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Der Große Brockhaus: Band 11 und 12

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Nun ist die erste Nachkriegsauflage dieses altbewährten Lexikons zum glücklichen Ende gelangt. Die beiden letzten Bände halten das, was bereits die ersten versprochen hatten: ein hohes-wissenschaftliches, buchtechnisches und, wenn man sich so aus- drücken darf, sittliches Niveau. Der Große Brockhaus ist bemüht geblieben, nirgends durch verletzende Formulierungen anzustoßen, sich von überheblichem Dekretieren eigener Ansichten freizuhalten, doch auch die eigene Meinung bzw. die seiner Mitarbeiter nicht zu verleugnen. Man kennt seinen Standort: den deutschen, bewußt und im Ausdruck gemäßigt nationalen, den duldsam liberalen, verständig demokratischen und einsichtig zeitoffenen.

In den uns vorliegenden Schlußbänden stehen die Uebersichten voran. Die Sowjetunion, Spanien, die Vereinigten Staaten mit 21, 20 und 31 Spalten, darnach Südafrika, Südamerika als Gesamtheit, die Tschechoslowakei, die Türkei, Ungarn und Vorderindien erfahren eine konzise, allseitige Würdigung ihrer Gegenwart und ihrer Vergangenheit. Andere Staaten, so der Sudan, Syrien, Thailand, Tibet, Tunesien, Uruguay, Venezuela, Vietnam, autonome Gebiete, wie die Steiermark, der deutsche Südweststaat (Baden-Württemberg) und Südtirol (ausgezeichnet), wichtige Zentren, zum Beispiel Tokio, Wien, Zürich, haben nicht minder sachkundige Bearbeitung gefunden. Aus den Biographien ragen hervor: Sophokles, Spinoza, Freiherr von Stein, Stendhal, Stifter, Tasso, Tizian, Lev Tolstoj, Trockij (leider Trotzky Orthographien), Paul Valėry, Lope de Vega, Veläzquez, Verdi, Vergib Voltaire, Richard Wagner, Wieland (vielleicht allzu reichlich bedacht). Weniger befriedigen die Notizen über Stalin (warum kein Bild, während doch Trockijs freundliches Antlitz uns anblickt?), über Johann Strauß (unzulänglich), Thomas von Aquino (der säkularen Bedeutung nicht gerecht), Tschingis-Chan (gleicher Einwand), Wallenstein (keine Beachtung der tschechischen Forschung), Wells (überschätzt), den Philosophen Wittgenstein (nicht dessen Rang gemäß).

Von historischen Zusammenfassungen stechen hervor: Völkerwanderung (leider in der Literatur nicht nur kein Hinweis auf französische grundlegende Darstellungen, mit Lot an der Spitze, und schon gar keiner auf russische Werke, sondern auch eine zu spärliche Auswahl aus deutschen Monographien), besonders wohlgeraten das Bild der Vorgeschichte, die Wappenkunde, eine durch eine gute Tabelle ergänzte Chronik der Weimarer Republik. Die sehr eingehende Schilderung der beiden Weltkriege auf neun und auf rund dreißig Spalten ist in ihrem militärischen Teil meisterhaft, doch nach der politischen Seite wenig angetan, außerhalb, sagen wir preußisch-traditionsfroher Kreise Vergnügen zu bereiten. Gleich die „Ursachen” des blutigen Ringens von 1914 bis 1918: „Französische Revanchehoffnungen” und die „durch sie verschärften deutsch-französischen Spannungen”, die „panslawistische Bewegung”. „Das Deutsche Reich zog sich durch die Unterstützung der Donaumonarchie die Feindschaft Rußlands, und durch seinen als reine Defensivmaßnahme gedachten, von den Engländern als Bedrohung empfundenen Flotten bau die Gegnerschaft Großbritanniens zu. Die friedliche, aber unsichere und schwankende deutsche Politik” usw. Kurz und gut, welsche Rewangsche, britischer Neid, russischer Imperialismus und Kamerad Schnürsenkel, während wir, ins Höchstdeutsche übersetzt, eh die reinen Lamperln waren. Sogar der Weltkrieg II: „Hitler schlug Polen ein Ueberein- kommen vor … Die polnische Regierung lehnte dieses Ansinnen ab . .. Drei Tage vorher hatte sie Maßnahmen zu einer Teilmobilisierung und Zusammenziehung von Truppen an der Danziger Grenze getroffen. Daraufhin befahl Hitler Ende März der Wehrmacht, sich auf die unvermeidlich erscheinende militärische Auseinandersetzung mit Polen bis Ende August vorzubereiten”. Sonnenklar, nicht wahr? Daß nämlich das bedrohte Großdeutsche Reich zu den Waffen greifen mußte. Schwamm darüber!

Wenden wir uns lieber, da wir das politische Terrain betreten haben, diesem zu. Da können wir uns wieder an der unbefangenen Sachlichkeit des Großen Brockhaus erfreuen, ob nun Sozialdemokratie, Sozialismus, Soziallehre der Kirchen, Sozialpolitik und Soziologie das Thema bilden oder der Staat, die Steuer, die Vereinten Nationen, Verfassung, Verhältniswahl, Völkerbund, Völkerrecht (hier zuwenig Literatur), die Wahl, Wehrrecht, Widerstandsrecht, Zensur und Zentrum. Einen Augenblick ärgert uns die Begegnung mit dem Geist der beiden Weltkriegsartikel, wenn unter Widerstandsbewegung nur auf die deutsche hingewiesen wird, die Resistance der vom Dritten Reich vergewaltigten Völker aber, mit wenig überzeugender Begründung, „ausgeklammert” erscheint.

Dann versöhnt sogleich die wohlwollend kluge Gestaltung theologisch-religiöser und philosophischer Probleme, etwa Sünde, Taufe, Teufel, Theologie, Ur- kirche, Vatikan, Wadi Qumran (die Höhlenfunde aus biblischer Zeit), Wunder. Der gutgemeinte Artikel über Weltreligionen krankt an veralteten oder bestreitbaren Statistiken. So wird die Zahl der gläubigen prävoslawen Christen in der Sowjetunion und in den mehrheitlich orthodoxen Volksdemokratien unterschätzt. Zustimmung erheischen die Schlagwörter Symbol, Tiefenpsychologie, Traum, Typus, Unbewußtes, Wahrscheinlichkeit. Allgemein Humanistisches treffen wir etwa in Universität (wir hätten gerne eine Uebersicht der wichtigsten Universitäten der Welt gesehen), Unterricht, und noch in den vordringlich das philologische Fach angehenden Artikeln Sprache, Sprachwissenschaft. Die literargeschichtlichen Umrisse sind ungleicher Qualität. Vorzügliche, wie Symbolismus, Surrealismus, Theater, Tragödie, Utopie, stehen neben sehr guten (über spanische Literatur), zur Not ausreichenden (tschechische, ungarische Literatur) und unzureichenden (türkische Literatur).. Hoch überragt in diesem Sektor der Essay über das. Wort, gefolgt..von dem über den Stil. Erwähnen wir von kunstgeschichtlichen Beiträgen die über Spanien und Ungarn, dann über den Tanz, über Teppiche, Vasen, vor allem über das Theater, an welchem ausblickreichem Panorama wir nur wieder die zu schmale Aussicht nach Osten beklagen.

Nun von ein paar ethnographischen Berichten; sie zeigen uns das Nötigste aus Volkskunde, Volkskunst und über Zauberei, samt Zauberbuch. Der Artikel über Zeitschriften und noch mehr der über Zeitungen wäre an sich mustergültig: doch auch da hätten wir gerne eine Tafelbeigabe bekommen, die uns die wichtigsten Periodica des Erdkreises vorstellte, samt ihrer Tendenz, ihrem Gründungsjahr, ihrer Auflagehöhe. Den Nationalökonomen ‘werden zahlreiche besonders gelungene Schlagwörter ansprechen. Wir heben heraus: Sparkasse, Spinnerei,

Aehnlichen Charakter haben, mitunter von der Bedeutung des Gegenstandes beschwingt, die Artikel über Technik, Naturwissenschaften, Mathematik. Dem Humanisten am nächsten sind dabei Biologie und Medizin. Ihnen sind gewidmet: Stoffwechsel, Tod, Tuberkulose, Verdauung, Veredelung, Zahn, Zelle, Zwittertum. Als Perlen in ihnen seien geziemend bewundert die Schlagwörter Vererbung (acht Spalten, wirklich das „letzte Wort der Wissenschaft”), Verhaltensforschung, Zwillinge. Worauf wir sofort ins Nachbargebiet der Zoologie hinüberwechseln. Hier erregen dankbare Aufmerksamkeit zum Beispiel die Artikel Taube, Termiten, Vögel, Vogelzug, vornehmlich die allgemeine Synthese über Tiere (rund 15 Spalten). Gedenken wir der schönen Würdigung des Waldes (sechs Spalten) und wenden wir uns der Physik samt ihrer praktischen Anwendung in der Technik zu.

lieber deren Wesenheit und Entwicklung unterrichtet eine vorzügliche Gesamtschau (vier Spalten). Einzelnes bringen die Schlagwörter Straßenbahn, Straßenbau, Straßenverkehr, Telegraphie, Torpedo, Triebwagen, Tunnel, Tür, Uhr (fünf Spalten, sehr belehrend und eigenständig), Verbrertnungsmotor, Verdunstung, Wärme, Wasserkraftwerk, Wasserturbine, Wechselstrom, Wellen, Zahnrad. Bei diesen Darstellungen erfüllt die Bildbeigabe in stärkstem Maße den erläuternden Zweck. Leider verbietet uns der Raum, den Illustrationen längere Betrachtung zu weihen. Wir müssen uns darauf beschränken, ihre Sichtung und ihre Reproduktion überzeugt zu rühmen.

Es bleibt noch die dem Rezensenten bei einem so imponierenden Monumentalwerk wie dem Großen Brockhaus doppelt peinliche, doch unabdingbare Aufgabe, wenigstens für einen kleinen Ausschnitt der Gesamtleistung konkrete Verbesserungs- und Ergänzungsvorschläge anzumelden. Wieder sei für dieses Ziel der biographische Namenskatalog gewählt. Wir vermissen: den serbischen Staatsmann Spalajkovič, den österreichischen Diplomaten Spielmann (graue Eminenz des Ballhausplatzes unter Franz II.), den bedeutenden Minister Franz Josephs, Spitzmüller, den Prager Bürgermeister und Nationalhelden Srb, Graf Franz Stadion, der während des Völkerfrühlings eine so große Rolle hatte, die bulgarischen Politiker Stamboliski und Stambulov, den polnischen Bauernführer Stapinski, den kroatischen Parlamentarier Starcevič, den genialen Abenteurer Stavisky, den Reformator der österreichischen Finanzen, Steinbach, . die Heldin einer weltberühmten „Affäre”, Madame Steinheil, den deutschnationalen Politiker Steinwender, die einander so ungleichen Grafen Adalbert und Kaspar Sternberg — das Enfant terrible der Wiener Hofgesellschaft und des österreichischen Parlaments, und den würdigen Mäzen, Freund Goethes —, den jugoslawischen Ministerpräsidenten Stojadinovič, den tschechischen Literaturdiktator Štoll, seinen Landsmann und bürgerlichen Antipoden Stränsky, den Staatsmann aus Karls VI. Zeit, Strattmann, den griechischen Regierungschef Baron Streit, den Juristen und Gerichtspräsidenten Stremayer, den französischen Seehelden Suffren und seinen ins Piratische hinüberreichenden Konnationalen Surcouf, den einflußreichen Sowjetpolitiker Suslov, den tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Švehla (dritter Mann in seinem Staat nach Masaryk und Beneš), mehrere ungarische Grafen Szėchenyi, den madjarischen Dramatiker Szigligeti, den überragenden ungarischen Maler Szinyei-Merse, den sowjetischen Historiker Tarlė, den russischen Dichter Tichonov, den in der UdSSR hochgefeierten Philosophen und Naturwissenschaftler Timirjazev, den mexikanischen Diplomaten und Wissenschaftler Torres-Bodet, den polnischen Poeten Trembecki, den polnischen Philosophen Trentowski, den kroatischen Politiker Trumbic, den ungaro- italienischen General Türr, den tschechoslowakischen Minister und Sozialisten Tusar, den russischen Epiker Tvardovskij, den polnischen Philosophen Kazimierz Twardowski, die Grafen Jan und Stanislaw Tar- nowski, weithin berühmter Feldherr der eine, geistreicher Literarhistoriker und Akademiepräsident der andere, den tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Udržal, den polnischen Lyriker Ujejski, den unga- risch-siebenbürgischen Schriftsteller Tamdsi, den sowjetungarischen Dichter Tardos, den antikommunistischen Heerführer des Bürgerkrieges, Baron Ungern-Sternberg, den rumänischen Staatsmann Vajda-Voevod, den mexikanischen Bischof und Schriftsteller Valbuena, den französischen naturalistischen Erzähler Jules Vallės, den. großen Historiker Vandai, den ungarischen Primas, Kardinal Vaszary, den französischen Außenminister von beträchtlichem Format, Vergennes, den Wiener Domprediger Veit (eine wichtige Figur des Vormärz), den brasilianischen Autor Vila-Lobos, eine Zentralgestalt des geistigen Lebens seiner Heimat im 20, Jahrhundert, den französischen Ministerpräsidenten Villele, einer der führenden Staatsmänner der Restauration, den Marschall Villeroi, den Johannitergroßmeister Villiers de l’Isle-Adam, den italienischen Außenminister Visconti-Venosta und dessen sehr entfernten Vpijwqndten, den bahnbrecKepden Archäologen,, den Sowjetdiplomaten Vorovskij, mehrere Grafen Voron- cov, den jugoslawischen Staatsmann und sehr gehörten Berater Titos, Vukmanovič, die berüchtigte Giftmischerin Voisin, den französischen Parlamentarier Wallon (Vater der Verfassung der Dritten Republik), die polnisch-sowjetische Erzählerin und Vorsitzende des „Patriotenausschusses”, Wanda Wasilewska, den argentinischen Romancier Hugo Wast, den Wiener Bürgermeister, österreichischen Minister und christlichsozialen Parteiführer Weiskirchner, den ungarischen Staatsrechtler Werböczy, dessen Landsmann, den patriotischen Verschwörer Wesselenyi, den polnischen Politiker von ungewöhnlichem Format. Markgrafen Wielopolski, den österreichischen Monarchistenführer Wiesner (Sohn des im Lexikon genannten Botanikers), die Fürsten Alfred und Ludwig Windischgrätz, der eine, vom Feldmarschall zu unterscheiden, österreichischer Ministerpräsident, dann Präsident des Herrenhauses, der andere Freund König Karls IV., ungarischer Ernährungsminister, Francfälscher aus gekränktem

Nationalgefühl und Memoirenschreiber, den polnischen Feldherrn Fürsten Wisniowiecki (Vater König Michals), die polnischen Schriftsteller Wit- kiewicz, den Vater Stanislaw, Kritiker, Künstler und Herold der Tatra, den Sohn Stanislaw Ignacy, schrullenhaft-genialischer Hauptvertreter des Expressionismus in seiner heimischen Literatur, den österreichischen Staatsmann Wittek, den polnischen Staatspräsidenten Wojciechowski, den ihm gleichnamigen Historiker des Mittelalters, den deutschradikalen Vorläufer des Nazismus im österreichischen Abgeordnetenhaus Karl Hermann Wolf, den britischen Feldmarschall Lord Wolseley (Urbild einer boshaften Kurzgeschichte Mark Twains), den literarisch angehauchten polnischen Erzbischof Woronicz, den Schöpfer des „Noch ist Polen nicht verloren”, Wy- bicki, den Statthalter im Königreich Polen, General Zajączek, den kürzlich verstorbenen tschechoslowakischen Staatspräsidenten Zäpotock , den polnischen General Zeligowski (der Wilna an Polen brachte), die beiden ungarischen Grafen Zichy, Führer der Katholiken ihres Volkes, den bulgarischen Ersten Parteisekretär Živkov, den serbischen Politiker, General und Vertrauensmann des Herrscherhauses, Živkovič, den Hetman und den ihm gleichnamigen heutigen Oberbefehlshaber des sozrealistischen Literaturlagers in Polen, Hochschulminister Zölkiewski, den kroäfischenr Könfg Zvonimir: ‘

Gerade wenn man sieht, wie auf den ersten Anhieb, aus dem Gedächtnis und nur aus einem der wenigen dem Rezensenten eher vertrauten kleinen Fachgebiete Namen quellen, die jeder eine Lücke im Iexikon verkörpern — oder zumindest zu verkörpern geeignet sind, ermißt man die ungeheure Leistung, die darin besteht, dennoch , aus der Ueberfülle des Stoffes einer Enzyklopädie das Wichtigste, das Wesentliche herauszuholen und dieses in dem Umfange zu bieten, der nur irgend menschenmöglich ist. Mit Dank und Freude neigen wir uns vor den Männern, die am Großen Brockhaus leitend oder mitarbeitend ihr Bestes gegeben haben und die uns eine Schatzkammer des Wissens eröffnen, aus der eine ganze Generation häufig und vertrauend schöpfen wird. Dem Dank gesellt sich ein Glückwunsch zum Abschluß eines Werks, das nicht zuletzt an die Organisation, an die Zähigkeit und an die Geduld aller Mitwirkenden die strengsten Ansprüche gestellt hat.

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