6617194-1955_39_05.jpg
Digital In Arbeit

Exiltragödie

Werbung
Werbung
Werbung

Am 5. September hatte der beim Heiligen Stuhl beglaubigte Botschafter Polens, Papee, eine Zusammenkunft mit dem in Rom weilenden Vorsitzenden der Londoner Exilregierung Hugo Hanke. Der Vatikan anerkennt Papee als einzigen legitimen diplomatischen Vertreter seines Heimatlandes. Versuche Warschaus, mit der Kurie normale Beziehungen aufzunehmen, sind bisher stets gescheitert. Papee war nun nicht wenig erstaunt, als ihn Hanke darum ersuchte, ihm eine baldige Audienz beim Papst zu erwirken. Der Exil-Ministerpräsident ließ durchblicken, daß er dem Heiligen Vater die tragische Lage der Emigration schildern wolle und daß er, Hanke, angesichts der jüngsten Entwicklung der internationalen Lage, keinen anderen Weg für die Exilpolen sehe, als den der Rückkehr in die Heimat. Zu dieser Rückkehr hatte ein Aufruf polnischer Politiker und Intellektueller, unter denen die große Mehrheit Nichtkommu-nisten waren, schon vor zwei Monaten aufgefordert. Das Warschauer Kabinett hatte diesen Schritt veranlaßt und ihn durch Zusage völligen Vergessens aller in der Emigration gegen die Volksdemokratie gerichteten Handlungen unterstützt.

Hanke, dessen Name weitesten Kreisen unbekannt war, ist ein heute einundfünfzigjähriger schlesischer Bergmannssohn, der sich früh dem Kreis um Korfanty anschloß und in der christlichen Gewerkschaftsbewegung schon vor dem zweiten Weltkrieg eine Rolle spielte. Er nahm am zweiten Weltkrieg erst in Polen selbst, dann in Frankreich teil, wurde gefangen, entfloh und trat neuerlich ins polnische Heer. Nach dem Waffenstillstand betätigte er sich in England als Mitglied des dortigen polnischen Nationalrats. Im Jahre 1953 übernahm er ein Portefeuille in der Exilregierung des Generals Od-zierzynski, dann in der Hryniewskis. Nach des Zweitgenannten Rücktritt wurde Hanke vom Staatspräsidenten der Emigration, August Za-leski, mit dem Vorsitz in der Regierung betraut. Das geschah Ende Juli dieses Jahres. Hanke hegte politische und soziale Anschauungen, die ihn nach links wiesen. Er geriet dadurch in schroffen Gegensatz zu konservativen und nationaldemokratischen Elementen, von denen die einen im Lager Zaleskis viel zu sagen hatten, die andern diesem Präsidenten die Anerkennung verweigerten und ihre eigenen Exilbehörden besitzen. Der Zwist unter der polnischen Emigration — außer der Gruppe um Zaleski und einer zweiten um General Sosnkowski gibt es noch eine dritte um den Bauernführer und ehemaligen Ministerpräsidenten Mikolajczyk — wurde durch die Warschauer Propaganda weidlich ausgenützt. Die fortwährenden Streitigkeiten zwischen den durch lange Abwesenheit aus der Heimat, ungünstige Lebensverhältnisse und die sich stets vermindernde Aussicht eines Umschwunges in Polen verbitterten Emigranten führten zu endlosen Polemiken in der Emigrationspresse, zu gegenseitigen Beschuldigungen des Volksverrats und zu einer Situation, aus der die meisten keinen rechten Ausweg wußten. Bald vernahm man, dieser politische Führer unterhandle heimlich mit Bonn, bald, jener andere stecke im Grund mit den Bolschewiken zusammen. Alle diese Intrigen und Zänkereien beschäftigten zwar nur einen kleinen Kreis von etlichen Tausend Berufspolitikern, Literaten und sonstigen Intellektuellen, doch die Auswirkungen machten sich bei der Million Neu-Exulanten geltend, die der zweite Weltkrieg nach den USA, nach Großbritannien, Frankreich, Deutschland und sonst noch über den Erdball verstreut hatte.

Diese breiten Massen, die freilich einen ungewöhnlich hohen Anteil an ehemaligen Angehörigen der Oberschicht und der Mittelklasse in sich schlössen, sehen sich seit geraumer Frist einem tragischen Dilemma gegenüber. Die Notwendigkeit, das nackte Leben zu sichern, zwingt die Emigranten dazu, einem Beruf nachzugehen, der nur selten dem ursprünglichen Bildungsniveau und den einstigen Gewohnheiten der ihn Ausübenden entspricht. Je mehr einer in der neuen nationalen Gemeinschaft aufgeht, in deren Mitte er nun werkt, um so besser sind seine Aussichten. Damit aber sind die Kinder der völligen Entpolonisierung bestimmt, nicht anders als die Nachkommen der Emigranten von 1830/31 und von 1863/65, denen man heute in Frankreich, in den angelsächsischen Ländern, mitunter auch in Deutschland begegnet Beharrt aber jemand auf seinem Polentum, dann hat er im Exil schier unüberwindliche Schwierigkeiten vor sich. Es tritt also an ihn die Versuchung heran, in die alte Heimat zurückzukehren.

Solange dort der scharfe Kurs im Zeichen des Stalinismus herrschte und anderseits der kalte Krieg die Möglichkeit einer bewaffneten Auseinandersetzung der Weltmächte näherrückte — wovon die Emigration sich den Sieg der USA und den Sturz des volksdemokratischen Regimes in Polen erhoffte —, ebensolange war die Lust, nach diesem Lande heimzufahren, gering. Seit der Genfer Konferenz meinen immer mehr Exulanten, auf eine Aenderung des Systems in Polen sei auf lange hinaus nicht zu rechnen. Der Gedanke einer Rückkehr hängt jetzt nur von zwei Erwägungen ab: darf man den Versprechungen der Warschauer Machthaber insofern trauen, daß die Heimgekommenen keine Verfolgung befürchten und daß sie angemessene Beschäftigung erwarten dürfen; sodann, bringt diese Beschäftigung einen Lebensstandard mit sich, der zum mindesten dem des Betreffenden in der Emigration gleich ist. Beide Erwägungen sind menschlich begreifbar. Zugunsten der Rückkehr spricht ohnedies ein Gefühlsmoment, das der Heimatliebe. Dagegen wirkt die Abneigung, die in der gesamten Emigration sowohl dem Kommunismus als auch den Russen bzw. der Sowjetunion gilt.

Hanke hat, nach vergeblichen Bestrebungen, die gesamte Exilregierung zu einer großangelegten Aktion im Sinne der Rückkehr zu bewegen, Ende August sich unmittelbar an eine Versammlung von Vertretern der Emigration gewandt. Als er auch da bei der überwiegenden Mehrheit auf keine Zustimmung stieß, entschloß er sich zur individuellen Heimfahrt. Er wollte ein Beispiel geben, doch es fielen dazu persönliche Gründe in die Waagschale. Hankes Gattin und seine beiden Kinder, mit denen er in brieflichem Verkehr gestanden war, sind in Polen zurückgeblieben, die Familie hat zweifellos auf ein Wiederfinden mit dem Oberhaupt gedrängt. So bereitete der Exil-Ministerpräsident seinen Schritt vor. Er begab sich zuerst nach Paris, wo er, wiederum ohne Ergebnis, den obersten Seelsorger der Emigration, Erzbischof Gawlina, den ehemaligen Feldbischof, zu gewinnen suchte. Von dort flog er nach Rom, und nach einem gescheiterten Bemühen um eine Audienz beim Heiligen Vater führte Hanke seinen Vorsatz aus.

Am 8. September erschien der Mann, der drei Tage zuvor noch mit dem Emigrationsbotschafter Papee zu Rom verhandelt hatte, selbstverständlich nach vorherigem Einvernehmen mit der Warschauer Regierung, in Warschau.

Daß er zum Helden des Tages erkoren wurde, ist klar. Man reichte ihn überall herum, er sprach am Rundfunk, hielt eine große Pressekonferenz, drückte sich dabei recht gemäßigt über den Exil-Präsidenten Zaleski aus — dem er seinen Entschluß in einem sofort veröffentlichten Brief mitgeteilt hatte — und soll nun, wenn der Vergleich gestattet ist, als Lockvogel dienen.

Dabei dürfte es ihm kaum an einigem Erfolg fehlen. Wir haben die Wesenselemente der Exiltragödie geschildert. Zu ihnen tritt ein nicht unwichtiger Umstand, der gerade im Falle Hanke entscheidenden Einfluß geübt haben mag, die Rücksicht auf Familienbande. Wieviel emigrierte Polen besitzen nicht nächste Verwandte in der Heimat? Da gibt es ein Ehepaar: der Gatte ist, oder war, Minister im Londoner Kabinett, die Gattin Vizeminister in Warschau (wobei die Pikanterie darin liegt, daß der arische Partner dieser Mischehe bei den Volksdemokraten, der nichtarische im Exil zu suchen ist). Einer von zwei Brüdern ist in Warschau als Hochverräter verfemt und gehört im Exil zu den heftigsten Antikommunisten, der zweite ist in Polen Hochschulrektor und macht bei allen Friedenskundgebungen östlichen Stils eifrig mit. Ein Bruder war Sejmabgeordneter der regimefreundlichen katholischen Kollaborantengruppe, der andere, ein Ordenspriester, zählt im Westen zu den aktivsten Feinden der Volksdemokratie. Und so geht es fort. Nicht selten erlahmen die Familienbande, doch nicht minder selten werden sie im Laufe der Jahre spürbar. Das Entscheidende bleibt aber, wie wir schon unterstrichen haben, ob in der Emigration der Glaube an baldigen Umschwung der Verhältnisse Zwischeneuropas erlischt und ob man Mißtrauen wie Abneigung gegen das heutige Regime überwinden kann. Es ist nicht zuletzt Schuld des Westens, wenn beides heute bei vielen Emigranten geschieht, aus Verzweiflung und aus Zweifel an fremder Hilfe.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung