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Verheibung und Erfullung

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Was wir gemeinhin „neue Musik“ nennen, ist nicht von heute und nidit von gestern. Sie beginnt für die meisten Hörer etwa mit Reger und Debussy, für die junge Generation mit jenen Werken, die nach dem ersten Weltkrieg entstanden So umfaßt die neue Musik eine Fülle von Namen und Kompositionen, die im Rahmen eines vierzehntägigen Musikfestes auch nicht annähernd vollständig vorgestellt werden können. Auch ein charakteristischer Querschnitt ist — wegen des fehlenden Notenmaterials und im Hinblick auf die Aufführungsschwierigkeiten — kaum möglich. Es waren Proben aus dem Musikschaffen der letzten Zeit, welche uns die Konzert-hausgesellsdiaft als Veranstalterin bot — und wir wissen es ihr zu danken.

In erster Linie waren alle Ur- und Erstaufführungen von Interesse, ob sie überzeugten oder nicht. Ei war aber auch wichtig, Werken wieder zu begegnen, die man vor zehn und fünfzehn Jahren zum erstenmal gehört hatte —, um den Eindruck von damals zu überprüfen, sein Urteil nötigenfalls zu revidieren. Vieles, was uns damals problematisch schien, ist es auch heute noch — und wird wohl audi für die Hörer der nächsten Generation ins Gebiet des Experimentellen gehören. Andere neue Werke haben sich durchgesetzt, haben sich glänzend bewährt und wirken auf uns beinahe schon „klassisch“. Neues ließ aufhorchen, schien uns Verheißung bedeutender künftiger Leistungen des betreffenden Autors zu sein — oder erwier sich als schon nicht mehr neu, als epigonal und bedeutungslos.

Und noch eine andere, sehr wesentliche Beobachtung konnte man machen: die weitaus eindrucksvollsten Werke waren diejenigen, welche einen bedeutenden Vorwurf, einen großen Stoff gestalten. An ihm entzündet sich der echte Künstler und kann sich ganz entfalten. So erwiesen sich als Höhepunkte dieses Musikfestes fast ausnahmslos die großen Würfe: Schmidts IV. Symphonie, Honeggers Jeanne-d'Arc-Oratorium nach einem Text von Claudel und Hindemiths symphonische Suite aus der Matthias - Grünewald - Oper. Uber das Werk von Franz Schmidt wird in anderem Zusammenhang berichtet werden. Honeggers Oratorium übertraf bei der Aufführung die Erwartungen, welche man nach der Lektüre des Textes und der Partitur dareingesetzt hatte. In diesem Werk zeigte sich eindeutig und zwingend, daß die Fortschritte und Verfeinerungen der modernen Harmonik und Instrumentation für die Kunst weder schädlich und destruktiv, noch formauflösend wirken müssen. Es kommt einzig und allein darauf an, was man aus ihnen macht, wie man sie verwendet: ob zu Effekten oder im Dienst der Inspiration und des Ausdrucks. Weder der Fachmusiker noch der Laie konnte sich der starken Wirkung des großartigen und eigenwilligen Werkes von Honegger entziehen. Die „Liturgische Symphonie“ mit ihren drei ausgedehnten Sätzen Dies irae, De profundis clamavi, Dona nobis pacem und „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ bildeten einen wahrhaft festlichgehaltvollen Auftakt. Die Aufführung unter dem Schweizer Dirigenten Paul Sacher, der das Werk schon mehrere Male dirigiert hat, war ganz hervorragend und zeichnete sich vor allem durch sorgfältige Abstimmung der einzelnen Klanggruppen des Riesenapparats aus.

Die verschiedenen Orchester- und Kammermusikwerke Hindemiths, denen zwei Konzerte gewidmet waren, sind nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Legt man an die Kompositionen eines Künstlers vom Range Hindemiths den strengsten Maßstab an, so hat nicht alles Gültigkeit und Bestand. Die Konzertmusik für Klavier, Blech und Harfen zum Beispiel klang ebenso struppig und ungefällig wie vor 16 Jahren; für die „Trauermusik für Viola und Streichorchester“ (1936) bringen wir kaum mehr als eine achtungsvolle Verbeugung auf; die „Sym-phonia Serena“ (1946) ließ Schönstes erwarten: ein reifes Meisterwerk apollinischer Kunst — und enttäuschte als Ganzes ein wenig, trotz reizvollster Details. Aber nicht auf diese kommt es an! — Das Meisterwerk von Hindemiths mittlerer Sdiaffens-periode ist zweifellos sein „Mathis der Maler“. Weder früher noch nachher hat Hindemiths Musik diese Kraft des Ausdrucks, die Plastik und diesen persönlichen Ton gehabt wie im. dritten Satz der Suite, der „Versuchung des heiligen Antonius“ mit dem Lauda-Sion-Salvatorem und dem großen Alleluja am Schluß. Ein ungewöhnliches Werk von nobelster Diktion ist die „Herodiade“ (1944), in welcher ein Kammerorchester den Text von Mallarme Silbe für Silbe rhythmisch deklamiert. Daß ein so abwechslungsreiches Stück absoluter Musik aus diesem kühnen Experiment wurde — eine Folge von zehn reizvollen Kurzszenen, die auch getanzt werden können —, ist ein neuer Beweis für die Genialität des Komponisten. Der Musikant und geistvolle Beobachter Hindemith hat uns in den „Vier Temperamenten“ (Thema und Variationen für Streichorchster und Klavier 1940) ein ganz kostbares Stück edelster Kammermusik und feiner musikalischer Charakterisierungskunst geschenkt. Jedes der vier Temperamente ist bald von außen, kühl und sachlich, bald von innen, einfühlsam und herzlich, gesehen. Die Quersumme erst ergibt das Bild des ganzen Menschen. Diese überlegene Schau und Darstellung ist eines der schönsten Zeugnisse für den Menschen Hindemith, der sich durch seine einfache und freundliche Art des Dirigierens nicht nur die Sympathie der Musiker, sondern auch die der Zuhörer sofort gewann. Der ungewöhnlich lebhafte Beifall galt in erster Linie natürlich dem Komponisten, der sich nicht nur die Jugend, sondern die Herzen aller Wiener Musikfreunde eroberte. In Peter Stadien hatte er einen vollkommenen Interpreten der Klaviersoli.

In zwei Konzerten des Budapester Hauptstädtischen Orchesters lernten wir vier Werke der neueren ungarischen Musik kennen. Die interessanteste — und zugleich problematischeste — Komposition war Bartoks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“. Es ist auch für den Musiker nicht leicht, hier festzustellen, wo die lebendige Klangvorstellung aufhört und das Experiment beginnt. So wie sich Hindemith am bedeutenden Stoff entzündet, so gelangt Bart6k über die Folklore in sein eigentliches Element, in welchem er sich frei entfalten kann. Es mag für den angehenden Komponisten von Nutzen sein, Werke dieser Art kennenzulernen. Sie erschließen Neuland, stellen aber „an sich“ keinen Wert dar, bringen nicht jene Erfüllung, die wir vom Spätwerk eines Meisters der modernen Musik erwarten. Die „Zwei Porträts“ op. 5 sind ein Frühwerk, leichter zugänglich, aber von geringerer Bedeutung. Dem Andenken Bartoks widmete der jüngere ungarische Komponist Sandor Veresz den Klagegesang „Threnos“, ein sehr klangvolles, ausdruckstarkes Stück, das stilistisch allerdings mehr auf der Linie Kodalys als der Bartoks liegt. — Sandor Viskis Violinkonzert (von E. Zathureczky virtuos gespielt) ist stilistisch etwas unklar„ technisch sehr gekonnt und stellenweise auch wirkungsvoll. Aber diese Qualitäten rechtfertigen kaum die Aufnahme in eine Auswahl, die Wesentliches vermitteln sollte.

Das gleiche gilt für Waltons Bratschenkonzert mit Orchester (vom Komponisten dirigiert und von Paul Lukacs vollendet gespielt). Glänzend und wirkungssicher instrumentiert, von gutem Geschmack, war es ein sehr bezeichnendes Zeugnis für den weltaufgeschlossenen, zugleich aber sehr maßvollen und konservativen Geist der neuen englischen Musik. Ghedinis „Musica Notturna“ erreicht mit impressionistischen Mitteln schöne Klang- und Stimmungswirkungen, ist aber als Ganzes entwicklungsgeschichtlich belanglos. Mit Ausnahme der beiden ungarischen Konzerte, in denen wir in dem Budapester Orchester einen ganz ausgezeichneten, sehr disziplinierten Klangkörper kennenlernten, dem mir noch die genauere Abstimmung der einzelnen Klanggruppen aufeinander fehlt — wurden sämtliche Orchesterwerke von den Wiener Symphonikern gespielt, die wirklich Großes geleistet haben. In dem Honegger-Oratorium und in' dem ersten Hindemith-Konzert zeigte dies Orchester, daß es auch größten Aufgaben und strengsten Ansprüchen gewachsen ist.

Zwei sehr verschiedenartige und verschie-denwertige Kammermusikkonzerte mit neuer Musik stellten und beantworteten noch einmal die Frage: vergangen, tot? oder lebendig, zukunftweisend? Es lag sicher nicht am Programm der IGNM im allgemeinen, sondern an der wenig glücklichen Auswahl, daß ihr Konzert mit Werken von Jemnitz, Reti, Webern, Kfenek, Schönberg und Wellesz so wenig befriedigte. Am bedauerlichsten empfand ich die Erstarrung Kreneks im Zwölftonsystem, die wir bereits bei seinem VII. Streichquartett feststellen mußten. Krenek scheint dem Zwölftonsystem regelrecht „aufgesessen“ zu sein und ist heute — neben dem verstorbenen Webern — der Radikalste der Radikalen. Bei Sdiönberg wirkt auf uns heute gerade das am stärksten, was nicht System ist: der romantische Grundzug seines Werkes und der Klangzauber, der auch gerade in seinen Klavierstücken op. 10 deutlich zu spüren ist.

In einer Matinee der Akademie für Musik und darstellende Kunst gab es Schönes und Erfreuliches: völlig unakademische Werke, von den Schülern der Anstalt mit fast meisterlicher Vollendung musiziert. Hindemiths musikantische und gehaltvolle Klaviersonate zu vier Händen (1938), ein Streichtrio von J. N. David, Stücke für Soloklarinette von Strawinsky, Klavierlieder von Schoeck, eine Vergnügliche Musik für Bläser von Uhl und — vollkommenste Leistung in der Wiedergabe — die VII. Klaviersonate von Prokofieff, von dem jungen Friedrich Gulda gespielt. Nach dieser Veranstaltung hatte man das beruhigende, beglückende Gefühl, daß das Erste Internationale Musikfest nicht das letzte dieser Art in Wien bleiben wird, da die neue Musik bei unserer Jugend in so guten, kraftvollen und sicheren Händen ist.

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