6555454-1948_19_03.jpg
Digital In Arbeit

Krise der Rache

Werbung
Werbung
Werbung

E. v. H,, Paris, Ende April

Die Gewalten, die die befreiten Staaten zu führen begannen, in denen Vergewaltigung, Verführung und Irreführung zahllose Menschen hatten schuldig werden lassen, hatten das Recht und die Pflicht zur Reinigung des öffentlichen Lebens von den Spuren unseliger Vergangenheit. Ihr Recht und ihre Pflicht war auch die Ahndung aller Verbrechen wider Menschlichkeit und Menschenwürde und wider die pflichtgemäße Treue gegen das Vaterland. Solange die Urteile der nationalen und der internationalen Gerichte mit -den Straftaten zeitlich halbwegs verwoben waren, wurden sie hingenommen, auch wenn sie streng und auch wenn sie Fehlurteile waren. Je weiter sie sich aber von der Zeit des Grauens entfernten, desto mehr waren sie der Kritik unterzogen. Die zunehmende Entfernung von den Erlebnissen ließ Besonnenheit und Milde an die Stelle der Strenge und der Rachegefühle treten. Eine höchst subjektive Rachsucht, die nicht selten das Recht verdrängte, hatte große Härten hervorgebracht.

In Frankreich war die Verlangsamung des Tempos der Untersuchungen schon seit eini-’ ger Zeit recht auffällig. Dazu hat gewiß manches beigetragen, was vom Willen der Richter unabhängig war. Viel belastendes Material kam erst bei Durchforschung der deutschen Archive zum Vorschein und wird noch immer zutage gefördert. Viele Belastete sind erst kürzlich aufgegriffen worden, anderen ist die Flucht in unbekannte oder nicht auslieferungsbereite Länder gelungen. Es sei an so berühmte Kollaborateure wie Marcel Déat, Paul Rochat oder General N o g u ě s erinnert. Die zuerst erledigten Fälle erwiesen sich nicht selten als ein gefährliches Präjudiz. Pétain ist ein solcher Fall. Die Umwandlung der am 5. August 1945 ausgesprochenen Todesstrafe in lebenslängliche Haft besagte schon, daß die Richter am liebsten kein Todesurteil gefällt hätten, nicht nur wegen des hohen Alters und der früheren Verdienste des Angeklagten, sondern weil bei ihm keine hochverräterische Absicht angenommen wurde. Große Massen des Volkes, namentlich die katholischen Volkskreise, fühlten ihr Rechtsgefühl durch das Urteil verletzt. Pétains Fehler war sein hohes Alter, das eine starke Abhängigkeit von seinen Ratgebern mit sich gebracht haben mag. Aber schon vor dem 15. August 1945 hatten andere, die von Marschall Pétain das Gesetz ihres Handelns empfangen hatten, ihr Leben verwirkt. Wieder andere waren in seinem Auftrage oder in seinem Namen zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Manche Männer der Resistenz, die die Vierte Republik zu ihren Idolen erhoben hat, waren unter Pétain als Verräter und Feinde des Vaterlandes gebrandmarkt worden.

Diese Erinnerung ist es, die den vor kurzem gestarteten Feldzug für die Freilassung des heute fast dreiundneunzigjährigen Marschalls kompliziert.

Das Vorspiel waren ein paar Bücher. Louis-Dominique Gérard, der Kabinettchef Pétains, unternahm es, in einem Buche mit dem Titel „Montoire — das diplomatische Verdun“ den Waffenstillstand von 1940, die Begegnung Pétaitís mit Hitler und die ganze Politik des Marschalls als Akte der Resistenz, der Selbstbehauptung und der Rettung Frankreichs zu interpretieren. Der Marschall habe in Wahrheit zum Nutzen Frankreichs hingehalten und irregeführt. Ein von den Anwälten J acques Isorni und Jean Lemaire bevorworteter Band, „Nach dem Prozeß des Marschalls Pétain", verspricht gemäß dem Untertitel, daß er „Dokumente für die Wiederaufnahme des Verfahrens“ liefern will. Auch ein anonymer General trat in einem Buche mit dem Titel „Das Schweigen des Marschalls“ für Pétain ein. Worauf eine Zeitung eine Volksabstimmung anregte und sich ein „Ehrenkomitee für die Befreiung Pétains“ bildete, dem Louis Madelin als Präsident, General Hering als Generalsekretär, die Marschallin Joffre, Henry Bordeaux, Andre Chaumeix, Oberst Fabrý, Admiral Lacaze, Jéróme und Jean Tharaud — um nur einige zu nennen — als Mitglieder angehören. Louis Madelin hatte, als er an die Spitze dieses Komitees trat, vergessen, daß er im Jahre 1945 das Präsidium eines Komitees, für die Wiedererrichtung des im Auftrage Hitlers zerstörten Pariser Denkmals des Generals Mangin übernommen hatte. Die Familie Mangin erinnerte sich aber dessen und auch der Tatsache, daß sich sieben Söhne und Schwiegersöhne dieses Generals, alle dekoriert mit der Ehrenlegion und drei gefallen, nach dem Juni 1940 von dem System Pétains losgesagt hatten, um für die Befreiung des Vaterlandes kämpfen zu können, dann, daß einer davon, der General Bros,set, im Jahre 1940 im Namen Pétains zum Tode verurteilt wurde und 1945 für Frankreich sein Leben hingab. Die Überlebenden und die zu Mündeln der Nation erklärten sieben Kinder der Gefallenen fordern nun, daß die Bemühungen um die Wiedererrichtung des Denkmals anderen Händen anvertraut werden. Die Witwe Mangins lädt Madelin ein, sich zurückzuziehen und auf diesem Rückzug noch ein paar andere Mitglieder des Mangin-Komitees mitzunehmen, deren Haltung von Mangin gewiß verurteilt worden wäre. Von Seiten der Traditionsverbände der Resistenzler regnet es Proteste. Zugleich lauern die Kommunisten darauf, daß sich die anderen, die für Milde eintreten, doch noch eine Blöße geben, die den Vorwurf des „Vichysmus" rechtfertigen würde.

Man ist auf dem besten Wege, den Graben wieder aufzureißen, den Vichy zwischen dem Frankreich der Resistenz und dem Frankreich der Kollaboration gezogen hat und der nach der Befreiung notdürftig zugeschüttet wurde. Wenn es nur um die Verbesserung der Lage des greisen Gefangenen ginge, der wahrscheinlich auch anderswo kein viel anregenderes und behaglicheres Leben mehr führen würde als in der Villa auf der Insel von Yeu im Mittelmeer.

Aber zuweilen ist es offensichtlich, daß nicht nur Motive der Menschlichkeit und eines großherzigen Vergebens in der Bewegung wirken, sondern im Rücken von Louis Madelin auch politische Absichten, die auf die Wiedererrichtung jenes Parteien- und Machtsystems gerichtet sind, das von den Befreiern hinweggefegt wurde. Die Verquickung mit der Affäre Laval deutet in diese Richtung.

Daß die Tochter Pierre Lavals die Aufzeichnungen, die ihr Vater während der

Haft in Fresnes gemacht hat, der Öffentlichkeit übergibt, nimmt ihr niemand übel. Man stößt sich nicht einmal daran, daß für das Erscheinen ein Zeitpunkt gewählt wurde, der das Buch als Element in einem größeren Plane verdächtig macht. Daß aber Mattre Albert Naud, der die Verteidigung Pierre Lavals nach dem ersten Verhandlungstag niedergelegt hat, jetzt — gerade jetzt — mit seinem Buche „Warum ich Laval nicht verteidigt habe“ aus der Affäre Laval eine Affäre Dreyfus machen will, ist weniger erfreulich. Etwa zur gleichen Zeit ließ Michel Letan sein Buch „Pierre Laval. Vom Waffenstillstand zur Richtstätte. Endlich bricht sich die Wahrheit Bahn“ erscheinen. Gewiß, es war eine Schmach, daß die Geschworenen den ihnen vorgeführten Angeklagten Pierre Laval mit den stürmischen Rufen empfingen: „Dreckfink! Mit dir sind wir bald fertig. Du bekommst schon deine Kugel.“ Man möchte sich auch daran nicht mehr erinnert wissen, daß der zum Tode Verurteilte, der Gift genommen hatte, aus seinem Todeskampfe erweckt wurde und über hundert Liter Wasser zu Magenausspülungen verwendet wurden, um ihn halbwegs exekutionsfähig zu machen. Aber diese widerwärtigen Tatsachen bringen ja doch die1 Erinnerung nicht zum Erlöschen, daß Laval am 22. Juni 1942 in dem besetzten und tief gedemütigten Lande die Worte gesprochen hat: „Ich wünsche den Sieg Deutschlands!“ Vor dem Kriege gab es genug Franzosen, die eine Verständigung und ein gutes Auskommen mit Deutschland wünschten. Aber das war einmal und längst vorbei, als Laval so scharf seine persönlichen Wünsche formulierte, die allerdings sein eigenes Schicksal umschlossen.

Der unverkennbare Wandel in der Volksmeinung, ihre Abkehr von dem leidenschaftlichen Verlangen nach Verfolgung und Strafe deckt sich mit dem Umschwung in der Praxis der Gerichte. Krupp, der den Franzosen jahrzehntelang als die Personi fikation des deutschen Angriffs- und Rüstungswillens erschien, konnte vom Nürnberger internationalen Gerichtshof in wesentlichen Anklagepunkten freigesprochen werden, ohne daß die „kochende Volksseele übergeschäumt" wäre. Überhaupt dieses Nürnberg! Die Zeitungen nehmen selbst von dem Prozeß gegen den einstigen Generalstabsdief des deutschen Heeres, General der Artillerie Halder, kaum Notiz. Und dieser Mann hat etwas zu enthüllen! Der Freispruch der Gerdavon Einem, die der Öffentlichkeit als Mata Hari des Dritten Reiches vorgestellt worden war, regte nur ein paar Abendblätter auf. Und sie war doch am 29. Mai 1940 in contumaciam zum Tode verurteilt, einer ihrer Mitschuldigen füsiliert, ein anderer zum Selbstmord getrieben und ein dritter eingekerkert worden. Flandin, dem der französische Sondergerichtshof vor Jahren die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt hatte, und andere einstige Minister durften gelegentlich eines Diners sich der Öffentlichkeit in Erinnerung bringen. Eine kürzlich aufgestellte Statistik zeigt, daß der am 18. November 1944 zur Urteilsfällung über „Vichy" eingesetzte Hohe Gerichtshof von den im ganzen 10 Beschuldigten 40 abgeurteilt und 35 mangels Beweisen außer Verfolgung gestellt hat (non-lieu), so daß noch immer 32 ihres Urteils harren. Von diesen 32 unerledigten Fällen befinden sich noch 18 im Stadium der Untersuchung, darunter der des berühmten Generalstabschefs des Marschalls Foch im ersten Weltkrieg und letzten Oberkommandanten im zweiten Weltkrieg, Generals W e y g a n d. Die Akten liegen bereits bei der Staatsanwaltschaft, man rechnet mit Einstellung des Verfahrens mangels strafbaren Tatbestandes. Zwölf Fälle figurierten auf der Liste der Session, die vertagt werden müßte, weil die kommunistischen Mitglieder der Jury vor Beratung des dritten Falles das Beratungszimmer verlassen hatten.

Daraufhin hatten bekanntlich der sozialistische Präsident des Hohen Gerichtshofes und seine Stellvertreter demissioniert. Der Nationalversammlung wurde die Aufhebung des Sondergerichtes vorgeschlagen. Sie konnte sich hiezu nicht entschließen, schritt aber zu einer Reform, die die Lahmlegung des Gerichtes durch streikende Mitglieder der Jury unmöglich machen soll. Doch unterliegt es kaum einem Zweifel, daß die aus der Stimmung der Befreiung von Hitler und Vichy geborene Ausnah m s j u s t i z ihrem Ende entgegengeht. Leidenschaft hat die Tatsachen manchmal entstellt. Wo es geschah, ist die Revision geschichtlichen Urteils auf dem Marsche. Mit der Revision schon gefällter gerichtlicher Urteile sieht es schlimmer aus.

Die Kommunistische Partei hat sich bereits des Gegenstandes bemächtigt, wie jene Demission der kommunistische Mitglieder der sondergerichtlichen Jury, die Anprangerung der ihr zu milde erscheinenden Urteile als Politik der Rechten und des Gaullismus als „Vichysmus" verrät.

Die französische Magistratur glaubte seit einiger Zeit, dem Wandel der Anschauungen und der Sehnsucht vieler Franzosen nach Befriedung Rechnung zu tragen, indem sie in zahlreichen Fällen (mit Ausnahme der schwersten) die Strafe herabsetzte. Ein amtliches Kommunique der Agence France Presse stellt nun fest, daß die seit einigen Monaten im Gange befindliche Agitation zugunsten von Kollaborateuren nicht zur Fortsetzung dieser Befriedungsaktion ermutige. Immerhin, es hat doch viel zu bedeuten, daß in Frankreich, dem Frankreich, das soviel erlitten hat, für die Milde gekämpft wird.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung