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„Golgotha“ unter Ernest Amsermet und „Ödipus Rex“ mit Jean Cocteau

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Durch die Betrachtung von Rembrandts „Drei Kreuzen’ auf einer Ausstellung in Genf wurde Frank Martin angeregt, die Passionsgeschichte in einem kurzen Werk zu konzentrieren, wie e6 der große Maler auf seinem bescheidenen rechteckigen Stück Papier getan hat. Doch kam Martin bald zu der Einsicht, daß nur ein breitangelegtes Freskogemälde dem Stoff angemessen sei, und so entstand das große Oratorium „Golgotha“ für Soli, Chor, Orchester und Orgel nach Texten aus drei Evangelien und aus den Meditationen des hl. Augustin, die eine Art lyrischen Kommentar zur Leidensgeschichte bilden. Der Kühnheit des Unterfangens, nach Schütz und Bach die Passion neu zu gestalten, waresich der Komponist wohl bewußt, aber er meint, „daß jede Epoche wohl das Recht hat, zu versuchen, die großen Themen zu behandeln, von denen unser Geist gespeist wird, und daß eine neue Vision der Leiden und des Sieges Christi über den Tod ihr eine verstärkte Gegenwart verleihen kann“. Der Singverein und die Wiener Symphoniker haben sich unter der Leitung von Ernest Ansermet um das große Werk bemüht, das einen tiefen Eindruck macht und verhältnismäßig leicht zu hören, aber 6ehr schwierig zu interpretieren ist. Es besteht — in selbstverständlichem Abstand — in Ehren neben der großen „klassischen“ Matthäuspassion J. S. Bachs, die wir zwei Tage später durch die Leipziger Thomaner unter Günther Ramin im gleichen Saale hörten.

Ein Kapitel der neueren Musikgeschichte wurde aufgeschlagen, als Jean Cocteau mit der Textrolle des Sprechers das von den Mitgliedern der Singakademie und den Symphonikern besetzte Podium betrat und sich vor die Phalanx der sechs Haup trollen träger stellte, um sein vor mehr als 25 Jahren für Igor Strawinsky geschriebenes Oratorium „Ödipus Rex — das er selbst als „mythische Liturgie bezeichnet — vorJ zustellen und zu interpretieren. Die dem tragischen Gegenstand angemessene Strenge und Einheitlichkeit des Stils, die großflächige und klare Form, die im Gegensatz zum romantisch-dynamischen Mu6ikdrama statischkontemplative Haltung als Ausdruck des antiken Schicksalsglaubens: all das fesselt und überzeugt auch heute noch, obwohl vieles von dem, was bei der umstrittenen Uraufführung des Werkes noch unerhört neu und revolutionär wirkte, heute fast Gemeingut des neuen oratori6chen Stils und der Opernbühne geworden ist, und obwohl Strawinsky in späteren Werken zu noch gültigeren Resultaten, zu noch einfacheren klanglichen und formalen Lösungen gelangt ist. — Natürlich galt der Beifall auch den Ausführenden, vor allem Jean Cocteau als Sprecher sowie Karl Böhm und den Solisten’ (Helmut Kreb6 und Marianne Radev 6eien für alle genannt). Vor allem aber bezeugte er die Anerkennung und Gültigkeit eines Werkes, da6 auch eine eigensinnige und zeitabgewandte Kritik nicht mehr verkleinern kann. In Strawinskys Lebensbericht („Chroniques de ma vie“, Paris, 1935) mag der Interessierte nachlesen, welche Bedeutung gerade diesem Werk im Schaffen des Komponisten zukommt, wie sich die Zusammenarbeit mit Cocteau gestaltete und wie „Ödipu6 Rex zunächst aufgenom- iren wurde. Ein Stück Musikgeschichte wird darin lebendig, das wir heute besser begreifen, als die Zeitgenossen vor 25 Jahren — wa6 zur Vorsicht bei der Beurteilung neuartiger Werke mahnt…

In einem von Hans Swarowsky dirigierten Konzert der Symphoniker hörten wir das an dieser Stelle bereits besprochene Violinkonzert von B a r t 6 k, gespielt von Yehudi Menuhin, der auch das von ihm wiederentdeckte Violinkonzert des 13jährigen Mendelssohn zur Wiener Erstaufführung brachte (ein anmutiges, klassizistisches Werk mit dankbarem Geigenpart, ohne besondere Kennzeichenl. J. N. Davids 5. Symphonie, vom Komponisten dirigiert, i6t ein recht zwiespältiges Werk, dem man freilich auch nicht näher kommt, wenn man es von seiner Zeit distanziert, „die den traurigen Ruhm beanspruchen darf, das Chaos menschlicher Verirrung zu einem bis dahin ungekannten Höhepunkt geführt zu haben . Das sind „Sprüche“, die nichts zum Verständnis der Mu6ik beitragen. Wenn man einen so abstrakten und asketischen Stil schreibt, wie David im Adagio dieser Symphonie, nach dem ein Teil de6 Publikums ohne Protest, sondern gelangweilt — was schlimmer i6t — den Saal verließ, dann will es uns schwer eingehen (und ist stilistisch kaum unter einen Hut zu bringen), wenn der Komponist im unmittelbar darauffolgenden Satz mit Saxophon, Posaunengli6sandi und anderen Groteskeffekten gewissermaßen vom Leder zieht, um zu verstehen zu geben, daß er auch anders kann.

Ein allzu buntes, allzu reichhaltiges Programm hatte das von Herbert Hafner dirigierte Konzert der Symphoniker, Lediglich die zwischen den Extremen Kornauth, Witeschnik—Jelinek stehenden Werke kommen für eine kritische Beurteilung in Betracht. Leider 6tanden sie am Ende des Programms: die hochinteressante, fesselnde 5. Syrhphonie von K. A. H a r t m a n n aus München für Bläser, tiefe Streicher und Schlagwerk: ein konzises, stilvolles und gutgearbeitetes Werk, das die Strawinsky- Scfaule nicht verleugn und als Abschluß ein rasantes Siebenminutenstück von deih Schweizer Rolf Liebermann, dessen Titel —| „Furioso“ — genau da6 ausdrückt, was der Komponist auszusagen beabsichtigte In den beiden letzten Stücken, wo die Sprache unserer Zeit gesprochen wird, gab auch der Dirigent 6ein Bestes.

Ein vorbildlich zusammengeetelltes Programm exekutierte unter Mario Rossi das Orchester des Turiner Rundfunks, ein sehr präzises, klanglich fetnst- differenzierte6 Ensemble. Das Concerto von Alfredo Ca6ella ist eiri Musterbeispiel formklarer, gehaltvoller und unprätentiöser heuer Musik. Boris Blachers Klavierkonzert, von Gerty Herzog bravourös gespielt, ist etwas etüdenhaft, verzichtet aber in erfreulicher Weise auf alles mähnenschüttelnde Virtuosentum im Liszt- Stil. Bartdks „Divertimento für Streicher“, eines seiner liebenswürdigsten t Werke, das der Komponist für Paul Sacher Und das Basler Kammerorchester geschrieben hat, leitete zu dem farbenprächtigen Finale, Debus6y6 „Iberia“ und dem heiteren Kehraus, einem Tanzwalzer von Busoni, der wohl als Huldigung an Wien gedacht war und daher auch von der Kritik nicht kritisch beurteilt, sondern mit einer Reverenz quittiert sei.

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