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Herders Staatslexikon: Zweiter Band

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Das bewundernswürdige Standardwerk hält auch im zweiten Band ein sehr hohes Niveau. Dank einer musterhaften Planung durch die Redaktion und der glänzenden Leistung einer auserlesenen Schar kompetenter Mitarbeiter ist die Auswahl der behandelten Schlagwörter ebenso wohlgelungen wie deren textliche Darstellung.

290 Spalten, also fast ein Viertel des Bandes, ist Deutschland und den Deutschen gewidmet. Der 208 Seiten lange Hauptartikel bringt in ausgezeichneter Uebersicht der Reihe nach einen im Urteil sparsamen Abriß der deutschen Geschichte, der die politischen Leitmotive heraushebt, erst für die neueste Zeit ausführlicher wird und zur Schilderung der Situation des zweigeteilten Deutschland überleitet. Da klingt überall die verhaltene Leidenschaft der Autoren mit, die nur mit Mühe die sie innerlich aufwühlenden Probleme mit kühler Sachlichkeit erörtern können. Diese Sachlichkeit beginnt vollends zu' erglühen, sobald es an die Beschreibung der Zustände in der DDR geht. Doch selbst dann bleibt man der Wahrheit getreu, ob auch manchmal „die Entrüstung die Prosa macht“. Wesentlich gemäßigter äußert sich der Verfasser des Kapitels über die Wiedervereinigung Deutschlands, dem es geglückt ist, eine ausgeglichenere Darlegung dieser vordringlichsten Frage der mitteleuropäischen Zukunft zu bieten.

Durchaus in die Domäne der reinen Wissenschaft, in der häßliche politische Lieder kaum aufklingen, kommen wir bei dem vortrefflichen, durch Tabellen ergänzten Umriß der Bevölkerung und Sozialstruktur (von Neundörfer). Es ist das, neben dem Freiherrn Fr. A. v d Heydte über die Kontinuitätstheorie, der beste „weltliche“ Abschnitt des Deutschland betreffenden Gesamtartikels. Das Kapitel über Recht und Rechtspflege ist gut, aber ungleichmäßig. Seine beiden ersten, historischen Teile, mit ihrer allzu trockenen Aneinanderreihung von Sachverhalten und dem schnellen Hinübergleiten über die so wichtige Episode des nationalsozialistischen „Rechts“, fallen erheblich ab gegen den dritten, ausgezeichneten und gedwifkenreiiiDen 1 eu, über die gegenwartigen Rechts;. Verhältnisse (von Hans Hermann Walz). Die Abschnitte über Wirtschaft, wiederum versehen mit vielen tabellarischen Nachweisen, sind einwandfrei und gründlich, lassen jedoch ihrerseits wertendes Urteil und über den engeren Rahmen hinausgreifende Ausblicke vermissen. Wie zu erwarten, sind die beiden Darstellungen der religiösen Verhältnisse in jeder Hinsicht beifallswürdig. Hier sind die Autoren ebenfalls über den bloßen Tatsachenbericht hinausgeschritten; sie eröffnen uns tiefe Einsicht in die Wesenheit des heutigen deutschen Katholizismus und, noch mehr, des deutschen Protestantismus.

Von den Sonderschlagwörtern, die sich auf Deutschland beziehen, sind zu nennen: politische Parteien, Bundestag, Gewerkschaftsbund, Bundesbahn und Bundesbank, Deutscher Evangelischer Kirchentag, Deutscher Katholikentag — diese beiden durch die Präsidenten, Herrn v. Thadden und Fürst Löwenstein, dargestellt — und Deutschtum im Ausland. Der zweitgenannte Artikel muß jenseits der Grenzen der Bundesrepublik und er sollte auch innerhalb ebendieser Grenzen einiges Kopfschütteln erregen. Deutschland betreffen endlich, auf 86 Spalten, die mit „Bund“ zusammengesetzten Begriffe, wie Bundesgerichte, Bundesgesetzgebung, Bundeshaushalt, Bundesland, Bundespräsident, Bundesrat, Bundesregierung, Bundesstaat, Bundesverfassungsgericht, Bundesvermögen, Bundesverwaltung, Bundeswehr. Mit Ausnahme eines ganz flüchtigen Hinweises beim ..Bundesrat“ und einiger Sätze in der historischen Einleitung zum „Bundesstaat“ wird einzig auf die deutschen Gegebenheiten Rücksicht genommen. Das ist zu bedauern, denn das Lexikon will doch dem gesamten deutschsprachigen Raum als Nachschlagewerk dienen und darüber hinaus internationale Geltung besitzen, die es verdient. Deshalb hätten mindestens bei Bundesland, Bundespräsident, Bundesregierung, Bundesstaat die österreichischen, für Bundesrat, Bundesstaat die schweizerischen Entsprechungen beachtet werden müsseh.

Einen gewissen Ersatz dafür haben wir freilich in den zumeist vorzüglichen, stets mindestens guten Länderartikeln. Unter diesen steht der über China (36 Spalten) in jeder Hinsicht voran (Verfasser PP. Marks MSC. und Monsterlee t SJ., Erich Thiel und Lothar Schulz). Hermann Meyer-Lindenberg schildert mit souveräner Kenntnis vier lateinamerikanische Republiken: Bolivien, Brasilien, Chile, Ekuador. Er legt die Akzente aufs Wirtschaftliche, auf soziale und politische Zustände; dabei verzeichnet er, in löblicher Verschiedenheit von manchen anderen Verfassern, vor allem die grundlegende heimische Literatur zum jeweiligen Gegenstand. Sonstige geographische Schlagwörter von Belang: Brandenburg, Bremen, Danzig, Elsaß-Lothringen (die beiden letzterwähnten von demselben Geist geprägt wie das über Deutschtum im Auslar.d), Bulgarien, Burma (gut), Ceylon, Commonwealth (sehr gut), Dänemark, Donau, Elbe, Entwicklungsländer (hervorragend, Walter G. Hoffmann. Einziger, nicht dem Autor geltender Einwand: Sollte man nicht besser von „unterentwickelten Ländern“ sprechen, wie im Französischen, „pays sous-developpes?).

Zollen wir nun den besten politischen Artikeln die ihnen geziemende Anerkennung! Hans Peters steuert dazu einen blendenden, geistreichen und tiefen Aufsatz über Demokratie bei, 36 Spalten, eine Zierde des Bandes, außerdem einen kurzen, gehaltigen Artikel über das (innenpolitische) Blocksystem. Wir nennen mit Zustimmung die Artikel Christliche Gewerkschaften, Christlich-soziale Bewegung (besonders wohlgelungeh und weitblickend, Pater Gustav Gun dlach SJ.), Diktatur (Text entsprechend. Literatur ungenügend), Entnazifizierung (klug und gerecht). Enttäuscht hat uns die Darstellung über die christlichen Parteien. Ueber MRP und Democristiani wäre mehr und Originelleres zu sagen. Manches ist direkt falsch So muß man darüber lächeln, wenn es heißt, der MRP „sah sich gezwungen“, infolge der „undemokratischen Tendenzen“ de Gaulles, sich von ihm zu trennen Und Bidault nebst Robert Schuman als einzige Führer dieser Partei zu nennen, während sogar Pflimlin unerwähnt bleibt, ist ebenso zu beklagen wie daß Gronchi, Fanfani, Gonella, La Pira, Pella, Scelba keine Erwähnung finden. Völlig unbegreiflich ist, daß die christlichen Parteien Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns, ja sogar die der Schweiz übergangen sind.

Auf dem Sektor der Soziologie weckt die lichtvolle, allseitige, aufgeschlossene und wohlabgewogene Bewältigung der. Probleme von „Ehe und Familie“ (74 Spalten, 11 Autoren) helles Entzücken. Sie bildet ein kleines Kompendium der einschlägigen Fragen. Ihm ebenbürtig ist, auf 31 Spalten„ die. von sechs Verfassern , stammende Untersuchung der wichtigsten Aspekte des Eigentums. Theorie und Praxis werden unbefangen erörtert, vom sittlichen , politischen, wirtschaftlichen, sozialen und - juridischen Standort aus. Mit Freude 'begrüßen wir den Stoff durchdringende, im Urteil selbständige und ausgezeichnet geschriebene kleine Abhandlungen, wie die über Beziehungslehre (Ludwig Berg, leider kein Hinweis auf „die, ,sebj . (eigrje „angelsächsische .litejawr jpx 'Public RelationsY und Bildungswesen (Max Müller, wiederum nichts aus der Fülle des französischen, italienischen, spanischen„ angelsächsischen Schrifttums!). Zu den Prunkstücken des zweiten Bandes des Staatslexikons zählt der von Franz Steinbach und Oskar Kühler: Umriß des Bürgertums. Bemerkenswert das Schlagwort Bürokratie (Arnold Brecht). Mit einigem Humor, doch mündend in mahnenden Ernst, wird diese zur Norm gewordene Krankheit des gesellschaftlichen Organismus behandelt. Wir ermangeln aber des leisesten Hinweises auf die kapitale Rolle, die östlich des Eisernen Vorhangs dem — angeblichen oder wirklichen — Kampf gegen dieses Uebel zukommt.

Die fachmännischen Abrisse über Boden, Bodenpolitik, Bodenrecht und Bodenreform — die drei letzten von P Oswald v. Nell-Breuning SJ. — haben Bedeutung nicht nur als Bericht, sondern auch als Anregung. Bei der Bodenreform wären wir gerne auch durch eine kurze Uebersicht von deren Stand in den wichtigsten Ländern, wenigstens denen Europas, am besten durch eine Tabelle, unterrichtet worden.

Der Raum mangelt, um auch nur andeutungsweise auf die Vorzüge zahlreicher juridischer und, volkswirtschaftlicher Artikel einläßlich hinzuweisen. Als ein Markstein in der imponierenden Gesamtleistung sei erwähnt das Schlagwort „Einkommen“ (samt dem folgenden „Einkommensteuer“). J.. Heinz Müller schildert vorbildlich die Grundtatsachen, doch erst deren strahlende Beleuchtung durch P. Hermann I Walraff SJ. erhöht diesen Beitrag zur erstrebenswerten Vollkommenheit. v

Loben wir Oskar K öh 1 e r s und Tauberts Panorama des Buchhandels und des Verlags (ach, wiederum nur den deutschen Verhältnissen zugekehrt?), danken wir Iring Fetscher für den, nur zu knappen, einsichtigen und hellsichtigen Führer durch die eiskalte und geistfeindliche, geisttötende Landschaft des Dialektischen Materialismus (gut gewählte Literaturangaben, immerhin, außer auf die „Klassiker“, keine Bezugnahme auf ein paar darstellerische russische Werke oder auf die sowjetischen Bibliographien zum Thema) und Karl Thieme für seine, wie immer, gedankenprallen, formschönen Betrachtungen über Chiliasmus. Sie geleiten uns in den eigentlichen religiösen Bezirk, der in diesem Bande verhältnismäßig von geringerem LImfang ist. Ein prächtiger Artikel über Christentum (22 Spalten, von Schmaus, Monzel und Schmidthüs) besticht durch Qualität und Quantität. Er sagt eben alles Wesentliche aus, das man über das Christentum in unserer Zeit anzumerken hätte, und er tut das in jener prinzipienfesten, dennoch behutsamen, taktvollen und gescheiten Art, die wir so oft an Enzyklopädien des heutigen Katholizismus zu beobachten haben. Sie bewährt sich an den Kennzeichnungen des Buddhismus (Antweiler) und des Calvinismus (Ernst Walter Zeeden, J. Michael, Clemens Baue-). Informativen Charakter tragen die Schlagwörter Bistum und Dominikaner.

.Zum Abschluß etwas über die Biographien im Staatslexikon. Auch im zweiten Band sind sie fast immer zu billigen, nicht selten eigenständig und brillant. Ueber die Auswahl könnte man freilich, wie stets in ähnlichen Fällen, hin und wieder anderer Meinung sein als die Redaktion des Werkes. Völlig unerklärlich ist das Fehlen Churchills und Crom-wells. bedauerlich das Leon Blums, Bolivars, Dragos, Caillaux' und Dschingis-Khans. Die abgedruckten biographischen Notizen folgender großer Männer sind besonders zu bejahen: Bodin, Lujo Brentano, Briand (überragend, Erich K o r d t), Buddha. Jacob Burckhardt, Calvin (Zeeden, ausgezeichnet), Ca-vour, Clemenceau (K o r d t, warum aber nicht ein Wort über die den Schlüssel zu Clemenceaus Wesen liefernde Abkunft?), Condorcet (mustergültig, Martin G ö h r i n g), Consalvi (Max B i e r b a u m, mit Recht den geschichtlichen Rang dieses kirchlichen Staatsmannes betonend), Darwin, Dilthey, Disraeli, Dollfuß (Hantsch, trotz unverhohlener Sympathie kritisch und gerecht im Urteil), Donoso Corres

(Schräm m, gibt mit Fug das beträchtliche Maß dieses weisen politischen Denkers, ohne dessen Denken zu dogmatisieren). Mit nachdrücklichem Beifall sei das Porträt Bismarcks bedacht, das von Kurt K1 u x e n gemalt ist und das zwischen dem „Kult des eisernen Kanzlers und Realpolitikers“ und der Popanz des Scheusals aus Blut und Eisen die richtige Mitte bewahrt. Bei der. relativ umfänglichen Literatur über den Kanzler fehlen — wie denn auch nicht? — wesentliche außerdeutsche Werke, so von Füller. Eruzolimskij, Feldman. Dem. Artikel über Dante hätten wir Eingehen auf die islamischen Zusammenhängt gewünscht, von denen, seit Asin Palacios, nicht mehr abzusehen ist. Wir brechen ab. Die Anzeige eines so stoffsatten, in jedem Wortsinn vielseitigen Sammelwerkes droht leicht zur rahmensprengenden eigenen Abhandlung auszuarten.

Wie viele Dinge wären nicht noch zu erörtern, wie viele Desiderate anzumelden. Freuen wir uns aber lieber dessen, was uns von der Görres-Gesell-schaft und vom Herder-Verlag beschert ist, des kaum übertreffbaren, von festem Standort aus wertenden, doch durch ihn bei der Darstellung nicht getrübten Standardwerkes über die wesentlichen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und juridischen Anliegen und Fragen unserer Zeit und über die der Vergangenheit, soweit sie noch in die Gegenwart hinüberwirken

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