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Ein zweiter Fall Stavisky?

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Polizeiaffären, in die sich Geheimdienste verschiedener Länder mischen und bei denen notorische Verbrecher, im vollen Bewußtsein ihrer Missionsbedeutung, mit Presseenthüllungen aufwarten und der Justiz ihre „guten Dienste” anbieten, sind Dinge, mit denen sich ein ernsthafter politischer Chronist nicht gern befaßt. Auch dann nicht, wenn solche Enthüllungen dazu angetan sein könnten, höchste Staatsexponenten in ihrer Integrität zu erschüttern und Kabinette ziu stürzen. Es gibt zu viele Elemente, die den Horizont verdunkeln und eine objektive Wertung schwer machen.

Man ist in Frankreich ratlos gegenüber den Beweggründen der plötzlich ans Liebt gezerrten Exponenten der öffentlichen Gewalt, gleichgültig, ob sie hartnäckig schweigen, sich gegenseitig beschuldigen oder die zur Debatte stehenden Tatsachen durch Fiktionen und Unwahrheiten bewußt verzerren. Das Wort „Staatsräson” wird zu einer Parole des Hohns, besonders wenn der rätselhafte Tod eines unbequemen Mitwissers mit kaum ver borgenem Zynismus — der eine unmißverständliche „Warnung an Neugierige” beinhaltet — als „Selbstmord” qualifiziert wird. Im Dritten Reich hieß die entsprechende Parole: „Auf der Flucht erschossen ..Selbst der naivste Betrachter wußte, woran er war.

Das Gesetz der Unterwelt und ihr seltsamer Ehrenkodex muß den Spezialisten Vorbehalten bleiben. Die Außenstehenden haben sich mit der Erkenntnis zu bescheiden, daß die Macht der verschiedenen Varianten der Maffia sehr weit und sehr hoch hinauf reicht, so weit, daß die Entführung von Menschen von fremden Territorien — mit und ohne anschließender Ermordung an Ort und Stelle— in Friedenszeiten fast zu einer „normalen Erscheinung” im internationalen Leben geworden ist und längst nicht mehr zu den „Privilegien” Moskaus zählt. Denn, strenggenommen, stellen die Entführungsaffären Argoud, Delgado und Eich- mann im gleichen Ausmaß flagrante Rechtsbrüche dar, welche Beweggründe auch dem Einzelfall zugrunde liegen mögen.

Ominöse Selbstmorde

Die Affäre Ben Barka, die die französische Öffentlichkeit seit Wochen in Atem hält, ist für die Opposition eine dankbare Gelegenheit, um sich gegen das bestehende Regime moralisch ziu entrüsten und sie als „Staatskrise” zu qualifizieren. In der Tat gibt es im Ablauf dieses Dramas gewisse Parallelen zum Stavisky-Skandal, der zu Beginn der dreißiger Jahre die Dritte Republik tödlich traf und den Anstoß zu ihrem Untergang 1940 gab. Stavisky starb, als er hohe und höchste Staatsfunktionäre in den Strudel einer riesigen Betrugsaffäre mit hineinzuziehen drohte, durch einen bis zum heutigen Tag unaufgeklärt gebliebenen „Selbstmord”. Im Kielwasser der Ben-Barka-Affäre endete der intellektuelle Verbrecher Figon, der zuviel wußte und zuviel plauderte — er glaubte naiverweise, durch Namensnennung der angeblichen Mitwisser und Beteiligten an der Entführung und Liquidierung des marokkanischen Oppositionsführers sein Leben retten zu können —, durch einen Schuß aus der eigenen Pistole in seiner Pariser Wohnung. Alle logischen Voraussetzungen sprechen gegen den Selbstmord, den übrigens auch der Tenor der Gerichtsmedizinerkommission in Zweifel stellt. (Man fand keine Fingerabdrücke an der Waffe und „vergaß”, durch eine Parafflnprobe festzustellen, ob sich Pulverspuren an der Hand der Leiche befanden.)

Was hat Sich faktisch ereignet? Der geschickte Untersuchungsrichter Zollinger hat im Verlauf einer geduldigen und langwierigen Zeugen einvernahme — nicht zuletzt gestützt auf Presseenthüllungen, die ihrerseits auf den Erklärungen des Spitzels und Tatkomplizen Georges Figon basierten — die folgenden Umrisse der Affäre ermittelt: Der marokkanische Politiker und ehemalige Führer des Istiqlal, Mehdi Ben Barka, der dem Kabinett in Rabat bereits seift 1961, als er sich vom Regime des Scherifats Hassan II. lossagte, ein Dorn im Auge war, wird Ende Oktober 1965 durch eine Machination der Geheimdienste seines Landes aus seinem ständigen Exilaufenthalt Genf nach Paris gelockt — es wird ein fiktives Filmprojekt gegen den Kolonialismus vorgeschoben —, dort von französischen Polizeibeamten auf offener Straße verhaftet und anschließend einer Bande, die sich aus marokkanischen Agenten und französischen Mordspezialisten (der technische Ausdruck lautet „tuers”) rekrutiert, in die Hände gespielt. Der Innenminister und oberste Chef des Geheimdienstes Marokkos, General Oufkir, wird daraufhin von den Gangstern nach Paris gerufen, wo er — nach Darstellung des inzwischen mysteries urns Leben gekommenen Komplizen Georges Figon — seinen Gegenspieler personlich durčh Dolchstiche liquidiert.

Mitwisser ist die Polizei

Sollten sich die Vorgänge, wie es nach den Ermittlungen den Anschein hat, in dieser Form abgespielt haben, so hätte man es rein äußerlich mit einer „Regelung der Konten” auf hoher Ebene zu tun, an die man sich in Frankreich nach der Entfiih- rung des Generals Kutiepoff und den jüngsten Koloniialkriegen, wie auch sett ihren OAS-Weiterungen ge- wöhnt haben müßte. Der eigentliche Skandal, der die öffentlichkeit mehr als die Entfiihrung und der Mord er- schiitterte, lag in der Tatsache, daß hohe Beamte der französischen Polizei und führende Exponenten der Spionageabwehr über ihre Kenntnis von der Aktion gegen Ben Barka aus falschverstandenem Korpsgeist gegenüber den Tatbeteiligten und Mitwissern ihrer Dienststellen schwiegen und die Justiz wochenlang im dunkeln ließen, obwohl sie damit rechnen mußten, daß nach dem Durchsickern der ersten Informationselemente ihr Schweigen dazu angetan war, Exponenten oberster Staatsbehörden, wenn auch nicht direkt zu belasten, so doch in ein schiefes Licht zu bringen. Als die Enthüllungen des Untersuchungsrichters sehr handfeste Formen angenommen hatten, bequemten sich maßgebende Funktionäre zum Eingeständnis ihres Mitwissertums.

Das Elysee konnte diese Dinge nicht mehr auf sich beruhen lassen, und General de Gaulle ‘izog in dieser Zwangslage die einzig logische Konsequenz aus der Affäre und ihren Weiterungen: Er verlangte eindeutige Aufklärung aller Hintergründe vor der Öffentlichkeit, ohne Rücksicht auf den Rang und die Stellung etwa kompromittierter Personen. Nach der Entfernung der unmittelbar betroffenen Beamten wurde dem 78jährigen ehemaligen Botschafter und Mitglied des Verfassungsrats, Leon Noel, die Reorganisation der offiziellen und inoffiziellen Polizei aufgetragen. Die Spionageabwehr wurde dem Premierminister entzogen und dem Verteidigungsminister unterstellt, während gegen den unter schwerem Verdacht stehenden Innenminister Marokkos, General Oufkir, wie auch gegen zwei seiner hohen Sicherheitsbeamten vom Untersuchungsrichter ein internationaler Haftbefehl erlassen wurde. Schließlich wurde Frankreichs Botschafter aus Rabat abberufen, was marokkanischerseits auch zur Abberufung des diplomatischen Vertreters in Paris führte. Wenn man bedenkt, wie sehr es Paris an einem guten Verhältnis mit seiner ehemaligen Kolonie liegt, wird man sich der Tragweite eines so einschneidenden Schrittes bewußt werden: Ohne Rücksicht auf „Staats- räson”-Erwägungen, die auf unterer und mittlerer Ebene ins Feld geführt wurden, entschloß sich das Regime tabula rasa zu machen, um den Verdacht einer Komplizität in einer äußerst schmutzigen Affäre von Anfang an und vor den Augen der Welt zu ersticken.

Damit wird die Fünfte Republik zwar nicht vom Vorwurf einer mangelnden Aufsichtspflichterfüllung gegenüber ihrer Polizei reingewaschen, aber sie entzieht sich doch zumindest der Gefahr einer Staatskrise, die — wie einst die Halsbandaffäre, die der großen Revolution den Boden bereitete, oder der Dreyfus- Skandal, der 1898 die Grundfesten der Dritten Republik erschütterte — die moralische Integrität des gegenwärtigen Regimes in Frage stellen könnte.

Signal zum Frontalangriff

Es lag natürlich auf der Hand, daß die Linksparteien diese Gelegenheit einer ernsten Schlappe, die selbst die der Regierung nahestehende Presse nicht zu beschönigen wagte, für einen Frontalangriff nicht verpassen konnten. So wurde vom Präsidenten der Liga für Menschenrechte, Daniel Mayer, den Sozialisten und Kommunisten eine Massenkundgebung veranstaltet. Der sozialistische Abgeordnete Montalat kündigte eine große Anfrage in der Nationalversammlung an, durch die die Regierung um Mitteilung ersucht wird, warum das Parlament und die Öffentlichkeit über die volle Tragweite des Skandals nicht bereits während des Wahlkampfs unterrichtet gewesen seien, und ferner, welche Maßnahmen der Premierminister er greifen wolle, um die Rolle des Innenministers und seiner Dienststellen, wie auch seine eigene Rolle als verantwortlicher Regierungschef, der bis zum 19. Jänner 1966 für die Spionageabwehr (S. D. E. C. E.) zuständig war, aufzuklären.

Diese Aktionen müssen dem Regime und der UNR angesichts der Vorwahlperiode sehr unerwünscht kommen, sie sind aber nicht so schwerwiegend, als daß sie die Fünfte Republik faktisch gefährden, allein schon wegen des Tatbestandes, daß Frankreichs Regierung an einem Verschwinden Mehdi Ben Barkas kein unmittelbares oder mittelbares Interesse haben konnte: Der marokkanische Politiker führte einen auf lange Sicht berechneten Kampf — sei es von Genf, sei es von Kairo aus — gegen die Feudalherrschaft der Caids und Paschas, die Korruption und die durch die Person des Innenministers, General Oufkir, seit 1965 verkörperte Polizei- und Geheimdienstwillkür seines Landes. Oufkir sah in Ben Barka seinerseits einen persönlichen Feind, zumal Hassan II. seit langem mit dem Gedanken spielte, den Oppositionsführer ins Land zurückzuholen und ihn mit einem Ministerposten zu betrauen. Diese „Öffnung nach links” wäre auch im Sinne der französischen Regierung gewesen. Was Ben Barka angeht, so forderte er nicht nur freie Wahlen, die Herstellung demokratischer Freiheiten und ein Amnestiegesetz, sondern machte auch die Eliminierung Oufkirs zur Bedingung der etwaigen Übernahme einer politischen Rolle in Marokko.

Die Amerikaner waren verärgert

Ein Teil der französischen Presse weist — vorerst in zurückhaltender Form — darauf hin, daß Ben Barka der Hauptorganisator der kürzlichen Konferenz der Entwicklungsländer dreier Kontinente in Havanna war und damit ein starkes Mißfallen der Amerikaner geweckt habe. Es liegt natürlich nahe, von da aus auf das Interesse des C. I. A. (USA-Geheim- dienst) an der Ausschaltung Ben Barkas zu schließen, zumal es als erwiesen gilt, daß die anklagenden Berichte, die Oufkir über die Akti- vität Ben Barkas dem König vor- legte, größtenteils amerikanischen Quellen entstammten.

Aber selbst, wenn ein derartiger Rückschluß nicht so deutlich als Ab- lenkungsmanöver erkennbar ware und weniger in die gegenwärtige „politische Landschaft” passen würde, müßte im Bereich der Hypo- thesen eine amerikanische Initiative einfach schlüssiger als eine franzö- sische erscheinen.

Man kann die weitere Entwicklung der Affäre, die in wenigen Wochen so viele Überraschungen brachte, nur schwer voraussehen. Freilich 1st anzunehmen, daß sich ungeachtet der gegenwärtigen Spanning ein Arrangement zwischen Paris und Rabat finden läßt, ohne daß Hassan II. Oufkir fallen lassen wiirde, auf dessen Dienste der König ebensowenig verzichten kann, wie Napoleon auf die Dienste Fouches verzichten konnte. Weiter kann mit einiger Sicherheit gesagt werden, daß einige führende Persönlichkei- ten Frankreichs allein schon aus optisch-politischen Griinden in den Hintergrund riicken dürften. Doch das Gespenst der Staatskrise wind an Frankreich voriiberziehen. Der Nachteil elnes unbestrittenen Pre- stigeverlustes, der dem Lande durch diese böse Affäre zugefügt wurde, könnte durch den Vorteil eines rei- nigenden Gewitters im Polizeiappa- rat und seinen pseudolegalen Ver- längerungen wenigstens fiir einige Zeit kompensiert werden.

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