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Sechs Monate sind verflossen, seit die Vertreter der drei Waffengattungen des Heeres die Türkei von der Tyrannei Celal Bayars und Adrian Men-deres' befreit haben, um dem Volk seine Rechte wiederzugeben und das Erbe des Atatürk vor dessen unwürdigen, es verleugnenden Nachfolgern zu schützen. So lautete wenigstens die Lesart der am 27. Mai binnen wenigen Stunden siegreichen Revolution.

Als sich der Offiziersausschuß, der den Umschwung vorbereitet, ihn organisiert und verwirklicht hatte, fest im Sattel sah, trachtete er, so schnell es ging, seine hohen und seine weniger erhabenen Ziele zu erreichen. Am leichtesten vollzog sich begreiflicherweise die Wacheablösung. Alle Koryphäen des beseitigten Regimes wurden verhaftet, auf die Insel Jassi Ada gebracht und dort unter strengster Isolierung bis zum Schauprozeß überwacht, der am 14. Oktober begann.

AUSSCHUSS DER NATIONALEN EINHEIT Das Parlament wurde aufgelöst. Anfangs versprachen die neuen Herren baldige Neuwahlen, doch deren Ausschreibung wurde immer wieder verschoben. Schließlich, oder vorläufig, halten wir beim Termin des Jahrestags der Revolution, dem 27. Mai 1961, als Datum des künftigen Urnengangs. Die Funktionen der Volksvertretung werden bis dahin durch einen Ausschuß der nationalen Einheit ausgeübt. Dieser umfaßte ursprünglich 48 Offiziere, darunter 25 Generalstäbler; fünf Generälen, neun Obersten, fünf Oberstleutnants und elf Majoren standen acht Kapitäne und zehn Leutnants gegenüber. Zwölf dieser Verschworenen schieden in den ersten Wochen aus; ein paar Nachzügler wurden aufgenommen. Von Ende Juni bis zum 13. Novem-b • zählte das oberste Organ der Revolution 38 Mitglieder, deren drei im koordinierenden Sekretariat, dann 35 in vier Kommissionen, für

Sicherheit (elf), Wirtschaft, Sozialangelegenheiter (je zehn) und öffentliche Arbeiten (drei) amtieren. Sie bestimmen die Richtlinien des jetziger Kurses, seine innere und seine auswärtige Politik. Die Regierung war von ihnen völlig abhängig. Wie sehr, das zeigte sich bei der erstes Kabinettsumbildung Ende August. Damals wurden von 19 Ministern zehn entlassen, weil die Mehrheit des Ausschusses mit ihren Leistunger unzufrieden war. Fünf dieser Portefeuilleinhbei waren an diesem Tage ahnungslos bei einem diplomatischen Empfang anwesend. Heimgekehrt, erfuhren sie ihre Absetzung. Unter ihnen befand sich auch ein Mann vom Format des vortrefflichen Handelsministers Cihat Iren, der wenige Wochen vorher in Paris wichtige Besprechungen geführt hatte. Nicht minder überrascht der Abgang des Justizministers Ozübazük. Eingeweihte wußten, daß sich innerhalb des Offiziersausschusses epische Kämpfe um die ideologische Ausrichtung und um die Vormacht abspielten. Einer gemäßigten Tendenz widerstritten die jungen Offiziere, deren Gesinnung zum sozialen Extremismus neigte und die in der Außenpolitik zum Neutralismus hinstrebten. Als deren Vormann wurde Oberst Türkes betrachtet. Unterstaatssekretär im Ministerpräsidium und, obzwar sehr links, dennoch die rechte Hand General Gürsels, des provisorischen Staatsoberhauptes, Vorsitzenden des Unionsausschusses und Regierungschefs, bestimmte er während vier Monaten maßgebend die türkische Politik. Man hieß ihn das Gehirn der Revolution, und er war es auch, der den Plan des Maiumschwungs entworfen hatte. Erst dreiundvierzigjährig, gebürtiger Zy-priote, schien er zu einer großen Zukunft berufen. Ebenso plötzlich, wie sein Stern aufgegangen war, erfolgte sein Rücktritt. War es ein endgültiger Sturz? Wir glauben es nicht. Lange hielt es die türkische politische Welt für möglich, ja für wahrscheinlich, daß Türkes die Organisation und die faktische Leitung einer neuen Regierungspartei übernehmen würde, wenn es — wie viele Anzeichen verkünden — bis zu deren Gründung gedeihen sollte. Die Radikalen hatten zunächst nicht an Stärke verloren, obzwar kurzsichtige Beurteiler das aus dem Rücktritt Türkes' herauslesen wollen; er war übrigens Mitglied des Unionsausschusses geblieben. Neben ihm und anderen dynamischen Angehörigen dieser Körperschaft waren die Minister, wie erwähnt, auf ihre Funktion als Fachleute beschränkt. Das galt sogar für die beiden bedeutendsten Kabinettsmitgüeder, den Finanzminister Alican — den einzigen angesehenen Politiker des früheren demokratischen Regims, der sich in die neue Ära hinüberbehauptet hat, was angesichts seines seinerzeitigen Zerwürfnisses mit Menderes möglich wurde — und für den Außenminister Selim Sarper, der seit langem in der türkischen Diplomatie eine markanten Platz einnimmt. Nur der zunächst als Verteidigungsminister in die Regierung eingetretene und Ende Oktober zum Vizeministerpräsidenten ernannte General Ozdilek, Gürsels nicht nur formeller Stellvertreter, erfreute sich einer über seine Kollegen hinaufgehbenen Position. Der kleine Staatsstreich Gürsels vom 13. November hat die Lage radikal verändert. Die Gemäßigten sind nun obenauf und die extreme Linke ist vorerst ausgeschaltet. In dem neuen leitenden Ausschuß von 23 Personen ist General Gürsel allmächtig. Der türkische Naguib hat die türkischen Nasser überrundet. Washington und London werden damit zufrieden sein.

Alican und Sarper sind sehr dazu geneigt, im Westen gute Figur zu machen und dort darüber zu beruhigen, daß ihr Land trotz einer Lockerung' der als zu hemmend empfundenen Bande, die es an NATO und CENTO knüpfen, dennoch in diesen Bündnissen verbleiben und nicht sofort auf den neutralistischen Kurs einschwenken möchte. General Gürsel hat dies in einem Brief an Präsident Eisenhower und im Gespräch mit dem amerikanischen Botschafter Fletcher Warren unterstrichen. Washington ist daraufhin bereit gewesen, der in schwierige Finanzlage geratenen Türkei durch Freigabe von einer Milliarde Türkenpfund unter die Arme zu greifen. Sarper gebärdet sich auf internationalem Terrain, so bei der UNO, durchaus als westlicher Staatsmann. Was nicht hindert, daß man in Ankara, im Einklang mit den Forderungen des linken Flügels des Unionsausschusses und mit der nüchternen Staatsräson, behutsam den sehr aufdringlich vorgebrachten Anregungen der Sowjetunion zur Besserung der beiderseitigen Beziehungen entspricht... Die heutigen Staatslenker der Kemalistischen Republik bemühen sich überhaupt, mit allen Nachbarn gut zu stehen und bestehende Spannungen zu entschärfen. Das ist aus der Art zu ersehen, mit der im Prozeß gegen Bayar, Menderes,' Zorlu und andere Exwürden-träger, deren Schuld an den Griechenpogromen vom 6.Ii. Juni 1955 hervorgehoben wird. Außenminister Sarper hat zudem bei seinem, anfangs verschobenen, Besuch in Athen am 20. Oktober Gelegenheit gehabt, Mißverständnisse zu bereinigen und die beiderseitigen Beziehungen zu verbessern. Auch bei den arabischen Staaten wird der Hebel angesetzt. General Gürsel hat im Beisein Sarpers die Botschafter dieser Länder ersucht„ ihren Regierungen den Wunsch nach aufrichtiger Freundschaft zu übermitteln. Allerdings machen sich die unter der Oberfläche schlummernden Gefühle alter Erbfeindschaft stets aufs neue geltend. Es gibt Grenzzwischenfälle, Schießereien. Der in Moskau akkreditierte neue Botschafter, Admiral Korotürk, hat bei den dortigen Machthabern, die zum Beispiel den Besuch General Norstads bei Gürsel mit Mißvergnügen registrierten, keinen leichteren Stand als sein Kollege in Paris, wenn dieser wegen des Anbots Gürsels zur Vermittlung in Algerien in ein Kreuzfeuer von verfänglichen Fragen gerät.

Und die Araber verzeihen den Türken nicht, daß diese leidlich mit Israel auskommen. Nasser aber hat das Viljaet Hatay nicht abgeschrieben und betrachtet es als ein verlorenes Kleinod des zur Vereinigten Arabischen Republik gehörenden Syriens. Ungeachtet aller heiklen Aufgaben, die der türkischen Außenpolitik verhängt sind, liegen die meisten Sorgen des jetzigen Regims auf dem Sektor der Innenpolitik.

Periodische Mitteilungen, man habe reaktionäre Agitatoren verhaftet, es seien Abgesandte des Unionsausschusses in die Provinzen abgeschickt worden, um die Bauern und die Bewohner kleiner Städte über die Ziele der Revolution aufzuklären, beweisen deutlich, daß eine sich allenthalben regende Opposition nur durch die Stärke der Armee und dank der Entschlossenheit ihrer verjüngten Führung niedergehalten wird. Die Bauern, die zu Menderes und den Demokraten hielten, sind noch nicht gewonnen. Die oberen Schichten grollen und schmollen. Aber auch manche Intellektuelle, die anfangs zu den Enthusiasten des Umschwungs zählten, sind enttäuscht und verbittert. Sie erkennen entsetzt, daß auch ihre Erkorenen die Zügel straff anziehen, daß der Freiheit Paradies nicht von dieser Welt ist und daß die Wirtschaftssituation nicht im Handumdrehen saniert werden kann. Sehr bemerkbar meldet sich sodann das Mißvergnügen eifrig religiöser Kreise, die den offenkundigen laizistischen Tendenzen des Regims gram sind. Die an 4000 gesäuberten Generäle und Offiziere, die Tausende entlassener Beamter widmen den neuen Herren keine allzu zärtliche Liebe. Ob gegen das alles die zwei großen Panazeen helfen werden: der Schauprozeß von Jassi Ada und die von Professor Sami Onar ausgearbeitete Konstitution mit ihren 200 Artikeln, von denen viele Skeptiker befürchten, diese chönen Normen würden nur auf dem Papier bleiben?

Es gab sehr zu denken, daß besagter Professor Onar, der siebzigjährige hochangesehene Rektor der Universität Istanbul, zusammen mit den Rektoren der dortigen Technik und der Universität Ankara am letzten Oktobertag demissionierte, um gegen eine nicht gerade erfreuliche Verfügung des Offiziersausschusses zu protestieren. Durch dieses Dekret (114) wurden 147 Hochschullehrer in den Ruhestand versetzt, die den neuen Herren nicht genehm waren. Die Studentenschaft ergriff sofort energisch für die Gemaßregelten Partei. Unter dem Einfluß Gürsels lenkten die Radikalen Mitglieder des allgewaltigen Ausschusses ein. Eine Aussprache mit einer Professorenabordnung verabredete schnell ein Kompromiß. Die Verordnung 115 wurde so interpretiert, daß sie — im Gegensatz zur vorangegangenen Maßregelung der Professoren — als Hort der Hochschulautonomie gelten dürfte. Die drei Rektoren, triumphal wiedergewählt, übernahmen neuerlich ihre Ämter, und die Studenten kehrten, bei der um einer Woche verzögerten Wiedereröffnung der Hochschulen, am 7. November friedlich in die Hörsäle zurück. Es war das Vorspiel zu dem eine Woche später geschehenen Vorgehen wider die radikale totalitäre Offiziersgruppe.

Weniger optimistisch ist die Entwicklung auf dem religiösen Sektor zu beurteilen. Die „Cho-dschas“, also die mohammedanische Geistlichkeit, und die „Agas“, die anatolischen Gutsherren, werden als Horte der Reaktion bekämpft und durch Sondergesetze diskriminiert. Am un-streitbarsten ist eine Verfügung, gemäß deren die einen wie die anderen aus ihren Wohnorten entfernt und an einen Zwangsaufenthalt gebracht werden können. Derlei nach gar unrühmlich bekannten Mustern ersonnene Mittel, um die junge Freiheit zu schützen, erwecken kaum geringere Bedenken als die, trotz schönmalender offiziöser Unklarheit, dem Kundigen nur allzu klaren über Meldungen von einer kurdischen Verschwörung in den Ostgebieten der Türkei und über die gegen die „vom Ausland aufgehetzten“ Rebellen geschehenen Maßnahmen. Ach, die türkische Revolution von 1960 ist mit dem Streitruf „Freiheit“ in den siegreichen Kampf gezogen, und wir denken resigniert mit dem Dichter: „Freiheit, ein schönes Wort; wer's recht verstünde!“

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