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Von Bach-Stokowski bis zum Zwolftonjazz

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Tausende Menschen vor dem festlich beleuchteten Rathaus und auf der Ringstraße, kurze Ansprachen des Bundespräsidenten, des Bürgermeisters und des Stadtrates für Kultur und Volksbildung, gefolgt von Darbietungen der Symphoniker und des Staatsopernballetts, Bläserserenaden und Chorkonzerte auf den großen Plätzen: so wurden am vergangenen Samstag die Wiener Festwochen 1955 eröffnet.

Die Reihe glanzvoller musikalischer Veranstaltungen begann am Sonntagvormittag mit einem Konzert der Philharmoniker unter Leopold S t o-k o w s k i, der — unseres Wissens zum erstenmal in Wien — mit großer Spannung erwartet wurde. Zunächst einige Assoziationen zum Namen dieses berühmtesten und erfolgreichsten amerikanischen Dirigenten: Sohn eines Polen und einer Irin, 1882 in London geboren; „begann als Organist (aus dieser Zeit stammt seine Verehrung Bachs, die sich später in einer höchst umstrittenen Huldigung manifestieren sollte: der Instrumentierung der d-inoll-Toccata für Monsterorchester): steiler Aufstieg an der Spitze des Philadelphia-Orchesters; leidenschaftlich experimentierend: mit avantgardistischen Werken, Klangfarbenklavieren, elektrischen Toninstrumenten; sein Publikum zuweilen — in einem Englisch mit hartem slawischen Akzent — belehrend oder tadelnd; nicht nur musikalischer Mitarbeiter, sondern auch Filmstar in Hollywood; aber auch Gründer eines Jugendorchesters von 80 Mann, mit dem er hervorragende Schallplattenaufnahmen machte ... Leopold Stokowski begann sein Konzert mit drei von ihm instrumentierten und bearbeiteten Choralpräludien von Bach, von denen das letzte, „Wir glauben all' an einen Gott“, sich schon ziemlich weit vom Geist und von der Gestalt des Originals entfernt. In Mozarts Symphonie g - m o 11 und in der Zweiten von B r a h m s wirkte sich zunächst die geänderte Sitzordnung des Orchesters (sämtliche Streicher links, alle Bläser rechts vom Dirigenten) im Sinne einer gewissen Aufspaltung des Klanges in Register aus. Auffallend ist auch Stokowskis Neigung zu einer gewissen übergroßen Deutlichkeit des Details, einer „Ueber-belichtung“ alles Klanglichen, sowie die Tendenz zum Dramatisieren, wie wir es besonders in Brahms' „Pastorale“ nicht gewöhnt sind. —. Aber alles, was Stokowski tut, kommt aus einem großen und einheitlichen Konzept, und der große, schlanke Dreiundsiebzigjährige, der ohne Stab, aber mit Partitur, dirigiert (von der er freilich kaum Gebrauch macht), vermag von der ersten bis zur letzten Note zu faszinieren.

Am Abend des gleichen Tages wurde im überfüllten Großen Konzerthaussaal mit Ansprachen des Bundesministers für Unterricht, des Bürgermeisters der Stadt Wien und des Präsidenten der Konzerthausgesellschaft das 7. Internationale Musikfest eröffnet. Samuel Barbers „Gebete von Kierkegaard“ beginnen mit gregorianisch psal-modierenden Männerstimmen („O Du, in Dir unwandelbar, den nichts verwandelt, fänden wir . doch Ruh, bleibende Ruh in Dir..'.“), vereinigen Orchester und vielstimmigen Chor (Singakademie), fügen lyrische Partien des Sopransolos ein (Hilde Güden) und klingen gedämpft-feierlich aus: ein ernstes, ernst zu nehmendes Werk mit originellen Ansätzen, zu deren Ausgestaltung und gültiger Formulierung die gestaltende Kraft des Komponisten nicht ganz auszureichen scheint, — Der große Prokofieff reduziert in seinem Ballett „Romeo und Julia“ die Handlung auf einfache, plastische Szenen und schreibt dazu eine äußerst wirkungsvolle, gestische Musik, die in ihrer allgemeinverständlichen Diktion auch das Konzertpodium in eine Bühne verwandelt, auf der sich der Konflikt der Montagues und Capulets abspielt und wo Romeo am Grabe der Julia seiner ergreifenden Klage Ausdruck gibt. — Den Abschluß des Konzertes bildete das im vergangenen Jahr in Donaueschingen uraufgeführte „Concerto für Jazzband und S y m p h o n i e o r c h e s t e r“ von Rolf Liebermann, dem Autor der „Leonore 1940/45“ und der „Penelope“. In der Art des alten Concerto grosso wird hier, als Ripieno, ein Jazzensemble (Kurt Edelhagen) mit vier Trompeten, vier Posaunen, fünf Saxophonen, Klavier, Kontrabaß und Schlagwerk dem „klassischen“ Orchester gegenübergestellt und mit diesem im Schlußstück vereinigt. Dreimal wechseln, nach einer kurzen Introduktion, moderne Tanzformen (Jump, Blues und Boogie-Woogie) mit zwei Scherzi und einem Interludium des „Rahmenorchesters“, während sich im Mambo-finale beide Ensembles in mitreißendem Rhythmus und grellem Bläserklang vereinigen. — Dem Dirigenten dieses schwierigen Programms, Massimo Freccia, und den Symphonikern gebührt höchstes Lob. — Gewissermaßen als klassisch-romantisches Interludium großen Stils spielte Alexander Brailowsky das Klavierkonzert e - m o 11 von Chopin.

Die große Zahl zeitgenössischer Werke, zum Teil Ur- und Erstaufführungen, wird uns in den nächsten Wochen nur ein Eingehen auf die allerwichtig-sten Stücke und Interpretationen gestatten. Daher können zwei künstlerisch bedeutende Veranstaltungen, die unmittelbar vor dem Beginn der Festwochen stattfanden, an dieser Stelle nur eben lobend erwähnt werden: der von Erik Werba begleitete Liederabend von George London und das von Joseph Krips — an Stelle des erkrankten Herbert von Karajan — geleitete Konzert (Egmont-Ouvertüre, Violinkonzert von Beethoven, Solist: Wolfgang Schneiderhan, und 4. Symphonie von Brahms).

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