende von Oedipus” (Dichtung von Rudolf Bayr). In heute noch unmittelbarer Nähe von Strawinskys „Oedipus Rex”, steht das Opus denn auch in dessen Schatten, ohne seine Unmittelbarkeit zu erreichen. Im Schaffen Paul Angerers bedeutet es dessenungeachtet einen wesentlichen Fortschritt. Die Erfindung ist substanzieller, das Melodische prägnanter, das Funktionelle gelockerter geworden, die sachliche Kälte von verhaltenem Ausdruck erwärmt. Formal bedenklich- der allzu lakonische, gleichsam leitmotivisch sich unverändert wiederholende Gesang des Sehers sowie der sopho- kleisch verallgemeinernde Chor — beides ohne das Gegengewicht des (singenden) Trägers der Titelrolle, den es überhaupt nicht gibt, da alles Geschehen dem Bericht eines Sprechers anvertraut ist. Alles in allem aber eine Ueberwindung des „Agamemnon” und also weiterweisend, allerdings leider immer noch unter dem Stigma des allzu Improvisatorischen. Um die vom Komponisten geleitete Wiedergabe machten sich Walter Berry, Heinz Moog sowie Mitglieder des Wiener Kammerchores neben dem Orchester verdient. Unter den vorangehenden Programmnummern standen drei hübsche Arien aus dem Singspiel „Die Bergknappen” von Umlauf sowie eine (leider wenig differenziert musizierte) Serenade von J. J. Fux, Leoš Janačeks Suite für Streicher und die „La-Poule”- Symphonie von Haydn.

Das erste Konzert des Wiener-Lehrer-a- cappella-Chors unter dem Dirigenten Alois Apfelauer zeigte diese nicht sehr große Singschar auf erfreulich neuen Wegen. In dem vier Teile umfassenden Programm (Lobt den Herrn, Von alten Liebesliedern, Es geht ein Lied im Volk, Audite nova) war sorgfältig alles über die stimmliche Leistung Hinausgehende vermieden, dafür fand man die kleinen Formen mit um so größerer Gewissenhaftigkeit betreut und mit Freude am Singen erfüllt. Das Volkslied in seinen zeitlich verschiedenen Bearbeitungen war der Kern des Gebotenen, dazu alte Motetten und eine sehr geschickte Auswahl zeitgenössischer Chorlieder von Lechthaler, Skorzeny, Bauernfeind, Neuhofer und Wagner-Schönkirch. Daß es dabei auch schwerer zu knackende Nüsse gab, wie J. N. Davids „Kūme, kum” und J. Lechthalers „Aus der Traube”, und daß sie zum Bestgehotenen gehörten, eibt der neuen Mentalität des Chors ein gültiges Zeugnis, ebenso die willkommene Auflockerung durch die Mitwirkung des Knabenchors des Bundesrealgymnasiums Wien XXI, der seinerseits besondere Leistungen bot, und des jungen Geigers Herbert Friihauf. dessen Spiel nicht nur an technischem Können, sondern auch an iunger Männlichkeit reifer wird.

Gedichten Heinrich Heines in der Vertonung von Robert Schumann widmete Dietrich Fischer- Dieskau seinen jüngsten Liederabend. Ein Fest, mit- und nachzuerleten, wie der gestaltende Impuls des Dichters auf den Komponisten seiner Zeit und (ein Jahrhundert später) auf den Sänger unserer Zeit übersprang. Denn Fischer-Dieskau, einer der ersten Liedinterpreten von heute, wurde Heine und Schumann gleicherweise gerecht. In den Liedern aus dem op. 24 dienen die Verse der Melodie, in den Balladen kehrt sich das Verhältnis um, und in der „Dichterliebe”, op. 48, verschmelzen beide zu einer völligen Einheit von Text und Musik, zur blauen Blume der Romantik mit ihrem erregend traurigen Lächeln, dessen zeitlose Gültigkeit (und Skepsis) uns in der Kunst Fischer-Dieskaus zum heutigen Erlebnis wird.

Höchst anerkennens- und nachahmenswert die kurze Notiz im Programmheft: „F:s wird gebeten, die Liedgruppen nicht durch Beifall zu unterbrechen.” Denn es ist — neben anderen Gründen — beschämend für den Künstler, mehr Verbeugungen als Töne produzieren zu müssen.

Erna Berger sang eine kleine Musikgeschichte des Liedes von den alten italienischen Canzonisten bis zu Joaquin Turiną, der 1949 in Madrid starb. Dennoch blieben Schubert, Schumann und Brahms die Marksteine auf dem Weg. Die große, in allen Stilen vertraute Kunst der Interpretin versteht es, bloß „schön” zu singen und durch verhaltene, oft kaum merkbare Andeutungen mehr an Eindringlichkeit zu erzielen als Ueberschwang es vermöchte. Ihre Art ist weniger die Pointillierung als die große klassische Linie, die sie allerdings in reifer Künstlerschaft auf das kleine Lied zu vereinfachen weiß. — Besonders gedacht muß hier der beiden Betreuer des Klavierparts werden, von denen Jörg Demus ebenso zu Fischer-Dieskau unabdinglich gehört und an seiner Nachgestaltung bestimmenden Anteil hat, als Ernst Günther Scherzerdie sichere und mitbestimmende Grundtönung für Erna Bergers Gesang zu schaffen weiß.

Im Zyklus „Internationale Solisten” erfreuten wir uns an der Homogenität des Klanges und der blitzsauberen Intonation des Koeckert-Quartetts i (München). Im Streichqartett op. 43 von Karl Holler, einem Werk von romantischem Duktus, äbef “‘durchaus persönlichen Stiles, wurde dieser homogene Klang von durchscheinender Leuchtkraft und Wärme und reich an persönlichen Lichtern. Mozarts Quartett KV. 589 blieb dagegen kühl und gleichsam entfernt. Den Höhepunkt ihrer Kunst erreichten die Münchner mit dem Streichqartett c-moll, op. 51/1, von Brahms, dessen vergeistigte Wiedergabe nachhaltigen Eindruck und verinnerlichte Wirkung erzielte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung