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Die Geschichte von der Bazooka

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Es gibt in der Politik Vorgänge, die an sich nicht bedeutend sind, aber stellvertretende Bedeutung haben. Das sind jene „faits divers“ am Rande der großen geschichtlichen Strömung, in denen eine politische Situation in anekdotischer Zuspitzung deutlicher sichtbar wird als durch lange Analysen. Das gaullistische Experiment- von 1958 kennt schon eine ganze Reihe solcher „Affären“, die um ihrer Symbol-haftigkeit willen Aufmerksamkeit verdienen.

DER PRÄFEKT UND DER LEUTNANT

Gibt es beispielsweise etwas, was das gegenwärtige unentschiedene Schwanken zwischen'

Legalität und Revolution besser illustrieren würde als der „Fall“ des Superpräfekten

Perillier? Perillier war am 13. Mai Superpräfekt (im französischen Verwaltungsslang:

„Igame“) der Region von Toulouse — der gefährdetsten Gegend von Frankreich damals, weil sich dort inmitten einer traditionell republiktreuen Bevölkerung die größten Ansammlungen von Fallschirmjägern und von Rücksiedlern aus Nordafrika befanden. Doch Perillier ließ sich davon nicht beeindrucken und hielt mit einer Entschiedenheit zur legalen Regierung, wie sie damals längst nicht alle Präfekten aufbrachten. Nun, Perillier wurde zur gleichen Zeit seines Postens enthoben, als General Salan dekoriert und General Massu befördert wurde. Seit Napoleon das Korps der Präfekten als Rückgrat des zentralistischen Staates geschaffen hat, ist es noch nie vorgekommen, daß ein Präfekt wegen — Treue zum Staat abgesetzt worden ist. Und 3es1 mifte seltsam “JffifW aufrechnet dePHSenei-af 3 Gäiille, ätf'iSrFSraat Mfeuerw will, damit den Anfang gemacht hat.

Aber die Franzosen kümmern sich auch seit dem 13. Mai nicht wesentlich mehr um den Staat als bisher. Mehr beeindrucken sie darum Affären, die nicht bloß in der nüchternen Atmosphäre des Staates spielen, sondern auch ein wenig in verschwörerische Bereiche hineinzuragen scheinen. Dazu gehört beispielsweise die Affäre um den Leutnant Rahmani. Seit vielen Monaten sitzt dieser Offizier im Gefängnis, weil er mit fünfzig anderen mohammedanischen Offizieren der französischen Armee in einem Brief an den Präsidenten der Republik die Gewissensnöte schilderte, in die er und seine Kameraden (die fast alle sich diesseits des Mittelmeeres im Dienst befanden) durch den Algerienkrieg gestürzt wurden. Das hat man ihm- als versuchten Hochverrat ausgelegt. Als de Gaulle an die Macht kam, erhoffte Rahmani, wie so manche andere eng mit Frankreich zusammenarbeitende Algerier, daß Siek nun alles zum Guten wenden und der Algerienkrieg aufhören werde: er begrüßte aus seinem Gefängnis die neue Regierung mit einem enthusiastischen Leserbrief an den „Monde“. Das bewog de Gaulle, aus dem „Fall Rahmani“ einen Musterfall der französisch-algerischen Versöhnung zu machen und den Leutnant freizulassen. Diese Absicht wurde dann auch öffentlich bekanntgegeben und die bevorstehende Freilassung Rahmanis mehrmals angekündigt, unter anderem auch durch Minister Malraux höchstpersönlich. Aber Rahmani sitzt heute noch im Gefängnis. Die Militärgerichtsbarkeit stellte dem Willen de Gaulles Prozedurschwierigkeiten entgegen und versteckt ihre politischen Absichten seither hinter pathetischen Beteuerungen der Unabhängigkeit der Justiz. Dabei erinnern allzu viele Vorgänge daran, daß die gleichen Offiziere spielend einen juristischen Weg zur Freilassung Rahmanis finden würden, wenn ihnen diese Freilassung politisch genehm wäre. Die Geschichte führt recht anschaulich vor, daß de Gaulle 1958 seine Regierung nicht mit derselben unbeschränkten Machtfülle angetreten hat wie 1944, als er nach dem Einzug in Paris erster Regierungschef der Vierten Republik wurde.

Wesentlich aufregender noch als die „Affäre Rahmani“ ist für die Oeffentlichkeit jedoch die Geschichte mit der Bazooka. Vielleicht erinnern sich unsere Leser noch an eine Nachricht, die am 16. Jänner 1957 durch die Tagespresse ging und damals viel Aufsehen erregte: Terroristen hatten damals vom Dach eines benachbarten Hauses aus mit einer elektrisch ausgelösten Bazooka ein Attentat auf das Büro des Oberkommandierenden, General Salan, unternommen; dieser selbst blieb unversehrt, weil er gerade nicht im Zimmer war — sein Adjutant, Kommandant Rodier, wurde jedoch getötet und ein Oberstleutnant verletzt. Die Erregung über diese angebliche neue Bluttat des algerischen Maquis war groß. Aber zwei Wochen später erfuhr die Oeffentlichkeit zu ihrem Erstaunen, daß das Attentat Sache einer aus Europäern bestehenden rechtsextremistischen Terrorgruppe gewesen sei. Das Wort „Europäer“ ist hier durchaus am Platze, denn allein schon die Namen der sechs ermittelten Mitglieder dieser Gruppe erinnern daran, daß sich die Stoßtrupps der „Ultra“organisationen in Algerien zu einem erheblichen Teil unter den zahlreichen dort wohnenden Weißen nichtfranzösischer Herkunft rekrutieren: der mit einer Spanierin verheiratete Chef der Gruppe trägt den ungarischen Namen Kovacs und die anderen heißen Castille, Fechoz, Tronchi, Gaffori, Dellamonica. (Dieses nichtfranzösische Element unter der weißen Bevölkerung Algeriens dürfte mrridestens Jeln DrftteVäusWScheni wetanicht3 menr.' Auch' dieser Bevölkefungsteil, der sich Frankreich nicht besonders verbunden fühlt, ja zu einem großen Teil gar nicht kennt, müßte im Falle einer „Integration“ zu „Francais ä part entiere“ gemacht werden ...)

Was steckte hinter diesem Attentat, 'begangen von einer rechtsextremistischen Gruppe am französischen Oberkommandierenden? Die nächstliegende Deutung war die des „Gegen-terrorismus“: die Attentate sollten dem algerischen Maquis zugeschrieben werden und dadurch die Erbitterung gegen diesen steigern. Mitglieder der Gruppe haben ja denn auch in der Haft zu sprechen begonnen und die Urheberschaft an neunzehn bis dahin den Algeriern zugeschriebenen Attentaten zugegeben, darunter eine Explosion in der Kasbah von Algier, die 17 Tote kostete.

Es schien aber auch etwas anderes mitzuspielen. General Salan hat in jenen Kreisen offenbar den Ruf eines „weichen“ Offiziers, auf den nicht genügend Verlaß sei. Und so ging denn, als die „weiße“ Autorschaft des Attentates bekannt wurde, recht bald die Behauptung um, daß der Schuß aus der Bazooka als Warnungszeichen für alle jene Offiziere gemeint gewesen sei, die mit einem Abfall von der „Politik der Härte“ gegenüber den Algeriern liebäugelten.

Greifen wir jedoch nicht vor. Auffällig war, wie lange es dauerte, bis die Bazookaaffäre vor Gericht gezogen wurde. Man hatte recht bald den Eindruck, daß an der Geschichte ein genierendes Element dran sein müsse. Nach dem 13. Mai kam es zu dem kuriosen Schauspiel, daß im Wohlfahrtsausschuß zu Algier seelenruhig neben General Salan zwei Männer saßen, denen die Polizei engste Beziehungen zu den Bazooka-leuten nachgewiesen hatte. Wieso ließ sich Salan das gefallen? Nun, die Regierung de Gaulle zum mindesten machte ernsthafte Anstrengungen, die kaltblütige Ermordung eines französischen Offiziers und den Angriff auf eine der Spitzen der militärischen Hierarchie zu sühnen. In der zweiten Hälfte des Juli, also eineinhalb Jahre nach dem Schuß aus der Bazooka, kam es in Paris vor einem Militärgericht endlich zur ersten Verhandlung gegen die Kovacs-Gruppe.

Auffällig war schon die Zahl der Anwälte, welche den sechs Angeklagten zur Verfügung stand: insgesamt fünfzehn. Und darunter recht prominente . Herren: der Abgeordnete Tixier-Vignancour, klügster Kopf der Rechtsextremisten in der Kammer, und Maitre Biaggi, der nach dem Machtantritt de Gaulles seinen (ebenfalls rechtsextremistischen) „Parti Patriote Revolutionnaire“ aufgelöst hat, weil sich nun alles hinter de Gaulle zu stellen habe. Wer wohl dieses Aufgebot von Verteidigern bezahlt hat? Dellamonica ist Feuerwehrmann, Tronchi Uhrmacher, Fechoz Handelsreisender, Castille Handelsinspektor, Gaffori Spezialarbeiter...

Auf jeden Fall ist es dieser Kohorte von Anwälten gelungen, zuerst die Vertagung dieses Prozesses auf den 18. August durchzusetzen, und an diesem Datum sogar eine solche auf unbestimmte Zeit. Und die Angeklagten sind gar auf freien Fuß gesetzt worden! Hauptargument bei diesen Manövern war eine arg umstrittene Erkrankung des Hauptangeklagten Kovacs, über die sich die Experten nicht einigen konnten. (Der pathetische Effekte nicht scheuende Tixier-Vignancour wies sogar einen dicken Packen von Hautfetzen vor, die sich Kovacs im Verlaufe seiner Krankheit abgekratzt habe.) Doch wurde auch mit anderen Argumenten, mit Prozedurschwierigkeiten manipuliert. Und selbst mit Drohungen wurde nicht gespart: von Seiten der Beklagten wurde recht deutlich zu verstehen gegeben, daß man „alle Welt kompromittieren“ werde, falls die Anklage weiter auf strenge Bestrafung dringe. Damit aber sind wir beim Kern dieser mysteriösen Affäre angelangt.

Das Pariser Wochenblatt „L' E x p r e s s“ ist sehr vielen Leuten bitter verhaßt, weil es schon durch allzu viele fromme Legenden einen dicken Strich gezogen hat. Wie in so manchen anderen Geschichten ist auch in '.er Bazookaaffäre die Wendung durch eine sensationelle Enthüllung im „Express“ bewirkt worden — eine Enthüllung, der von den Betroffenen bisher nur wütende Verlegenheit entgegengehalten werden konnte. Und zwar eine Enthüllung, die merkwürdigerweise gerade durch die erbittertsten Feinde des Mendesismus bestätigt wird. Das gut informierte neue Zweiwochenblatt „J e u n e Nation“ des gleichnamigen (von Pflimlin verbotenen, aber fröhlich weiterbestehenden) rechtsextremistischen Kampfbundes beispielsweise kommt im wesentlichen zu densejbfjn Behauptungen ijber di.e Affäre .wiß die bösen ,inksinjteÜektueIlen“ vom „Express“.

Nach diesen Enthüllungen sind Kovacs und seine fünf Leute kleine Handlanger, die ihre Befehle von in verschiedenen Rängen der Macht gut installierten Leuten erhalten haben — sogar amtierende Minister und Generäle sollen darunter sein. Sie hatten als Handlanger in einem doppelten Kampf zu wirken: erstens einmal im Kampf der „Harten“ gegen alle „liberalen Ver-irrungen“ in der Algerienpolitik und zweitens im Kampf verfeindeter Klans innerhalb dieses Lagers der „Harten“ untereinander. „Jeune Nation“ spricht sogar recht deutlich aus, welches diese Klans sind: es sind die alten Rechtsextremisten aus der „faschistischen“ Tradition und die von diesen als Eindringlinge empfundenen, von Renegaten der Linken wie Soustelle angeführten Neo-Rechtsextremisten aus dem gaullistischen Lager. General Salan wäre also beinahe das Opfer von Diadochenkämpfen geworden, die unterirdisch schon tobten, ehe das Opfer — die Vierte Republik — überhaupt abgestochen war...

Nimmt man noch hinzu, daß dieser Streit sich offensichtlich noch mit dem Streit der diversen Nachrichten- und Polizeidienste zu überschneiden scheint, die sich diese ganze Nachkriegszeit hindurch schon bis aufs Messer bekämpfen, so erstaunt es nicht, daß die Bazookaaffäre bereits ein wirrer Knäuel geworden ist, der es an Unentwirrbarkeit schon fast mit der berüchtigten „Affaire des Fuites“ der Jahre 1954 bis 1956 aufnehmen kann. Ihn auf einmal zu entwirren, dürfte nicht möglich sein.

Fraglich ist, ob der „Express“ recht hat, wenn er, wie verschiedenen seiner Untersuchungen aus den letzten Monaten nach angenommen werden muß, an ein zusammenhängendes und meisterhaft durchorganisiertes Großkomplott gegen die Republik glaubt, in dem die Kovacs-Gruppe nur ein kleines Rädchen darstellt. In politischen Notsituationen traut man dem Feind oft mehr Uebersicht und Allmacht zu, als ihm zur Verfügung stehen. Und die Gefahr besteht durchaus, daß nun auch auf der Linken eine Dolchstoßlegende von allzu perfekter Art aus richtigen Einzelheiten konstruiert wird. Eines jedoch kann gleichwohl jetzt schon festgestellt werden: die Geschichte von der Bazooka ist mehr als bloß die Geschichte von ein paar stürmischen jungen Leuten, die zu viele Abenteuerromane gelesen haben. In ihr hat unvermutet ein Flossenschlag die glatte Oberfläche getroffen, der auf bedeutendere Vorgänge in der Tiefe schließen läßt.

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