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Von Mosaiken uberstrahlt

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Palermos größtes Opernhaus — und eines der größten überhaupt — ist das Teatro Mas-simo, das in den Jahren 1874 bis 1895 von Basile Vater und Sohn in edlem klassizistischem Stil errichtet wurde. Daneben gibt es in Palermo noch das Teatro Biondo und das Politeama, wo die Aufführungen der zeitgenössischen Werke stattfanden, sowie das Teatro Stabile (Bellini), das gegenwärtig nicht mehr benützt wird. Hört man von den 3200 Sitzplätzen, die das Teatro Massimo hat, so stellt man sich eine Art Circus Maximus vor — und ist dann aufs angenehmste überrascht durch die noble und harmonische Innenausstattung in Rot und Gold sowie durch die ausgezeichnete Akustik, die ein wenig an die Bayreuther erinnert und dank derer die Stimmen mühelos über die Rampe kommen.

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Palermos größtes Opernhaus — und eines der größten überhaupt — ist das Teatro Mas-simo, das in den Jahren 1874 bis 1895 von Basile Vater und Sohn in edlem klassizistischem Stil errichtet wurde. Daneben gibt es in Palermo noch das Teatro Biondo und das Politeama, wo die Aufführungen der zeitgenössischen Werke stattfanden, sowie das Teatro Stabile (Bellini), das gegenwärtig nicht mehr benützt wird. Hört man von den 3200 Sitzplätzen, die das Teatro Massimo hat, so stellt man sich eine Art Circus Maximus vor — und ist dann aufs angenehmste überrascht durch die noble und harmonische Innenausstattung in Rot und Gold sowie durch die ausgezeichnete Akustik, die ein wenig an die Bayreuther erinnert und dank derer die Stimmen mühelos über die Rampe kommen.

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Die Spielzeit hat am 10. Dezember begonnen und dauert bis gegen Ende Mai. Während dieses Zeitraums gibt man wöchentlich zwei bis drei Opern. Dann spielt man nochmals im Sommer, und zwar drei oder vier Opern je dreimal. So kommt man ungefähr auf 90 Abende. Für die gegenwärtig laufende Spielzeit sind 14 Werke angesetzt, darunter „Fedora“ von Giordano, natürlich mehrere Verdi-Opern, aber auch „11 Cordovano“ von Petrassi, „Les Malheurs d'Orphee“ von Milhaud, „La voix humaine“ von Poulenc auf einen Text Cocteaus und „L'heure espagnole“ von Ravel. Kein schlechter Spielplan für einen St agionebet rieb!

Wir sahen die Premiere von „Simon Boccanegra“ in einer Inszenierung von Herbert Graf mit dezenten, ein wenig kühlen Bühnenbildern von Georgeis Wakhevitsch. Unter der Leitung von Olivero de Fabritiis sangen Giuseppe Taddei, Ilva Ligabue, Raf-faele Arie, Giorgio Merighi, Walter Monachesi, Enrico Campi, Glauco Scarlini und Elvira Galassi. Die hohe Qualität dieser Aufführung resultierte nicht nur aus der sorgfältigen Einstudierung des Chores und des Orchesters, sondern auch aus der Homogenität der Stimmen: mit einer Ausnahme waren alle Sängerinnen und Sänger Italiener. — Das festlich gekleidete Publikum, an solchen Standard offensichtlich gewöhnt, applaudierte lebhaft, aber keineswegs frenetisch. — Der künstlerische Leiter des Teatro Massimo, Angelo Musco, hat diese letzte von ihm vorbereitete Premiere nicht mehr erlebt: er starb am letzten Tag des alten Jahres. Im alltäglichen Betrieb wird sich dieser Verlust kaum auswirken, da alle praktischen Fragen von einem Segrelario Generale (der des Teatro Massimo ist Pietro Diliberto) behandelt und gelöst werden.

Doch nicht um Verdi zu hören haben wir die weite Reise unternommen (obwohl dieser Abend zu den erfreulichsten zählte), sondern um der Sesto Settimane Internationale di Palermo beizuwohnen, die zum erstenmal 1960 veranstaltet wurde. — Im Unterschied etwa zu der Musikbiennale von Venedig und dem Maggio musicale von Florenz, die „gemischte“ Programme, also auch einmal ein klassisches Konzert, ein romantisches Chorwerk, ältere Opern und Kompositionen der „Klassiker der Moderne“ darbieten, widmet Palermo mit bemerkenswerter Konsequenz seine Konzerte und szenischen Darbietungen ausschließlich der zeitgenössischen Musik, und zwar hauptsächlich der Avantgarde. Hier wurden während der vergangenen Jahre zahlreiche Werke von Berio, Boulez, Pousseur, Donatoni, Petrond, Kagel, Kayn, Bussotti und anderen ur- oder erstaufgeführt. Auch der Österreicher Kurt Schwert-sik kam hier einmal zu Wort. Heuer konnte man innerhalb von sechs Tagen mit Programmen, die Marathonläufen glichen, insgesamt 30 Werke junger und jüngster Komponisten hören, die für den Konzertgebrauch, für Tonband oder für das musikalische Theater geschrieben waren, teüwedse im Auftrag der Veranstalter. Diese sind: vier regionale Institutionen und der Italienische Rundfunk (RAI). Finanziert wurden' die heurigen Musikwochen vom Governo centrale mit 21 Millionen Lire, von der Autonomen Region Sizilien mit 7 Millionen und der RAI mit 5 Millionen Lire. — Der Betrag von insgesamt 33 Millionen Lire kann im Hinblick auf die Zahl der dargebotenen Werke und die Ansprüche an Proben und Personal sowie was den Aufwand an szenischen Mitteln betrifft als bescheiden, ja als gering bezeichnet werden. Das Programm wird — ähnlich wie das der Wiener Festwochen in den ersten Jahren nach dem Krieg — von einem Komitee und einigen Beratern erstellt. Organisation und Durchführung liegen in den Händen des Barons Francesco Agnello, eines Mannes in mittleren Jahren, der sich in allen Situationen — und mit einem Ministab von Mitarbeitern — zu helfen weiß. Überdies galt es heuer etwa 70 ausländische und 30 italienische Pressevertreter zu betreuen, von denen einige auch zu der gleichzeitig im Teatro Politeama stattfindenden Ausstellung moderner bildender Künstler sowie wegen einiger „avantgardistischer“ Filme gekommen waren. (Diese hatten durchweg nur Liebhaberniveau und waren eher eine Belastung als eine Bereicherung des Programms.)

Das Eröffnungskonzert verlief gar nicht programmgemäß, denn es wurde dabei mehr geredet als musiziert. Nach der Tonbandwiedergabe eines neuen Werkes von Luigi Nono kam es während des Vortrags einer mehr langweiligen als provokanten Klavierkomposition von Francesco Donatoni zu sich ständig steigernden Protestdemonstrationen. Ein Redner nach dem andern kam auf die Bühne und sagte seine Meinung über das anscheinend unerschöpfliche Thema „Kunst und Publikum“. Man war mit den gehörten eineinhalb Stücken nicht zufrieden und attackierte die modernen Künstler und die Veranstalter. Aber alles geschah auf recht friedliche Art, manche Redner ließen sich im Türkensitz auf dem Podium nieder und warteten, bis ihr Vorgänger seine Expektorationen beendet hatte, sagten dann das Ihre und gingen zufrieden wieder auf ihre Plätze. Dem Gast von auswärts schien es, als sollte das Konzert durch Reden sabotiert werden. Aber weit gefehlt: mit Aldo Clementis „Collage 3 — Dies Irae“ für Tonband und Franco EvaSmgelistis aparter Komposition für kleines Orchester und Tonbandgeräusche, das den deutschen Titel „Die Schachtel“ trägt, ging das Konzert mit mehr als einstündiger Verzögerung weiter und zu Ende. Darauf folgte dann noch eine Vorstellung des Musiktheaters mit einem Stück von Vittorio Gelmetti, das leider nicht hielt, was der poetische Titel „Descrittione del gran Paese“ versprach: etwa eine Stunde lang gingen fünf Instrumentalisten auf der Bühne umher, tauschten spielend die Plätze, gelegentlich auch die Instrumente und sprachen miteinander, statt in die Noten zu schauen. Eine an der „Aktion“ beteiligte Sängerin machte mit ihren Vokalisen allerdings noch keine Oper... Ein anderer Tag hatte das folgende Programm: 9.30 Uhr vier Filme des „Cinema independente“, um 11 Uhr ein Konzert unter dem Titel „Volksmusik und neue Kultur“, am Nachmittag von 16 bis 18 Uhr eine Diskussion über das gleiche Thema, um 18.15 Uhr zwei ausgedehnte Werke des Gruppo Musica Elettronica Viva und um 21.45 Uhr das Spettacolo „Soene del Potere“ von Domenico Guaccero für Sänger, Instrumentalisten, Schauspieler, Tänzer, je einen Akrobaten, Sprecher, Vorleser usw., das sich bis spät in die Nacht hinzog und ein Gefühl der totalen Verwirrung auslöste. Denn aus der Montage von Texten Balestrinis, Bartolottos und anderer Zeitgenossen sowie aus Reden und Schriften von Hitler, Huxley, Mao und Novalis, Ausschnitten aus dem Rajk- und dem Oppen-heimer-Prozeß konnten sich auch meine italienischen Kollegen keinen Reim machen. Und aus der Musik, die eine eher sekundäre Rolle spielte, auch nicht.

Ein anderer Abend, der gegen 23 Uhr begann und gegen 'A 2 Uhr beendet schien (es hätte in diesem Stil auch bis 5 Uhr in der Früh weitergehen können), war drei szenischen Werken von Mauricio Kagel gewidmet: „Phonophonie“, „Variationen über Tremens“ und „Montage 1968“. Das Unbefriedigende aller dieser Versuche, das musikalische Theater zu erneuem, entsteht vor allem dadurch, daß man den Eindruck des Unfertigen, nicht genügend durchdachten (obwohl im einzelnen Auskalkulierten) hat. Kommen dazu noch offensichtliche Mängel in der szenischen Realisierung, so steht man ziemlich ratlos vor diesen Experimenten mit unzulänglichen Mitteln. Zwar lassen es die Autoren an Erklärungen nicht fehlen, und der umfangreiche, von Gioacchino Lanza Tomasi sorgfältig redigierte Kommentar wäre einer besseren Sache würdig.

Das gilt vor allem für die „musikdramatischen“ Werke und die meist auf elektronischem Weg hergestellten Kompositionen für Tonbänder. Auf diesem Gebiet scheint den Erzeugern überhaupt nichts Neues mehr einzufallen. Aber das ist eine Krise, für die man weder die einzelnen Künstler noch die Veranstalter verantwortlich machen kann. So empfing man die positivsten Eindrücke von einigen Kammermusikwerken, und zwar ohne Tonbandzaubereien. Der Krakauer Julius Luciuc zeigt in seiner „Passacaglia“ für präpariertes Klavier echte Klangphantasie, der 1929 in Tomsk geborene und in Moskau lebende Russe E. Denisow, erweist sich in seiner „Ode“ für Klarinette, Klavier und Schlaginstrumente als legitimer Nachfolger Weberns. Originell in Klang und Einfall waren die Kompositionen von Marcello Panni („Veni Creator“, Kammermusik für 7 Instrumente), Luca Lombardis Rondell II auf einen Text Mallarmes, Francesco Pennisis „Choralis cum Figuris“, Francesco Carraros „Lithops“, Walter Branchis „Enueg“, Salvatore Sciarinos klangspielerisches und fernöstlich gefärbtes „Aka Aka to I, II III“ und als geistvoller Scherz: Paolo Castaldis „Elisa“, eine Romantiker- und Salonstück-Parodie für Klavier. Den größten Publikumserfolg hatte, verdientermaßen, Morton Feldman mit einem zarten Klangfarbenspiel für Violine, Violoncello, Posaune und drei Klaviere im letzten Konzert, nach dem John Ca-ges „Winter Music“ aus dem Jahre 1957 für fünf Klaviere recht robust, zuweilen brutal wirkte, obwohl die Klaviere hier nicht in der bekannten Cage-Manier malträtiert werden.

Die Ausführenden aller dieser und noch vieler anderer Stücke waren, von einigen ausländischen Gruppen und Künstlern abgesehen, Solisten und Dirigenten aus Palermo, Rom und Mailand. Sie entledigten sich mit stoischer Ruhe, trotz gelegentlicher Störungen, ihrer schwierigen, oft höchst undankbaren Aufgaben. Aber sie mögen sich trösten: dem Kritiker ist es nicht besser ergangen. Denn wo der Aufbau, zuweilen auch der Verlauf und die Struktur einer Komposition nicht mehr kontrollierbar sind, wird die Beurteilung schwierig, zuweilen unmöglich. Und wenn man, nach kurzer Nacht, am nächsten Morgen in der Stadt umherging, die herrlichen Kirchen betrat, die vielen Paläste bewunderte oder nach Mon-reale hinauffuhr, drängten sich Vergleiche zwischen Kunst und „Kunst“ auf, die nicht zugunsten der Lebenden ausfielen. Zumal in dieser Stadt, welche wohl die schönsten und kostbarsten Mosaiken der Welt besitzt. Doch hierüber — im Rahmen einiger sizillanischer Impressionen — ein andermal mehr.

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