6536222-1946_17_08.jpg
Digital In Arbeit

Wiener Musikleben

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn man das Wiener Musikleben in den letzten Monaten überblickt, so kann man gewiß nicht über den Mangel an durchschnittlich recht achtbaren und in mancher Hinsicht interessanten Darbietungen klagen, doch fügt sich die Fülle von bemerkenswerten Einzelheiten nicht irgendwie zu einem abgerundeten Ganzen zusammen. E s fehlen noch weitsichtige Planung und Synthese der Vielfalt. Dies hängt mit der allgemeinen Unsicherheit, mit der Unmöglichkeit, selbständig zu disponieren, und mit der Beengtheit durch die Zonenschranken zusammen, das alles dazu zwingt, nur an dem Heute zu kleben und aus der Chance des Augenblicks heraus das zu tun, was sich eben gerade tun läßt. Man beobachtet dies so deutlich an dem Spielplan der Bühnen der Staatsoper. Es gelingt kaum einmal, eine Neuinszenierung an dem Datum starten zu hisen, an dem sie ursprünglich angesetzt wurde. Kommt dann ein Werk nach etlichen Terminverschiebungen wirklich heraus; so kann es, wie bei Tschaikowskys „Pique-Dame“, Wochen währen, bis die erste Reprise erfolgen kann. Mozarts „Entführung“, seit Monaten schon angekündigt, ist bis auf weiteres überhaupt in Frage gestellt. Verdis „Rigoletto“ steht vor immer neuen Schwierigkeiten. Das Solistenensemble ist eben doch noch so schütter und ergänzungsbedürftig, daß das Auftrittsverbot einer Sängerin, ein absagender Tenor oder eine erkrankte Diva imstande sind, eine Aufführung unmöglich zu machen. So ist es nur zu begreiflich, daß unter Umständen an einem Tage der Spielplan dreimal abgeändert oder in einer Woche wohl auch dreimal Puccinis „Boheme“ gespielt werden muß. In solcher an sich bedauerlichen Tatsache, daß der Spielplan zum bloßen Zufallsergebnis zu bekämpfender Schwierigkeiten wird, liegt aber auch eine Gefahr, die sich weiter an dem Institut schädigend auswirkt: das wertvolle, geschmackbildende Stammpublikum, dessen Kreis durch die hohen Eintrittspreise ohnedies schon empfindlich eingeengt ist, erlahmt in seinem Interesse und kehrt sich verärgert ab. Gerade dieses zu erhalten, müßte man einem Uberhandnehmen des improvisierten Spielplans nach Möglichkeit auf das energischeste zu steuern trachten.

Auch im Konzertsaal macht sich der Zwang zum Improvisieren ungünstig geltend. Hier fehlen vor allem die auf weite Sicht festgesetzten Konzertzyklen der führenden Konzertgesellscbaften, die früher das Rückgrat des Musiklebens ausmachten und um die sich beziehungsvoll ergänzend die Einzelveranstaltungen gruppieren konnten.

Heute ist es so, daß beu einem Konzert der Philharmoniker, der Musikfreunde, der Konzerthausgesellschaft wenige Tage vorher der Dirigent noch nicht feststeht und erst nach dessen Wahl an die Gestaltung des Programms geschritten werden kann, das natürlich vollkommen von dessem Wunsche abhängt. Infolgedessen können die Veranstalter von Solo- oder Kammermusikabenden oder anderen Einzelkonzerten gar nicht daran denken, ihre Programme den großen und führenden Darbietungen irgendwie sinnvoll einzugliedern und eine Synthese anzustreben. Aus solcher Art, von der Hand in den Mund zu leben, das wir leider in anderen Sparten her zu genau kennen, baldmöglichst herauszukommen, müßte das nächste Ziel des Aufbaues unjeres Musiklebens sein.

*

Dirigent des 7. Abonnementkonzertes der Philharmoniker war der Amerikaner Karl Krüger, der in Europa seine Ausbildung genossen hat und unter Franz Schalk an unserer Staatsoper tätig gewesen ist. Künstlerischer Geschmack und objektive Distanzierung bestimmten die vornehm-kühle Wiedergabe einer Werkfolge, die Mozart, Debussy und Rachmaninow zu einem aparten Kaleidoskop von nationaler Buntheit vereinte. Die Konzerthausgesellschaft vertraute ein Symphoniekonzert Manfred Will fort an, der an temperamentvollem Zugriff und Sättigung des Klanges einiges schuldig blieb. Das Finale von Gustav Mahlers IV. Symphonie und ein Intermezzo von Joseph-Marx-Liedern erhielten durch die ausgeglichene Gesangskunst Thea L i n-hards Farbe und Profil. Die munteren Geister des Till Eulenspiegel von R. Strauß rissen die Symphoniker schließlich zu gelockerter Musizierfreude mit. Eine schön gerundete, würdige Aufführung des Deutschen Requiems von Brahms gelang Felix Prohaska mit dem Staatsopernchor und den Symphonikern, wobei die Soli mit Irmgard S e e f r i e d und Paul Schöffler sorglich bedacht waren.

Richard Wagner im Konzertsaal! Bei einem der größten Bühnengenies ist eine solche Verpflanzung vom Theater weg gewiß nur eine Notlösung, aber sie war gerechtfertigt, da die Spieltradition nicht gut so lange unterbrochen werden kann, bis wieder ein vollgültiger Theatersaäl für Wagner-Aufführungen zur Verfügung steht. Der Versuch der Gesellschaft der Musikfreunde mit dem I. Akt der „Walküre“ war durchaus geglückt und die Abwesenheit von Szene und Darstellung ließ sich konzentrierter der Musik hingeben und doch auch ihre unlösliche Verhaftung mit den Schwesterkünsten noch stärker empfinden. Josef Krips musizierte ungemein lebendig mit den Philharmonikern und dem Sängerterzett Hilde Konetzni, Max Lorenz und Herbert A 1 s e n, so daß man besonders bei dem jubelnden Ausklang den fehlenden optischen Eindruck kaum vermißte. So dankbar man vor dem Wagner-Akt eine Wiederbegegnung mit der klanggesättigten Nordland-Rhapsodie von Joseph Marx begrüßte, konnte man ihre Konfrontierung mit dem Musikdrama doch nicht gerade glücklich empfinden. Mit einem etwas hypertrophischen Programm trat der Staatsopernchor unter Josef Krips hervor. Nicht etwa, daß man der Vielfalt der von Palestrina über die Romantik zu volkshaft betonten Gesängen vorstoßenden Darbietungen nicht gerne und mit Genuß folgen durfte. Doch fand Richard Strauß' Deutsche Motette bei ihren ungewöhnlichen Ansprüchen an die gesangliche Kapazität am Schlüsse des Konzerts die Stimmen nicht mehr in der frischen Verfassung an, die bei dieser Vereinigung sonst eine Selbstverständlichkeit ist.

Es ist wohl kein Zufall, daß bei unserem Zeitbedürfnis nach Verinnerlichung die dem Metaphysischen zugewandte Kunst Johann Sebastian Bachs besonders gerne beschworen wird und dann auch stärkste Anziehungskraft bewährt. Die österliche Zeit brachte mehrmals die Passionen des Meisters nach Matthäus und Johannes. Von den Aufführungen, die sich trotz Wiederholungen lebhaftesten Zuspruchs erfreuten, verdient besonders die der Gesellschaft der Musikfreunde ihres konzentrierten Ausdrucks wegen Hervorhebung. Hier ward auch die klippenreich* Aufgabe des Evangelisten durch Anton D e r m o t a glücklich gelöst, der die schwierige Höhenlage technisch mit Delikatesse zu meistern weiß und ein poesievoller Gestalter der motivenreicben Partie ist. Der religiösen Inbrunst Bachs wird hier Irmgard S e e f r i e d schön gerecht. Josef Krips weiß die dramatischen Momente wirksam anzufachen. Den Entwicklungsweg

zur Gipfelung der Passionsformen bei Bach kennzeichneten sinnvoll instruktive Wiedergaben der Passionen Heinrich Schütz', die bei verhältnismäßiger Einfachheit der Mittel den Gefühlsgehalt der Leidensgeschichte Christi sehr plastisch und ergreifend herausarbeiten. Der Veranstalterin der Schütz-schen Matthäus-Passion, die Bach-Gemeinde, sind auch Aufführungen von Händeis „Messias“ und von Bachs „Kunst der Fuge“ in der Bearbeitung für Klavier zu vier Händen von Bruno Seidlhofer zu danken. Seidlhofer selbst gewann mit Doktor Josef D i c h 1 e r diesem Kosmos in Tönen kontrastreiche Wirkungen ab.

Die zeitgenössische Musik war in einem Festkonzert zum Jahrestag der Befreiung Wiens repräsentativ vertreten durch einen dem Charakter der Gedenkfeier glücklich angepaßten Hymnus von Franz S a 1 m-h o f e r und durch Dimitri Schostako-w i t s c h s IX. Symphonie. Der russische Meister spricht in diesem neuen Werk als ein merklich Gewandelter zu uns. Sein Stil erscheint hier spielerisch gelockert und weist klassizistische Tendenz auf. Merkmale des Divertimentos der Frühklassik, und tänzerisch bestimmte Einschläge führen von der vordem eingehaltenen Richtung entscheidend ab. Raimund W e i ß e n s t e i n e r, fin Opfer der politischen Verfolgung, machte in einem eigenen Kompositionsabend unter seiner persönlichen Leitung mit seinen, die Leidenszeit der letzten Jahre schildernden „Liedern eines Gefangenen“ (im Gesangssolo Elsamaria Matheisl sehr verdienstlich} und der Fünften Symphonie bekannt. Ein Kammerkonzert der Internationalen Gesellschaft für neue Musik gewann besondere Bedeutung durch das Erscheinen des fran-

zösischen Tondichters Olivier Messiaen, der bei der Wiedergabe meines Quatuor pour la fin du Temps am Klavier mitwirkte. Dieses Werk spricht trotz seiner durchaus modernen Haltung unmittelbar überzeugend an. Hervorstechend wirkt darin die neuartige Monodie, die über weite Strecken, ja ganze Sätze einem Instrument die Führung überantwortet und den Komponisten als originellen Melodiker von starker Ausdruckskraft bewährt. Romanische Eleganz ist dem vom modernen Tanz her inspirierten Violoncellokonzert Darius Milhauds eigen. Paul Hindemiths Gesangszyklus „Die junge Magd“ und Bela Bartoks „Kontraste“ für Violine, Klarinette und Klavier rundeten den Abend zu einem interessanten Ereignis im Zeichen zeitgenössischen Schaffens. Vorbildlich wirkten hier im Dienste einer authentischen Interpretation neben dem französischen Gass Edith Farnadi (Klavier), Ilona Steingruber (Gesang) Friedrich Wildgans (Klarinette), Johann Starker (Cello) und andere Künstler.

Von den Sohstenabenden der letzten Zeit brachten drei Konzerte der Geigerin Ella K a s t e 1 i z in verdienstvoller Zusammenfassung sämtliche zehn Violinsonaten Beethovens. Ein Liederabend Hans H o 11 e r s zeigte den berühmten Bühnensänger im souveränen Gestalten einer kammermusikalischen Kunst, deren Probleme ihm im Technischen wie Ausdrucksmäßigen merklich spielerischen Anreiz bieten. Im Zusammenwirken von fein ausgewogener Stimmkultur und Nuancenreichtum einer natürlichen Musikalität bewährte sich an der Kleinkunst des Liedes Emmy Steinbrück, der in ihrem Gatten ein wendiger und anpassender Begleiter zu Gebote stand.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung