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England ehrt seine Künstler

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„Im Zentrum des Orkans herrscht Ruhe“, schrieb Ernst Jünger in einem seiner Kriegstagebücher. An dieses Wort wird man erinnert, wenn man als Gast kurz vor, während und in der Woche nach den Wahlen tagsüber stundenlang in Englands Hauptstadt umherschlendert und am Abend einige repräsentative Veranstaltungen besucht. Keine Demonstrationen, nur wenig Wahlplakate, kaum merkbare Einschränkungen der Beleuchtung, auch keine ungeheizten Konzert- und Opernsäle. Auch sonst gilt es einige Vorurteile und Klischees abzubauen: die Achtmillionenstadt London ist weder düster noch nebelig, noch regnet es dort immer. Auch bei bedecktem Himmel ist sie sehr hell, freundlich und einladend, vor allem dank ihrer Weiträumigkeit. Der Gast aus Wien sucht vergeblich nach Verkehrsballungen, es gibt sie nicht, mit der Underground kommt man überallhin, und zwar in kürzester Zeit. Aber man bleibt lieber an der Oberfläche, und hier helfen einem die unzähligen langsam fahrenden Taxis, die alle wie Rolls-Royce aussehen und spottbillig sind, von einem „Zentrum“ ins andere. Denn London hat deren mehrere. Eines davon ist die Royal Festival Hall.

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„Im Zentrum des Orkans herrscht Ruhe“, schrieb Ernst Jünger in einem seiner Kriegstagebücher. An dieses Wort wird man erinnert, wenn man als Gast kurz vor, während und in der Woche nach den Wahlen tagsüber stundenlang in Englands Hauptstadt umherschlendert und am Abend einige repräsentative Veranstaltungen besucht. Keine Demonstrationen, nur wenig Wahlplakate, kaum merkbare Einschränkungen der Beleuchtung, auch keine ungeheizten Konzert- und Opernsäle. Auch sonst gilt es einige Vorurteile und Klischees abzubauen: die Achtmillionenstadt London ist weder düster noch nebelig, noch regnet es dort immer. Auch bei bedecktem Himmel ist sie sehr hell, freundlich und einladend, vor allem dank ihrer Weiträumigkeit. Der Gast aus Wien sucht vergeblich nach Verkehrsballungen, es gibt sie nicht, mit der Underground kommt man überallhin, und zwar in kürzester Zeit. Aber man bleibt lieber an der Oberfläche, und hier helfen einem die unzähligen langsam fahrenden Taxis, die alle wie Rolls-Royce aussehen und spottbillig sind, von einem „Zentrum“ ins andere. Denn London hat deren mehrere. Eines davon ist die Royal Festival Hall.

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Sie wurde 1951 zur Erinnerung an eine große Empire-Ausstellung vor 100 Jahren am linken Themseufer errichtet und ist Londons modernster Konzertsaal. Er hat 3400 Sitzplätze und einen vom Orchester abgetrennten Chorraum für 250 Sänger sowie eine dekorative Breit-wandorgel. Hier dirigierte der 85jährige Sir Adrian Boult, der in seinem Leben zwei Krönungskonzerte geleitet hat und mit allen nur denkbaren Ehrungen ausgezeichnet wurde, das London Philharmonie Orchestra, dessen Präsident er ist. (Der ständige künstlerische Leiter und Chefdirigent ist Bernhard Haitink, den wir vorige Woche am Pult der Wiener Philharmoniker sahen). — Auf dem Programm des ■ festlichen Konzertes stand das erste Klavierkonzert von Brahms, als dessen Solist Alfred Brendel einen wohlverdienten, geradezu stürmischen Erfolg beim Publikum hatte, obwohl die Differenzen unüberhörbar waren, die aus der vorwärtsdrängenden Art dieses „romantischen“ Musikers und dem langsameren Pulsschlag des 85jährigen Dirigenten resultieren. (Übrigens will sich Brendel, der seit einiger Zeit in London lebt, dauernd dort niederlassen).

Den zweiten Teil des Programms bildete die in den Jahren 1923 und 1924 geschriebene „Chorsymphonie“ von Gustav Holst, einem Wahlengländer schwedischer Abstammung, der vor 100 Jahren geboren wurde und 1934 hochgeehrt starb. Holst war ein vielseitig gebildeter und interessierter Mann, ein Gelehrter und ein Lehrender. Als Komponist hat er sich mit der Suite „Die Planeten“, die von Mary Wigman wirkungsvoll choreographiert und von Harald Kreutzberg zu Beginn der dreißiger Jahre wiederholt getanzt wurde, einen gewissen Ruhm erworben, auch auf dem Kontinent und in Amerika. Seine übrigen Werke sind bei uns und in anderen Ländern wenig bekannt, aber in London feiert man den bevorstehenden hundertsten Geburtstag des hochangesehenen Musikers und Freundes von Waugham Williams mit Begeisterung. Holst ist eine typische Übergangserscheinung von der alten zur neuen Musik, eine eminente Begabung, ein Eklektiker, gewiß, in dessen Musik Feuer und Eiseskälte merkwürdig gemischt sind. Das knapp einstündige Werk führt den Titel „Chorsymphonie“ und basiert ausschließlich auf Texten von Keats — was immerhin den guten Geschmack des Künstlers bezeugt. Die fünf Teile heißen: Anrufung des Pan, Ode an eine griechische Urne, Scherzo und Finale — das ein wenig abfällt. Die streng skandierende Choreinleitung und die Ode sind Höhepunkte der Inspiration, das rasante Scherzo zeigt eine ungewöhnliche Virtuosität bei der Behandlung des Chores und der Ausführung durch den Chor des London Philharmonie Orchestra. Mit gutem Grund hatte der junge Chormeister John Alldis die Einstudierung und Leitung dieses umfangreichen und komplizierten Werkes übernommen. Den schwierigen Solopart, auf weite Strecken in exponiertester Lage, sang treffsicher mit kühlem Sopran die 1944 geborene'Telicity Palmer. Das Publikum bereitete allen Ausführenden langanhaltende Ovationen. — Während dieser entdeckten wir im Programmheft unter den vielen Namen des Ehrenkomitees auch eine Lady Elizabeth von Hof-mannsthal: Sie ist die Frau des Dichter-Sohnes Raimund, der mit seiner Familie seit Kriegsausbruch in London lebt.

In Covent Garden gab's einen „Boris“ in russischer Sprache. Wer nicht darauf vorbereitet wurde, ist über die Lage und Umgebung des Royal Opera House nicht wenig erstaunt: Es liegt nämlich, ähnlich wie das Theater an der Wien, inmitten eines ausgedehnten Obst- und Blumenmarktes, nur ist die Fassade mit ihren sechs Säulen repräsentativer. Hier, auf dem ehemaligen Convent-Garten von Westminster wurde 1832 das erste Opernhaus errichtet und in den Jahren 1856 bis 1858 das neue Haus gebaut, wie es, von verschiedenen Modernisierungen und Verschönerungen abgesehen, noch heute sich darbietet. Der bewußt konservativ gehaltene Raum in rotem Plüsch und Gold hat 2200 Plätze und macht einen zugleich mächtigen und bequemen Eindruck — wie vieles in dieser Achtmillionenstadt.

Wir sahen die 70. Aufführung des Meisterwerkes von Mussorgsky, Boris Godunow, in Covent Garden, und zwar in der gängigen Bearbeitung durch Rimsky-Korsakow. Die geschmackvoll-dekorative, aber offensichtlich billige Ausstattung sowie die historisch richtigen Kostüme, die gleichfalls malerisch-wirksam, aber keineswegs aus kostbaren Stoffen hergestellt waren, hatte Georges Wakhewitsch entworfen. Da fällt dem Gast von auswärts ein, daß dieses große. Haus, das die Ansprüche einer Millionenstadt zu erfüllen hat und zugleich auch noch das Royal Ballet beherbergt, nur einen Bruchteil der Subventionen erhält wie andere große Opernhäuser — was sich aber, wie Figura zeigt — nicht unbedingt auf die Qualität der einzelnen Aufführungen auszuwirken braucht. Ande Anderson als Regisseur und der Dirigent Edward Dow-nes hielten sich zwar durchaus an die traditionellen Spielregeln, aber auch das schadet der Qualität einer Produktion nicht. — Gäste scheinen zur Zeit wenig eingesetzt: Nur für die Titelpartie hatte man den überragenden Nicolai Ghiaurow geholt, und für den Kronprätendenten, den falschen Dimitri, war Jon Buzea vorgesehen. Er wurde vollwertig durch den „Einspringer“ William McAlpine ersetzt. Die übrigen 20 Sänger-Darsteller trugen ausnahmslos englische Namen, von denen wenigstens die brillante Heather Begg in der wichtigen Partie der Marina genannt sei, die so kurz vor der Vorstellung diese Rolle von einer erkrankten Kollegin übernahm, daß ihr Name nicht einmal mehr in den dem Programm beigelegten Berichtigungszettel aufgenommen werden konnte, sondern nur auf einer Tafel im Kassenraum angezeigt war. Aber sie wurde vom Publikum stürmisch gefeiert, mit Recht, wenn man die Schwierigkeit der Partie und das ungewohnte Russisch in Betracht zieht, mit dem auch die übrigen Mitwirkenden erstaunlich gut fertigwurden. Da war gründliche Detailarbeit geleistet worden... Drei Pausen zu je 20 Minuten verliehen dem Abend Wagner-Dimensionen (von 19 bis 23 Uhr), und ein in der Krönungsszene mit Genuß über die Bühne geführtes und dort minutenlang postiertes, besonders wohlerzogenes Pferd verstärkte den Eindruck eines großen historischen Spektakels.

Wir erwähnten bereits das Royal Ballet, auch unter dem Namen Sadler's Wells bekannt, auch in anderen Häusern Londons tanzend und viel auf Gastspielen in England und im Ausland. Wir sahen Tschaikow-skys ungekürztes Ballett „Schwanen-see“ in der Choreographie von Petita und Iwanow, einstudiert von Nicolas Sergejew. Einzelne Nummern wurden von Frederick Ashton und Ninette de Valois neu choreo-graphiert. Bühnenbilder und Kostüme waren, wie bekannt und oft gesehen, von Leslie Hurry und besonders sorgfältig ausgeleuchtet. Am Pult stand der als Ballettdirigent sehr versierte und schätzenswerte Anthony Twinger. — Diese weltberühmte Truppe, deren Direktor gegenwärtig Kenneth MacMiüan ist, im eigenen- Haus mit einem klassischen Ballett zu sehen, ist ein Hochgenuß. Obwohl die Stars sich gar nicht starmäßig betrugen, sondern nur herrlich tanzten (Odette-Odile war Merle Parker, Prinz Siegfried David Wall, die Königinmutter Gerd Larsen, Baron Rothbart David Adams), entstand der Eindruck des Vollkommenen, spirituell Beschwinten, ästhetisch Exquisiten. — Auch hier scheint man auf ausländische Gäste fast ganz verzichten zu können, die Namen aller etwa 40 Mitwirkenden waren angelsächsisch, einige vielleicht skandinavisch.

Dieses kostbare Ensemble, das zu seiner maximalen Wirkung den Rahmen gerade dieses Hauses braucht, hat freilich auch ein seismographisch reagierendes, enthusiastisches und wohlinstruiertes Publikum, wahrscheinlich bedingt das eine das andere: Nie wurde in einen Tanz hineingeklatscht — man ist ja schließlich im Königlichen Opernhaus —, aber danach, nach jeder Nummer, wird jede Leistung genau nach ihrem Wert bedankt. Da gab es Stufen und Zwischenstufen des Applauses, geradezu eine Lektion für den von auswärts angereisten Gast in Ballettologie. Wie ja überhaupt diese große Stadt uns (manches zu lehren geeignet ist...

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