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Das Festival der 25 Städte

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In der Zeit vom 15. Juni bis 15. Juli fand das Hollandfestival statt, das heuer sein 20jähriges Jubiläum begehen konnte und ein besonders reichhaltiges, repräsentatives Programm aufzuweisen hatte. Von den 188 Veranstaltungen — Opernaufführungen, Schauspiel- und Ballettabenden, Symphonie- und Kammerkonzerten sowie einem Orgelwettbewerb — profitierten in erster Linie natürlich die größeren Städte Amsterdam, Rotterdam, Den Haag mit Scheveningen, Haarlem und Utrecht. Die meisten „Großveranstaltungen“ wanderten von einer Stadt zur andern, so daß, wer innerhalb einer Woche das Wichtigste sehen wollte, ein wenig im Lande herumreisen mußte, was aber angesichts der geringen Entfernungen und der guten Eisenbahnverbindungen keine Schwierigkeiten bereitet.

Wie die meisten großen europäischen Festspiele zeigt man auch beim Hollandfestival Eigenproduktionen und Gastspiele. Eine andere Eigentümlichkeit des Hollandfestivals ist: es hat kein „Programm“, steht unter keinem Motto, hat keinen Leitgedanken, es wäre denn der, durch Vorführung von Spitzenproduktionen mitzuhelfen, die Barriere zwischen alt und neu zu durchbrechen und, vor allem was das Konzertleben betrifft, diesem — das angeblich in Holland zu vergreisen droht — frisches Blut, das heißt, jüngere Hörer, zuzuführen. Diesem Zweck dient unter anderem auch der neue großartige Konzertsaal „De Doelen“, der optisch ebenso gelungen ist wie was seine Akustik betrifft und dessen Attraktion so groß ist, daß während der vergangenen (ersten) Saison in Rotterdam 20 bis 30 Prozent mehr jugendliche Hörer zu verzeichnen waren.

Die aufwendigste Eigenproduktion, die zugleich auch den größten Publikumserfolg hatte, war die Neubearbeitung des „Orfeo“ von Monte-verdi durch Bruno Maderna, der im vollbesetzten „Theater Carre“ neunmal vor jeweils 1200 Besuchern dirigieren konnte. Dieses an der ' Amstel gelegene Theater ist nicht etwa viereckig, wie sein Name vermuten läßt, sondern wurde nach seinem Erbauer so genannt und ist eigentlich ein Zirkus. Hier hatte Jean-Marie Simon eine Art Felsenbühne aufgebaut, nicht unähnlich der in Hellbrunn bei Salzburg, und diese wurde von Raymond Rouleau mit barockem Leben erfüllt. Vielleicht ist beiden, dem mit Lichteffekten und dekorativen Masken arbeitenden Bühnenbildner und dem Regisseur, manches (und das Ganze) zu spektakulär geraten, aber der Erfolg gab ihnen recht... Auch die musikalische Bearbeitung ist nichts für Puristen. Zwar hielt sich der bekannte italienische Komponist und Dirigent, was die Hauptstimmen und die Harmonik betrifft, an die seiner Meinung nach beste Kopie der Originalpartitur Monteverdis, aber im Klanglichen hat Maderna nicht unbedenklich, dooh weitgehend modernisiert. So zum Beispiel hat er ganz auf alte Originalinstrumente verzichtet (die heute ohnedies niemand mehr recht spielen könne), fügte einige Mandolinen und Gitarren hinzu und kargte auch mit Schlagwerk nicht. Außer zwei Harfen, einem Cembalo, einem Orgelpositiv und einem Glockenspiel bemerkte man auch ein Xylophon im Orchester. Und trotzdem: der musikalische Gesamteindruck war stark und authentisch, nicht zuletzt dank einiger ausgezeichneter Sänger, unter denen Marry McDaniel und Haiina Lukomska herausragten. Es spielte das Vtrechter Symphonieorchester und es sang der Niederländische Opernchor, ein überaus leistungsfähiges Ensemble. Und, wie bereits erwähnt, das Publikum ging mit wie bei einem Puccini oder Verdi, so daß man an das Wort von Alfred Kerr erinnert wurde, der von seinen Berlinern einmal sagte: „Mit diesem Publikum möchte ich auf Tournee gehen!“

Überhaupt reagiert das holländische Konzert- und Opernpublikum zwar bedächtig, aber durchaus

„richtig“, das heißt dem wirklichen Wert der künstlerischen Leistung entsprechend. So sahen wir in der weiträumigen Stadsschouwburg von Amsterdam Alban Bergs „Lulu“, ebenfalls eine Eigenproduktion des Hollandfestivals und als Erstaufführung für Amsterdam. Man brauchte nicht mit jedem Detail der Inszenierung Jo Duas einverstanden zu sein, und auch die Ausstattung Rudolf Küfners nicht als ideal zu empfinden. Aber die Besetzung der Titelpartie mit Anja Silja war es ohne Zweifel, und das Spiel des Concertgebouw-Orchesters unter der Leitung Andre Vandernoots kam gleichfalls dem Optimum sehr nahe. An diese Faktoren und an die faszinierende, in allen Farben schillernde Musik Bergs schien sich das Premierenpublikum zu halten und bedachte alle Ausführenden mit lang anhaltendem (jedoch nie lärmendem) Beifall.

Festlich-freundliche Stimmung herrschte im gleichen Haus einige Abende später beim Gastspiel des Prager Nationaltheaters, wo das vor kurzem auch in Wien akklamierte Solistenensemble Tattermuschovä, Zikmundovä und Jindrak unter der Leitung von Bohumil Gregor ebenso virtuos wie liebenswürdig seine Partien spielte und sang, während sich das Residentie Orkest mit der heiklen Partitur Janäceks hörbar schwer tat. Die in Wien nicht vorbehaltlos gewürdigten Dekorationen von Vladimir Nyvlt haben in Amsterdam sehr gut gefallen, und auch die schwierige Arbeit des Spielleiters Ladislav Stros wurde voll anerkannt. — Wer nur zehn Tage vorher das Gastspiel der Prager in Wien gesehen hatte und ihnen nun hier in Amsterdam wiederbegegnete, dem mochten recht erfreuliche Gedanken durch den Kopf gehen, die um die europäische Kunstintegration kreisten. Auf diesem Gebiet jedenfalls ließe sich der Gemeinsame Markt ohne Schwierigkeiten realisieren ...

Aus der langen Reihe der Konzerte seien zwei voneinander recht verschiedene herausgegriffen. Recht merkwürdige Dinge begaben sich im altehrwürdigen Concertf/ebouiü, dessen großer, sich in die Breite erstreckender Saal mit Namen berühmter Komponisten des 19. Jahrhunderts geschmückt ist, -deren Nachbarschaft dem Gast ein Schmunzeln entlockt, denn neben Richard Strauss, Mahler und Reger liest er auch den eines ihm nicht bekannten Herrn Potter und neben Debussy den eines Herrn Roehtgen, der auch einmal Musik geschrieben hat und hierorts aufgeführt wurde. Im Concertgebouw also dirigierte Francis Tarvis das Radio-Kammerorchester, das mit bemerkenswerter Routine und Unverdrossenheit nach den Fünf Orchesterstücken und der Kantate „Das Augenlicht“ von Webern neue Werke von Carel Brons, Bo Nilson und Isang Yun (Kantate Om Mani Padme Hum) spielte. Aber bei der im Mittelpunkt des Konzerts stehenden „Spatial Music Nr.. III 66/67“ geschah Merkwürdiges: Nachdem aus großen, auf dem Podium aufgestellten Lautsprechern flüsternde, rufende und beschwörende Stimmen in den Saal geschickt worden waren, begann das mitten unter dem Publikum sitzende Orchester sich in Gruppen von sechs oder acht Spielern aufzulösen und herumzuwandern, die Plätze zu tauschen und anderes mehr. Zum Glück war infolge mangelnden Publikumsinteresses genügend Platz dafür im Saal. Trotz dieser ablenkenden Ausführungspraxis ging von der Raummusik des Herrn Ton de Leeuw eine gewisse faszinierende Wirkung aus.

Diese übte, mit konventionellen Mitteln, auch der 82jährige Arthur Rubinstein aus, der, nach Absolvie-rung eines Konzerts mit , dem Concertgebouworkest unter Vander-noot, in welchem er den Solopart eines Klavierkonzerts von Mozart und den des 2. Klavierkonzerts von Brahms spielte, in Scheveningen ganz allein einen mehr als zweistündigen Chopin-Abend bestritt. Leider fand dieses Konzert nicht in dem prunkvollen, so eindringlich die Atmosphäre der Jahrhundertwende ausstrahlenden Kursaal statt, sondern in dem geräumigeren, natürlich bis auf den letzten Platz gefüllten Circustheater von Scheveningen. Rubinsteins Künstlerschaft zu rühmen hieße wahrhaftig Eulen nach Athen tragen. Doch seien als die stärksten Eindrücke notiert: die immer noch vorhandene, wie verhalten wirkende Kraft seines Spiels, die immer noch imponierende Geläufigkeit seiner Technik und die Beiläuflgkeit, mit der alles Virtuose abgetan wird. Vier Zugaben mußte der greise Künstler machen, dann erst entließ ihn das enthusiasmierte Publikum.

Zur Zeit, da dieser Bericht abgeschlossen werden mußte, hat das mit Spannung erwartete Gastspiel der Deutschen Oper Berlin mit Cimarosas „Heimlicher Ehe“ und Henzes „Elegie für junge Liebende“ noch nicht stattgefunden. Doch sei zum Schluß noch vermerkt, daß Hans Werner Henze mit insgesamt vier Orchesterwerken der ausgesprochene Favorit der Konzertprogramme des Hollandfestivals war.

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