6646060-1958_24_15.jpg
Digital In Arbeit

Chöre aus England, Prag und Holland

Werbung
Werbung
Werbung

Nachdem die Huddersfield Choral Society bereits mit dem „Messias“ überzeugt und begeistert hatte, konnte man die hervorragenden Qualitäten dieses Ensembles (Tonschönheit, Intonationsreinheit, Homogenität der einzelnen Stimmgruppen und größte Akkuratesse im Rhythmischen) an zwei weiteren, denkbar gegensätzlichen Werken bewundern. — Gabriel Faire, ein bei uns viel zu wenig geschätzter Komponist, dessen kühne harmonische Neuerungen auf zarten Füßen daherkommen, schrieb sein „Requiem“ 1 888 zum Tod seines Vaters. Man darf bei diesem Werk nicht an die operndramatischen Totenmessen von Verdi oder Berlioz denken. Die Musik drückt eine sanfte, herzliche, aber stets wohltemperierte Trauer aus: das „Dies irae“ erscheint nur als kurze Vision; dagegen ist der tröstliche Schluß („In Paradisum deducant angeli“ — eine Art Berceuse de la mort) breit auskomponiert. — Sehr sympathisch ist bei Faure die Ehrlichkeit und Einfachheit der Aussage, die Oekono-mie der Mittel und die Einheitlichkeit des Stils. — „B e 1 s a z a r s Fest“ von William W a 11 o n (geboren 1902) ist ein äußerst effektvolles, müsik-dramatisch konzipiertes und — sehr lautes Werk. Vom Chor und den Solisten wird Außerordentliches verlangt. Aber die Engländer sind mit diesem ein wenig monströsen Stück ebenso vertraut wie unsere großen Chöre mit den Schwierigkeiten des „Buchs mit sieben Siegeln“. — Sir Malcolm Sargent erwies sich gleichermaßen als Meisterinterpret des Zarten wie des Hochdramatischen. Ausgezeichnet waren auch die Solisten Elsie Morison — Sopran, James Milligan — Baß, und Eric Chadwick — Orgel. — Wer die Wiener Symphoniker an diesem Abend vielleicht zum erstenmal gehört (und gesehen) hat, hätte meinen können, daß sie seit eh und je unter Sir Malcolm spielen.

Aus völlig anderem Holz wie das englische Ensemble ist der Prager Philharmonische Chor. Er enttäuschte zunächst durch eine wenig stilvolle Wiedergabe einer besonders schönen Bach-Kantate („Der Himmel lacht“) und legte dann in der „M issa Glagolskaja“ ordentlich los. LeoS J a n ä i e k schrieb diese festliche Messe, der er einen kirchenslawischen Text unterlegte, in seinem 73. Lebensjahr. „Ich wollte hier“, sagt er, „den Glauben an die Sicherheit der Nation auffangen, nicht auf religiöser Grundlage, sondern auf Grund-, läge des Sittlichen, Starken, das sich Gott zum Zeugen nimmt.“ — Dieses Bekenntnis ist für die Beurteilung des Werkes wichtig. Denn es hat keineswegs liturgischen, sondern nationalen, festlich, in seiner ungezügelten Tonsprache zuweilen fast heidnischen Charakter. Von den wilden Chorausbrücben, dem tobenden Orchester und der schrill aufschreienden Orgel, vor allem aber von der vehementen Bewegung wird der Hörer einfach „überfahren“. Trotzdem bleibt ihm soviel Urteilsvermögen, daß er die virtuose Leistung des Chors wahrnimmt und, neben drei wohlklingenden Solostimmen (Vera Krilovä, Ivo 2idek und Ladislav Mtäz), den Sopran von Drahomira Tika-lovä als zu scharf und schrill registriert. — Das Orchester der Prager Philharmoniker unter der Leitung von Karel A n l e 11 war in dem einleitend gespielten 3. Brandenburgischen Konzert und in der Bach-Kantate nicht immer ganz präzise.

Mit dem Internationalen Jugendorchester hat Hermann Scherchen Beethovens „Pastorale“ und „L a V al s e“ von Ravel erarbeitet. Im ersten Werk konnte man ein behutsames Zusammenspiel des Ensembles und beachtliche Einzelleistungen, besonders bei' den Holzbläsern, feststellen. Schönbergs A-cappella-Chor „Friede auf Erden“ aus dem fahre 1907, polyphon verwickelt und regerisch modulierend, klang nicht immer ganz rein. Bei den dre.i streng liturgischen Chören S t r a w i n s k y s, die dieser für den Gebrauch des russisch-orthodoxen Gottesdienstes (in Paris) schrieb, ließ die Genauigkeit der Einsätze manchmal zu wünschen übrig. Ausführende des mittleren Konzertteiles waren Mitglieder des Wiener Akademie-Kammerchors.

Für die „Ca r m i n a Burina*, iit ungeistlicben Lieder geistlicher Scholaren mit der anscheinend primitiven, in Wirklichkeit sehr diffizilen Musik von Carl O r f f, brachte der Dirigent Wolfgang S a w a 1lisch jene Verbindung von geistiger Disziplin, musischem Schwung und persönlicher Vitalität ins Treffen, dje das Hochkultivierte und gleichzeitig Urtümliche des Werkes in seiner Einmaligkeit vermittelt, die Solisten, Chor und Orchester einfach mitreißt und den „Reißer“ zum künstlerischen Ereignis gestaltet. Selten sang der Singverein so vollkommen im Klanglichen, so spielerisch leicht in den (gewaltig schwierigen) Rhythmen und so unbeirrt sicher auch in den gefährlichsten Intonationen. Ein ideales Solistenterzett (Wilma Lipp, Murray Dickie, Eberhard Wächter), ergänzt durch den singenden Cellisten Enrico Mainardi, und eine besonders zügige, nirgends absinkende Orchesterleistung der Wiener Symphoniker ergänzten die Intentionen des Dirigenten, die an Klarheit, Gliederung, klanglicher und ■phrasischer Differenzierung nichts zu wünschen übrig ließen.

Einen reinen Schubert-Abend eröffnete das Musikvereins-Quartett mit dem Streichquartett a-moll. op. 29, das sogleich mitten ins österreichische Gemüt hineinleuchtete. Wilhelm Backhaus spielte die Moments musicaux und das Improptu B-dur, op. 142/3, versonnen, übermütig perlend, verhalten und eindringlich profiliert — und gesellte sich mit dem mitwirkenden Otto Rühm schließlich dem Quartett zum ewig jungen „Forellenquintett“. Das von der meisterhaften Wiedergabe begeisterte Publikum erzwang die Wiederholung des Variationensatzes.

Ein anspruchsvolles Programm absolvierten die Wiener Sängerknaben unter Xaver M e y e r besonders im ersten Teil ihres Abends. Joseph Lechthalers sechsstimmige Motette über alte Osterlieder, 1932 komponiert, ist in Satz und Stimmenbehandlung weit moderner als vieles seither Entstandene. Anton H e i 11 e r s Messe über „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“, wohl das schwierigste der gebotenen Chorwerke, zeigte die kleine Schar mit allen Anforderungen vertraut und im modernen Geiste geschult. Leichter gaben sich zwei kleine Chöre von Karl S c h i s k e sowie ein Chorlied von Oskar W a 1 z e 1. Neben der Moderne war das Biedermeier durch zwei Chöre von Schubert vertreten und die Wiener Klassik durch die szenische Wiedergabe der Opera buffa „La C a n t e r i n a“ von Joseph H a y d n, textlich von Ilka Peter, musikalisch von A. Kubizek eingerichtet, in der die kleinen Sänger ihre oft von wirklichem Humor beseelte darstellerische Kunst mit der gesanglichen vereinten und natürlich stürmischen Beifall ernteten.

Als bisher eindrucksvollstes Chorereignis darf der Abend des Niederländischen Kammerchors unter Felix de Nobel bezeichnet werden. Dieser kleine Chor von zehn Damen und acht Herren widmete sich fast ausschließlich dem A-cappella-Ge-sang. der ja in den Niederlanden im 15. und 16. Jahrhundert seine; höchste Blüte erreichte, und es scheint„ als würde dieses Vorbild in der Wiedergabe neu belebt. Schon die erste Komposition, das sechzehnstimmige Sanctus von Clemens non papa war ein Höhepunkt, der in seiner wie mit der Goldwaage gewogenen Reinheit an Intonation und Textaussprache, der sparsamen und doch gewaltig steigernden Dynamik und der imponierenden geistigen Haltung kaum überbietbar schien. Und dennoch bot jeder Chor eine neue Ueberraschung und Steigerung. Nach Gesängen von Brumel, Mathieu Gascogne, Josquin de Pres und dem besonders eindrucksvollen Pater noster von H. L. Hasler folgten zwei Chöre von J. P. Swee-linck,. unter denen der 150. Psalm von gewaltiger Wirkung ist: in der zweiten Abteilung aber legitimierte sich der Niederländische Kammerchor als ebenso unbestrittener Interpret moderner Chorkompositionen. Frank Martins „Ariel-Gesänge“, Henk Badings bretonische Lieder sowie die „Trois Chansons“ von Maurice Ravel — wer hätte sie je in solcher Vollkommenheit gehört? Ein Abend, für den wir danken, und ein Chor, an den wir einen Wunsch haben: bald wiederzukommen. Franz Krieg

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung