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Das andere Polen

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Drei Ereignisse haben im Laufe der letzten Monate die Aufmerksamkeit auf das Schicksal der unglücklichen Polen gelenkt, die durch den zweiten Weltkrieg aus der Bahn geworfen sind: der Selbstmord des Dichters Lechoil, die Heimkehr des . gewesenen Ministerpräsidenten der Londoner Emigrationsregierung Cat-Mackiewicz, und vor allem die Posener Ereignisse vom 28, Juni dieses Jahres.

Wenn im folgenden von dem „anderen Polen“ einmal die Rede sein soll, so nicht von den Millionen, die in den an die Sowjetunion gefallenen Gebieten wohnen, und die entweder zu Hunderttausenden auf dem Weg in die Verbannung oder in dieser starben, noch von denen, die heute - etwa 50.000 - in der UdSSR auf Heimkehr warten, oder die, aus den früheren polnischen Ostterritorien vertrieben, nach Polen ausgesiedelt wurden. Wir erwähnen ferner nicht die von 1939, in mehreren Stößen, nach Deutschland (vornehmlich Westfalen), nach dem französischen Nordosten und Belgien, nach den Vereinigten Staaten — fünf bis sechs Millionen —, Brasilien, Argentinien, Kanada Ausgewanderten. Sie sind zum größten Teil in den betreffenden Ländern eingebürgert worden. In einigen Staaten haben sie die Verbindung mit der alten Heimat, die polnische Sprache — wenigstens als zweite — und polnische Bräuche bewahrt, so vor allem in den USA und im französischen Kohlenrevier, wo mindestens zwei Generationen ihre nationale Ueberlieferung pflegen, während frühere polnische Emigranten aus dem Grundbesitzeradel und der Intelligenz in ihren Nachkommen längst entnationalisiert sind. Anderwärts, besonders in Nordwestdeutschland, wollen die Emigranten oder deren Kinder nichts mehr vom Polentum wissen. Gemeinsam ist jedoch allen diesen Exulanten und noch stärker ihren Nachfahren, daß sie sozial und wirtschaftlich in der Gastnation zu gleichem Recht mit den Bodenständigen aufgegangen sind. In

Frankreich haben die Poniatowski, Ostrorög, KoSciuszko, Strowski eine sehr angesehene Position inne; es wimmelt von Gelehrten, Verwaltungsbeamten und Offizieren polnischen Ursprungs. Kaufleute, Techniker, Arbeiter aus älteren Immigrationsschichten sind ihren urfranzösischen Kollegen durchaus gleichgestellt. Ein Blick auf die Geschäftsschilder in Gelsenkirchen oder Essen zeigt viele polnische Namen, deren Träger sich ganz in ihre deutsche Umgebung eingeordnet haben. Aehnlich liegen die Dinge in Italien oder in der Schweiz; fünfzig bis hundert Jahre reichen aus, um aus den Einwanderern vollgültige Bürger ihres neuen Landes zu machen.

Wie sehr unterscheidet sich von diesem Bilde das der jüngsten polnischen Emigration, die zwischen 1939 und 1945 sich weithin auf dem Erdkreis niedergelassen hat; zunächst mit dem heißen Willen, sofort nach Kriegsende heimzufahren. Diese bedauernswerten Menschen, deren Zahl mit einer bis eineinhalb Millionen angegeben wird, waren entweder vor der deutschen und der sowjetischen Invasion, später aus der Okkupation geflohen, oder sie hatten in den Reihen des polnischen Heeres gekämpft, und sie waren nach Kriegsende, ft auf den erstaun'ichsten Umwegen, ireendwohin gelangt, wo sie dann blieben. Ihnen allen geselken sich, in nicht sehr großer Zahl, Flüchtlinge hinzu, die es unter dem volksdemokratischen Regime, zumal in dessen stalinscher Aera, nicht aushielten, und die also „die Freiheit wählten“.

Natürlicher Mittelpunkt der Emigration war seit Juni 1940, als die bis dahin auf französischem Boden, in Angers, weilende polnische Exilregierung sich nach England begab, London. Hier waren der Präsident der Republik Raczkie-wiez und die von General Sikorski geleitete Regierung in derselben Lage wie andere in Großbritannien Asyl heischenden legitimen Staatsoberhäupter und Regierungen der vom Dritten Reich besetzten Länder. Ja, ihre Situation schien völkerrechtlich beinahe besser. Denn den polnisehen Exilbehörden stand in der okkupierten Heimat kein Vichy, kein Quisling gegenüber. Die Emigration wiegte sich in der Illusion, sie werde in ein zwar zerstörtes, doch in seiner Wesenheit unverändertes Polen zurückkehren dürfen. Diese Erwartung erlitt einen ersten Schock, als nach dem Anschluß der Sowjetunion an die Alliierten der Kreml seine Absicht deutlich verkündete, die polnischen Ostprovinzen als ukrainische oder weißrussische Lande dem Sowjetverband einzuverleiben, als ferner, nach der erschütternden Tragödie von Katyn, Moskau einen neuerlichen Bruch mit der Londoner Polenregierung provozierte und dieser ein kommunistisch gelenktes Team gegenüberstellte, das zunächst als National-Komitee, dann als provisorische Regierung, schließlich als Regierung der Nationalen Einheit auftrat und im Schutze der sowjetischen Waffen die Gewalt in den von der Roten Armee besetzten Gebieten Polens übernahm, soweit diese nicht der UdSSR zugesprochen wurden.

Damals geschah der erste Riß in der Emigration. Deren Linke — Bauernpartei und einige Sozialisten, samt wenigen christlichen Demokraten — wollte es mit dem russophilen Kurs versuchen und, um nur rasch zurückzukehren, mit den an Ort und Stelle etablierten Kommunisten zusammenarbeiten: in der Hoffnung, allmählich, gestützt auf die Bevölkerungsmehrheit, die Macht zu erringen. Mikolajczyk, nebst einigen Politikern geringerer Notorität, blieb während zweier Jahre Mitglied eines Koalitionskabinetts in Watschau. Dann floh er freilich zurück ins Exil, nach England, und. später nach den USA, schwer enttäuscht, fortan ein unversöhnlicher Feind des jetzigen polnischen Regimes, doch, für die von jeher Intransigenten in der Emigration durch die Episode seines Zusammenwirkens mit den Kommunisten belastet. Mikolajczyk wandelt bis heute seine eigenen Wege. Er, sein bedeutendster Gefährte, der hervorragende Historiker und frühere Botschafter in Moskau, Professor Kot, und die Anhänger der einst in Polen so mächtigen Bauernpartei (PSL) spielen in der Grünen Imennv'cnale eine gewisse Rolle; sie erfreuen sich manchen Rückhalts in den USA, weit geringeren bei britischen und französischen Amtsstellen. Die Unversöhnlichen im Exil, die auch während der Jahre 1945 bis 1947 jede Annäherung an die Warschauer Machthaber ablehnten, haben sich nach Raczkiewiczs Tod in zwei Hauptgruppen gespalten, deren eine aus den USA, deren andere an britischen Sphären Unterstützung findet.

August Zaleski, Raczkiewiczs Nachfolger als , Präsident der Republik im Exil, der einstige Außenminister unter Pilsudski — von Beck seinerzeit verdrängt und als „Westler“ in den Hintergrund geraten — und im Kabinett Sikor-ski, hatte zunächst nach der einmütigen Auffassung aller Exilpolen die Legalität und die Rechtskontinuität verkörpert. Nach Ablauf seiner Amtsperiode weigerte er sich, von seinem Posten zurückzutreten. Er gilt seinen Anhängern weiterhin als Staatsoberhaupt, und die britischen Behörden räumen ihm eine etwas zweideutige Sonderstellung ein. Das Vereinigte Königreich erkennt zwar, seit 1945, nur die Warschauer Regierung an, duldet es aber dennoch, daß Zaleski in seinem „Schloß“ faktisch die Funktionen eines Präsidenten der polnischen Exilrepublik ausübt, daß bei ihm Diplomaten mehrerer fremder Mächte beglaubigt sind, und daß er Vertreter in diesen Staaten unterhält, so zum Beispiel beim Vatikan, in Spanien, im Libanon. Zaleski hat ferner der Reihe nach einander ablösende Kabinette ernannt, an deren Snitze auch Männer von Namen standen, wie General Bor-Komorowski oder Cat-Mackiewicz, von dem noch die Rede sein wird. Hinter dieser, nach London blickenden Emigrations-gruppe, von der sich in den letzten Jahren zahlreiche Pilsudski-Anhänger von links, ein Teil der Aristokratie, die zur vornehmen Welt Englands gute Beziehungen besitzt, die meisten in ihrer würdigen Positionen wirkenden Intellektuellen und im allgemeinen der Teil der Emigration, dem es geglückt ist, in der Fremde Fuß zu fassen, darunter auch fast alle polonisier-ten Juden. Sie hegen zwar gegen die Warschauer Volksdemokratie lebhafte Abneigung, haben jedoch keine Lust, sich in romantische Träume zu verlieren, und wenn :ie von Heimkehr oder vom Sturz des kommunistischen Regimes sprechen, dann halten sie es eher mit den Franzosen von vor 1914, die vom Elsaß und von Lothringen viel sprachen, doch wenig an dessen Rückgewinnung dachten; wie jene, würden freilich auch die“ polnischen Realpolitiker der Emigration mit Wonne jeden Umschwung im Osten begrüßen und dann sofort auf dem Plan erscheinen.

Eine zweite Gruppe appelliert indessen an die unversöhnlichen Rachegefühle und an den alten polnischen Kampfgeist; sie will, der heutigen Weltlage zum Trotz, sich unablässig auf einen künftigen dritten Weltkrieg vorbereiten und dann als befreite Befreier nach Polen mit Waffen zurückkehren. Es ist leicht verständlich, daß derlei Gedanken bei der Masse der Emigranten Anklang wecken; bei den Beklagenswerten vor allem, die sich in der Fremde nicht eingewöhnen, die sozial deklassiert wurden und die daheim alles verloren, doch im Exil nichts erreicht haben. Angehörige der geistigen Berufe, die sich als elend bezahlte Handarbeiter mühsam durchbringen, gewesene Beamte, Offiziere, Gutsbesitzer, sind dazu vorbestimmt, den Ansichten zuzujubeln, die von den Rivalen Zale-skis, und denen der augenblicklich von einem Herrn Pajak präsidierten Regierung wie des als eine Art Exil-Parlaments fungierenden Rates verfochten werden. Diese schärfere, kampflustige Richtung wird von einem Dreierrat geleitet, der als Regentschaft zu betrachten ist und die Aufgaben eines Staatsoberhauptes besitzt. Eines seiner Mitglieder, der Rechtssozialist Arciszewski, der vordem unter Zaleski Exilministerpräsident gewesen war, ist gestorben, und so sind als Regenten nur noch zwei Politiker übrig, Graf Raczynski, vormals polnischer Botschafter in London und Außenminister, und der weltbekannte General Anders. Ihnen steht eine Exekutive zur Seite, in dem der Sozialist Ciolkosz und der Nationaldemokrat Bielecki die wichtigste Rolle spielen. (Diese Gegenregierung bezeichnet sich übrigens offiziell niemals, als Ministerium.) Ungeachtet der aristokratischen Führung — nicht nur Graf Raczyfiski, sondern auch der baltische Baron Anders, samt seiner Llmgebung, in der es, vom Adjutanten Fürst Iubomirski angefangen, sehr viele Magnaten gibt, haben große Mühe, sich so demokratisch zu gebärden, wie das die amerikanischen Beschützer verlangen — dürfte diese Gruppe, das „Zjednoczenie“ (Einheit), die entschiedene Majorität der Emigration verkörpern. Sie wird durch das amerikanische Staatsdepartement begünstigt — Anders ist im Mai bei seiner Reise in die USA von Eisenhowei in längerer Audienz empfangen worden —; die polnischen Organisationen der USA geben dem Zjednoczenie den Vorzug, und der Klerus samt den katholischen Politikern tritt in der Wahl zwischen dem „Freimaurer“ Zaleski und dem erst spät kirchenfromm gewordenen Anders dennoch für ihn, für den früheren Pilsudski-General Sosn-kowski und den untadeligen Raczynski ein. Anders läßt ja keine Gelegenheit vorübergehen, ohne seine Katholizität zu betonen; er ist vom Heiligen Vater empfangen worden Nun wirbt der General neuerdings für eine polnische Armee im Exil, die schon jetzt, im brüchigen Frieden, vorbereitet werden soll. Manche seiner Anhänger sind mit westlichen Geheimdiensten in eine Verbindung gekommen, die bei den Polen der Obödienz Zaleski oder Mikolajczyk großes Aergernis erregt hat. Die Kritiker des ..Z'ednoczenie“ werfen ihm völlige Abhängigkeit von den USA vor, zugleich eine unzutreffende Beurteilung der gegenwärtigen Weltlage.

Inmitten des heftigen Streites, der um dieser Dinge willen die polnische Emigration zerrüttet, haben nun die Kommunisten erleichtertes Spiel, besonders . .. wenn sie keine Kommunisten sind. Im Zeichen der „Schneeschmelze“ hat die Warschauer Regierung eine zähe, eifrige Agitation entfaltet, um möglichst viel Neu-Exulanten zurück nach Polen zu lenken. Eine eigene „Gesellschaft der Verbindung mit den Ausgewanderten“ wendet sich nicht nur an die Bürger fremder Staaten polnischer Abkunft, sondern auch, und vor allem, an die Neu-Emi-granten. Die Leitung dieser Organisation sucht durch die angesehenen Namen Vertrauen einzuflößen, die zur Rückkehr nach Polen auffordern. Da treffen wir neben zahlreichen hervorragenden Gelehrten auch einen ehemaligen Freund Mikolajczyks und Minister, den Bauernparteiler Wycech, den aus dem Exil zurückgekehrten gewesenen Ministerpräsidenten der Londoner Polenregierung Hanke, Dichter, Musiker, Künstler, und vor allem, unter 89 Persönlichkeiten nicht weniger als sechs katholische Priester und ebensoviel führende katholische Laien. Rundfunksendungen und eine, allerdings wenig anziehende, Zeitschrift „Kraj“, persönlicher Einsatz ins Ausland entsandter nichtkommunistischer Propagandisten, und in Sonderfällen, wo es sich um Prominente handelt, diplomatische Gespräche, trachten die Masse der Emigranten und einzelne „weich“ werdende Exilpolitiker oder Gelehrte, Schriftsteller für die Heimkehr zu gewinnen.

Im allgemeinen noch ohne Erfolg. Die große Demonstration der in England weilenden Polen anläßlich des Besuchs Chruschtschows und Bulga-nins bewies auf eindrucksame Weise, daß die Emigranten den Lockungen mißtrauen und nichts von einem unter russischer Kontrolle beharrenden Regime wissen möchten. Immerhin sind mehrere Tausende dem Ruf aus Warschau gefolgt. Und die von dort seit April eintreffenden Meldungen haben bereits ein verändertes Klima zu schaffen begonnen. Viele hervorragende Mitglieder der Emigration, die noch vor kurzem den Gedanken einer Rückkehr in die volksdemokratische Heimat entrüstet verworfen hätten, befinden sich in einem schweren seelischen Konflikt. Die einen haben ihn während der letzten Wochen im Sinne der Warschauer Aufrufe gelöst. Darunter drei Männer, die auf voneinander verschiedenen Gebieten einen glänzenden Namen haben: der Tennismatador Sko-necki - der vor fünf Jahren „die Freiheit gewählt“ hatte, der Physiker Klemensiewicz und, am 14. Juni, der berühmteste von allen, Stanislaw Cat-Mackiewicz, nicht nur ein Jahr lang Premierminister der Londoner Exilregierung, sondern auch Polens blendendster Publizist seit einem Menschenalter, Royalist, Herold und Bewunderer Pilsudskis, vor 1939 Chefredakteur des Wilnaer Tagblatts „Slowo“, stets ein unabhängiger Einzelgänger, doch ein unantastbarer Charakter und ein erprobter Patriot. Die Heimkehr dieses einen Politikers bedeutet für das Warschauer Regime einen größeren Er-' folg als, Personenkult“ hin und her, die Tausender verzweifelter, enttäuschter oder überredeter kleinen Leute. Mackiewicz hat nämlich in seinen Erklärungen vor und nach seinem aufsehenerregenden Schritt mit der ihm eigenen Unbefangenheit klar ausgesprochen, daß er von zwei Uebeln — dem derzeit aussichtslosen Verharren in der Emigration und der Anwesenheit in einem kommunistisch regierten Lande, dessen schwere Daseinsbedingungen er genau kennt — den Aufenthalt in Polen als das kleinere betrachtet, wenn man von ihm kein Opfer seines Intellekts begehrt. Es war ein geschickter Schachzug des Regimes, daß es dem „Repatrianten“ gestattete, sofort bei der Ankunft auf dem Flugplatz zu verkünden, er sei stets ein Gegner der Richtlinien des derzeitigen Systems gewesen. Worauf Mackiewicz, der sich in seinem Abschiedsbrief an die Emigration als „konservativ, litauischer Edelmann :ind Anti-kommunist“ bezeichnete, hinzufügte, er danke für den ihm bereiteten Empfang; man unterscheide nunmehr in Polen nicht zwischen Siegern und Besiegten. Schon vorher hatte er in seiner Londoner Wochenschrift „Tygodnik“ sich aufs schärfste gegen Anders' Legionsprojekt ausgesprochen und in seiner Presseschau die Aeußerungen des von einer Reise nach Warschau sehr beeindruckten Labourabgeordneten Cossman zitiert, in Polen sei eine zweite Revolution im' Gange. Das und zugleich die Ueberzeugung, daß - wie die „New York Times“ Mitte Mai mit Recht klagten - die Polen von den Vormächten der freien Welt keinerlei ernsthaften Beistand erhielten, hat für Mackie-wiezs Entschluß den Ausschlag gegeben. Fügen wir hinzu, daß der heimgekehrte Expremier und

Publizist ein, erprobter Freund einer Verständigung mit Deutschland (nicht etwa mit dem Pankower Regime) ist, so wird uns der Trend wesentlicher Vorgänge in der polnischen Emigration völlig verständlich. Eine andere, tragischere Lösung hat der psychische Zwiespalt geistig überragender Exulanten fast zur gleichen Zeit in New York aufgezeigt, als sich dort Jan Lechon, einer der größten, wenn nicht der größte Kritiker seiner Nation in der Gegenwart, durch einen Sprung aus dem Hotelzimmer das Leben nahm. Mitbegründer der klassizistischen Schule des „Skamander“, Bewunderer Pilsudskis bis 1940, mit den Kulturangelegenheiten beauftragter Legationsrat bei der polnischen Botschaft in Paris, hatte er sich während des zweiten Weltkrieges über Südfrankreich schließlich nach Brasilien geflüchtet, von dort war er in die USA übersiedelt, ohne je die heiße Sehnsucht nach der Heimat zu überwinden. Sein Widerwillen gegen das dort herrschende Regime war jedoch noch heftiger, erst in jüngster Zeit scheint er keinen andern

Ausweg aus einem zermürbenden inneren Zwist erblickt zu haben, als den Freitod. Der Heimweg wäre ihm offengestanden; man hat ihn wiederholt öffentlich dazu eingeladen.

Irgendwelche polizeiliche Schikanen oder gar gerichtliche Verfolgung haben Rückkehrer offiziell nicht mehr zu befürchten, seit ihnen das Gesetz vom 27. April 1956 volle Amnestie sichert. Wenn trotzdem die meisten Emigranten zögern oder überhaupt an keine Heimfahrt denken, so aus drei Gründen: Sie mißtrauen der Beständigkeit des milden Kurses; eine Schneeschmelze ist nicht von unbeschränkter Dauer! Sie meinen, daß sie in Polen schlechtere Lebensverhältnisse, Einnahmen, Arbeitsbedingungen antreffen als im Westen, und sie haben keine Lust, in einem kommunistisch geleiteten, von der UdSSR abhängigen Staate einem ihnen widerstrebenden und trotz allem durch die Machthaber nie verleugneten Endziel, der glaubenslosen kommunistischen Gesellschaft zuzusteuern. Wie begründet diese Bedenken sind, das hat die Posener Erhebung vom 28. Juni dargetan. Sie warf ein zugleich grelles und trübes Licht auf die Wirtschaftsnöte der Bevölkerung und die Art, in der dieser Aufruhr der Verzweiflung dargestellt und liquidiert wurde, bewies neuerlich die Ketten, mit denen Polen und seine heutigen Lenker — zum Teil wider ihrem eigenen Willen — an die UdSSR geschmiedet bleiben. Zweifellos haben Emissäre des Zjednoczenie, vielleicht auch, obzwar das weniger wahrscheinlich ist, der Mikolajczyk-Gruppe bei der Vorbereitung der Erhebung eine Rolle mitgespielt. Doch die wesentliche Ursache der Streiks und des allgemeinen Mißvergnügens ist auf Unfähigkeit und sturen Doktrinarismus der Verantwortlichen und vor allem aufs System selbst zurückzuführen, an dem, infolge der Weltlage, derzeit nichts zu rütteln scheint. Und darum verweigern die meisten Emigranten die an sich ersehnte Heimkehr; haben sie doch keine harmonische, befriedigende Lösung ihrer schmerzlichen Probleme zu erwarten.

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