6636040-1957_15_15.jpg
Digital In Arbeit

Aus der Hexenküche der Musik

Werbung
Werbung
Werbung

Hexenküche der Musik. Von Kurt Blaukopf. Verlag Arthur Niggli. Teuffen-St. Gallen- Wien. 176 Seiten. Preis 75 S.

Gibt es eine musikalische Weltsprache? (Ist unser Tonsystem das einzig mögliche?) Wie laut war Mozarts Welt? Wie beeinflußt der Raum die Musik? (Klingt, zum Beispiel, im Großen Musikvereinssaal Brahms oder Strawinsky besser?) Was ist Schlagwort, was Wirklichkeit bei „High Fidelity“? Welcher Unter- chied besteht zwischen konkreter und elektronischer Musik? — Es geht dem Autor, wie man sieht, nicht um Stile und Richtungen, nicht um Fragen der Form oder der Komposition, sondern vornehmlich um technische Probleme, insbesondere um solche der mechanischen Reproduktion, mit denen in unserer Zeit — via Radio, Schallplatte und Tonband — jeder täglich Jn Berührung kommt, über die aber die wenigsten Genaues wissen. Musiker und „Laien" müssen angesichts dieser Entwicklung noch einmal auf die Schulbank, und in Kurt Blaukopf finden sie einen Lehrer, der es versteht, auch das Komplizierteste einfach, faßlich — und mit Humor zu sagen. Eben wie ein guter Lehrer. Bei der unterhaltsamen Lektüre dieses Buches kam uns die Idee, daß auf diesen 170 Seiten Material für einen ganzen Vorlesungszyklus steckt, der sich, zu zwei Doppelstunden in der Woche gerechnet, mindestens auf ein Semester ausdehnen ließe. Dann nämlich könnte der Autor „auspacken“ (denn man spürt beim Lesen fast auf jeder Seite, daß er wesentlich mehr weiß, als er sagt) — und er könnte an Beispielen demonstrieren, was ihm am Herzen liegt. Die Kapitel „Schach dem Fortissimo“ und „Klangrauschgifte“ seien besonders hervorgehoben. Hier werden Fragen von brennender Aktualität aufgerollt, und zwar mit erfreulicher Offenheit. Die wissenschaftliche Informiertheit des Autors wird durch ein Literaturverzeichnis erhärtet, in dem die wichtigsten Werke und Aufsätze in Fachzeitschriften, die sich mit der Materie befassen, angeführt sind.

Fortschritt und Tradition. Zehn Jahre Musik in Wien (1945—1955). Von Hermann Ullrich. Oesterreichischer Bun'desverlag, Wien. 372 Seiten. Preis 98 S.

Der vorliegende Band enthält vier einleitende Essays, über Wiens große Musikinstitute (Oper, Musikverein, Konzerthaus und Philharmoniker), eine Folge meist biographischer Studien über bedeutende, vor allem österreichische Musiker und, als Hauptteil, (ab Seite 150), ausgewählte Opern- und Konzertkritiken, die während der vergangenen zehn Jahre, ebenso wie die vorausgegangenen Essays und Studien,

in der Wiener Tageszeitung „Neues Oesterreich“ eiifhienęę, įnd. Mit dieser ,? mmlung .,ųud in der. „Tendenz“ sieht sich. — und ist - Hotrat. Dr.Ullrich als legitimer Nachtatire und rortsetzei der bekannten Wiener Musikkritiker Hanslick, Decsey, Korngold und Marx, auf deren Zeugnis er sich auch wiederholt beruft. Mit ihnen teiit Ullrich das fundierte Fachwissen, die reiche Erfahrung, die von historischen Reminiszenzen illustrierte Darstellung, den lebnarteu, zuweilen pointierten Vortrag sowie die Neigung zur Polemik gegen die „Neumusik“. Zwar steht im Titel der „Fortschritt" an erster Stelle, und es wird ihm auch, neben der „bewahrenden, schützenden und aufbauenden Kraft der Ueberlieferung" ein Platz einge- räumt. Aber diese Toleranz gilt nur dem „organisch sich entwickelnden, echten und maßvollen" Fortschritt, nur jener neuen Kunst, „die echte Werte präsentiert“. Die Entscheidung hierüber ist freilich schwierig, und der laudator temporis acti wird immer dazu neigen, die Braven unter den Zeitgenossen den Kühnen und wirklich Neuen vorzuziehen. Liest man etwa nacheinander die Besprechungen von „Dantons Tod“ und „Iwan Tarassenko', so gewinnt man den Eindruck, daß der Autor des letzteren der bessere Komponist ist; wägt man die Adjektiva in den Besprechungen des „Wozzeck“ und des „Konsul", so sinkt die Schale rapid auf der Menotti-Seite. Hierzu paßt, daß als Autoren der „radikalen Moderne“ auch Komponisten, wie Einem, Britten, Laytha, Schiske und Berger, genannt werden. — Es ist aber nicht Aufgabe des Kritikers, das Mittelmaß zu pflegen und zu protegieren, sondern das effektiv Neue und Geniale zu erkennen. Die Begegnung mit der genialen Begabung ist die wirkliche Bewährungsprobe, und gerade auf diesem Gebiet haben Ullrichs Vorgänger oft versagt (Hanslick, an dessen Rehabilitierung heute, auch in Deutschland, emsig gearbeitet wird, hat kaum eine Gelegenheit vorübergehen lassen, in dieser Hinsicht danebenzuhauen; in allen übrigen Fragen hatte er recht/). Von seiten der „Konservativen“ wird oft den „Modernen“ der Vorwurf der Intoleranz und des Terrorismus gemacht; aber ich habe noch nie aus „fortschrittlicher“ Feder ein despektierliches Wort gegen einen der großen Musiker der Vergangenheit, von Bach bis Bruckner, gelesen — Dann freilich scheiden sich die Geister: die einen halten

E. W. Korngold, die anderen Bartök für den bedeutenderen Komponisten. H. Ullrichs Polemik gegen die Neutöner ist zuweilen recht temperamentvoll. „Steril, konstruiert und zerebral", „krasse, gewalttätige Häufung von Kakophonien" — solche Epitheta dienen allerdings weniger zur Beschreibung und Charakterisierung als vielmehr zur Diskriminierung der zeitgenössischen Musik. (Seite 34 muß es statt „Turagalilla" heißen „Turangalila“; sowohl Hölderlin als auch Orff schreiben „Antigonae“, nicht „Antigone“. Zu Seite 309: der Titel „Pacific 231“, den Honegger seinem Premier mouvement symphonique später gab, ist eine Mystifikation. Das Stöhnen. Rütteln und Kreischen einer Schnellzuglokomotive hat man nachträglich in das Stück hineingehört Komponiert wurde es als eine Reihe von Choralvariationen,

deren Bewegung sich, bei gleichzeitiger Beschleunigung des Rhythmus, ständig verlangsamt. — Seite 5: Decsey statt Descey.) Ist man geneigt, über zahlreiche Auslassungen dieser Art hinwegzulesen, so empfängt man nicht nur eine Uebersicht über zehn wichtige Jahre des Wiener Musiklebens, sondern darüber hinaus auch Belehrung und Anregung genug.

Musik. Eine Einführung. Von Kurt Pah len. Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau. 325 Seiten. Preis 23 sfrs.

Der Autor — Dirigent, Lehrer und seinerzeit Vortragender an den Wiener Volkshochschulen, jetzt in Montevideo — beherrscht die Materie, soweit notwendig, und hat Talent für den interessanten, volkstümlichen Vortrag. Wer freilich das Elementare über den Klang, unser Musiksystem, die musikalischen Gesetze. Notenschrift und Instrumente, Gehör und Stimme, die musikalischen Formen sowie über mechanische und elektronische Musik weiß, wird kaum etwas Neues erfahren (lediglich in der folkloristischen Abteilung ist weniger Bekanntes, allerdings sehr willkürlich und unvollständig, zusammengestellt) Als erste Information, besonders für junge Menschen, kann das Buch empfohlen werden, das sehr ansprechend ausgestattet ist und reiches, gutausgewähltes Bildmaterial enthält (am eindrucksvollsten: Chopins Geburtshaus in Zelazowa Wola. neben dem das auf der gleichen Tafel abgebildete Geburtshaus Schuberts geradezu großstädtisch wirkt).

Paul Hindemith. Zeugnis in Bildern. Mit einer Einleitung von Heinrich Strobel. B. Schotts Söhne, Mainz. 87 Seiten.

Hier hat ein Verlag seinem bedeutendsten Autor ein ebenso würdiges wie liebenswertes Denkmal gesetzt. (Von wie wenigen Monumenten kann man das sagen!) „Dieses Buch“, schreibt Dr. Strobel in der Einleitung, „ist Zeugnis eines Komponisten, der mit unbeirrbarer Folgerichtigkeit seinen Weg durch die Wirrnisse der Zeiten ging, des , eigenen Wertes wohl bewußt und doch in der Bescheidenheit vor seinem künstlerischen Auftrag. . . Dieses Buch ist Zeugnis eines Daseins voll freudigen Wirkens, voll Ernst und Humor, voll streitbarer Kraft und persönlicher Güte, voller Liebe zum Leben und voller Ehrfurcht vor dwii Geheimnis dieses Lebens. Es ist ein Bekenntnis zur Musik, deren edle Stimme, von meisterlicher Hand geführt, allen Streit des Tages zum Schweigen bringt.“ Privatbilder im Kreis von Musikern mit der Frau, Mitarbeitern und Kollegen, Reproduktionen von Handschriften. Konzertprogrammen, Zeitungsausschnitten und des Hobbys (der eigenen, zum Teil farbigen Zeichnungen des Komponisten) fügen sich zu einem Bild einer Persönlichkeit und einer Zeit, die es dem einzelnen nicht leicht gemacht hat, sich treu zu bleiben und den eigenen Weg quer durch die politische Hexenküche zu gehen. So entstand nicht nur eine Künstlerbiogräpjiie in, Bildern, sondern, auch ein wichtiges Dokument zur Kultur- und Zeitgeschichte. Die geschmackvollmoderne und solide Ausstattung des stattlichen Bandes entspricht dem Inhalt. Ein Buch, das wir gern in vielen Händen wüßten.

Carl Orff. Ein Bericht in Wort und Bild. Mit Beiträgen von K. H. R u p p e 1, G. R S e 11 n e r und W. Thomas. B. Schotts Söhne, Mainz. 71 Seiten Bilderteil und 37 Seiten Text

Dieser Band ist, verglichen mit dem Hindemith- Buch, weniger privat, sondern fast ausschließlich dem Werk gewidmet. Neben einigen Bildnissen und Handschriftproben des Komponisten bringt er interessante, technisch hervorragend reproduzierte Bilder von den verschiedenen Inszenierungen sämtlicher Bühnenwerke Orffs, die zeigen, wie sehr dessen Schaffen das zeitgenössische Musiktheater angeregt hat. Sehr lesenwert auch die drei einleitenden Essays über Orff, sein Theater und das Schulwerk. Format, Druck, Glanzpapier und graphische Ausstattung wie beim Hindemith-Buch.

Casals. Mensch und Künstler Ein Photobildband von Peter Moeschlin und Alexander Seiler. 116 Seiten, 80 Seiten Kunstdruckbilder. Walter-Verlag, Olten und Fteiburg im Breisgau. Preis. 29 sfrs.

Mit dem Text ist Alexander Seiler etwas Gutes — und Seltenes — gelungen: eine zugleich plastische und synthetische Darstellung des Menschen und Künstlers Casals, bei Verzicht auf anekdotisches und biographisches Detail. Der Band führt nicht von der Wiege bis nach Pradės, sondern — zugunsten bildmäßiger und stilistischer Geschlossenheit — umfaßt nur die letzten Jahre, wobei die Meisterkurse in Zermatt im Mittelpunkt stehen Hier, in diesen und zahlreichen anderen Bildern, wird auch die Ausstrahlung der Persönlichkeit und der Kunst von Pablo Casals auf andere Menschen sehr suggestiv gezeigt. Den größten Eindruck machen einige Bilder mit Albert Schweitzer: die beiden Alten, am Klavier meditierend-diskutierend oder bei gemeinsamem Gang auf einer Dorfstraße. Auch einige Bilder von und mit Menuhin haben eine vierte Dimension. Sehr schön, wie auf einigen dieser Meisterphotos das Elementare, Bäurisch-Ungeschlachte von Casals zum Ausdruck kommt. — Auch dies Leben wurde, wie das von Paul Hindemith, durch die politischen Ereignisse, wenn nicht aus der Bahn geworfen, so doch tiefgreifend beeinflußt. Das ist der ernste Hintergrund all dieser Bilder.

Rečiams Ballettführer. Von Otto Friedrich Regner. Mit 32 Bildtafeln. Reclam-Verlag, Stuttgart.

430 Seiten. Preis 5.80 DM.

In einem Vorwort von einem Dutzend Seiten, das speziell den Weg des deutschen Balletts nachzeichnet, legitimiert sich der Autor als ein Mann, der in der Gegenwart vielleicht den besten Ueberblick über dieses Fachgebiet besitzt, mit den folgenden

80 Analysen erweist er eine einzigartige Stoffbeherrschung dieser schwer zugänglichen Materie. Denn es handelt ich beim Ballett oft um einmalige Kreationen, und man ist daher für alle Angaben (Libretto, Musik, Choreographie, Ausstattung, Kommentare, kritische Stimmen) doppelt dankbar. Sehr auffallend ist bei den Sujets das Vorherrschen des Phantastischen, Surrealen, Hintergründigen, Tragischen und Dämonischen, mit einem Wort: der „littėrature noire“, wofür einige Meisterwerke als Beispiele genannt seien: Egks „Abraxas“, Bartöks „Wunderbarer Mandarin", Brittens „Haus der Schatten", Cocteaus „Dame und Einhorn“, Einems „Rondo vom Goldenen Kalb", Gordons „Rake's Progress“, Reutters „Notturno Montmartre“ und Schillings „In Scribo Satanis". Die am häufigsten genannten Choreographen der Gegenwart sind: Balanchine, Massine,

Fokin, Tatjana und Victor Gsovsky sowie Bronislav und Waclaw Nijinski — also durchweg (in der Emigration lebende) Slawen. Das gleiche gilt für die Ballettkomponisten, unter denen Tschaikowsky, Prokofieff und Strawinsky die Spitze halten. Ihnen folgen dicht auf dem Fuß: Ravel. Blacher und Egk. — Von neueren Balletten vermissen wir „Parade“ von Cocteau-Satie und zwei Werke Gottfried von Einems: „Glück, Tod und Traum“ und „Pas de Coeur oder Tod und Auferstehung einer Ballerina“. — Die schönen, dekorativen Photos zeigen durchweg Aufführungen deutscher Bühnen, von denen Berlin und München im Ballett führend sind. Das solide Bändchen, dessen Anhang von einem Fachwort- sowie einem Schallplattenverzeichnis gebildet wird, ist wahrlich seinen Preis und uneingeschränktes Lob wert.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung