6660122-1960_01_07.jpg
Digital In Arbeit

AI Capone, Dillinger und Erben

Werbung
Werbung
Werbung

Betrug aus Gewinnsucht, Einbrüche aus Not, Mord aus Eifersucht: diese und viele andere Verbrechen, für die die zivilisierte Gesellschaft den Gesetzesübertreter mit zeitweiliger oder endgültiger Ausschaltung aus ihrem normalen Leben bestraft, haben kaum jemals etwas mit der Nationalität des Betreffenden zu tun.

In den Vereinigten Staaten hat sich, neben den „privaten“ Verbrechen der eingangs erwähnten Art, in der Tat so etwas wie ein autonomer Bezirk der Gesetzlosigkeit entwickelt, von dem aus bestimmte, vom Gesetz unter Strafe gestellte Handlungen geplant und überwacht, abgeschirmt und, eventuell unter Anwendung von Gewalt, gegen Verfolgung verteidigt werden: die organisierte Unterwelt der Großstädte, mit Querverbindungen ins Land und Rekrutierungskontakten zu den Bezirken der Jugendkriminalität. „G a n g-1 a n d“ und das ihm gewissermaßen vorgelagerte Gelände der „Youth Gangs“ stellen so in gewisser Hinsicht, obwohl auch in anderen Ländern sich Ansätze einer ähnlichen kriminellen „Gegengesellschaft“ finden, ein typisch amerikanisches soziologisches Phänomen dar.

So wurde der Typ des Gangsters neben dem des der Vergangenheit angehörenden Pioniers der Wildwestgeschichten nicht ganz zu Unrecht in den sattsam in Europa gezeigten „zeitgenössischen“ Kriminalfilmen als „typisch für Amerika“ empfunden.

Aber so, wie er dort geschildert wird, gehört auch er bereits der Vergangenheit an. Die Aera von AI Capone, Dillinger, von „Murder I n c o r p o r a t e d“ ist vorbei. Die Chefs der einzelnen Großstadtorganisationen „G a n g-lands“ haben bereits vor geraumer Zeit eingesehen, daß die Bandenkriege rivalisierender Verbrechergruppen gegeneinander nicht nur unnötig ihre Reihen lichten (die meisten Toten gab es in den Jahren der autonomen Gangs bei Zusammenstößen sich bekämpfender Gruppen, nicht bei Ueberfällen auf anständige Bürger.'), sondern daß vor allen Dingen die Panik, die das serienweise Liquidieren, der Konkurrenten im Maschinengewehrfeuer des „Siegers“ in der Oeffentlichkeit erregte, unnötig oft die Abwicklung der eigentlichen profitbringenden Geschäfte während der Prohibition, Alkoholschmuggel, heute zum Beispiel Rauschgifthandel, Organisation der Prostitution und überhaupt die „Racket s“, empfindlich störte.

So wurde eines Tages — die Einzelheiten sind noch heute im Dunkeln —, zuerst innerhalb begrenzter Territorien, der „Bruderkampf“ nach langen Verhandlungen eingestellt, wurden die „Arbeitsgebiete“ aufgeteilt. Eine Föderation der Einzel g a n g s entstand, die* später, wie die Autoritäten behaupten, im nationalen Rahmen ausgebaut wurde und zur Begründung einer festen Arbeitsgemeinschaft innerhalb der wichtigsten Unterweltverbände geführt hat, die man heute als „Das S y n d i k a t“ bezeichnet, dessen Kern die sogenannte „M a f i a“ bildet.

Geschossen wird hier nur noch, wenn es unbedingt notwendig ist, das heißt, wenn man etwa Grund hat, Verrat befürchten zu müssen. Sonst ist hier — meist von Leuten, denen man noch heute aus früherer Zeit Morde nicht nachweisen kann, aber auch von „Racketeers neuen Typs“ — ein gigantisches Geschäftskartell der Verbrecherwelt aufgebaut worden. Dieses Syndikat hat nichts mit Einbrüchen, Banküberfällen zu tun. Solche „Kleinigkeiten“ überläßt man den „Amateuren“. Es organisiert in großem Maßstab Lotterien und Glücksspiele — beides ist verboten —, kontrolliert den Vertrieb von Narkotika und das illegale Bordellwesen, hat sich Einfluß in einer Reihe von Gewerkschaften verschafft (nicht umsonst hat man kürzlich ein spezielles Gesetz gegen sie in den Gewerkschaften machen müssen!) und hat zum Beispiel seine Emissäre in den verschiedensten Sparten der Vergnügungsindustrie.

Diese raffiniert durchorganisierte Unterweltgruppe, deren zirka 60 Leute umfassende „Generalversammlung“ vor kurzem durch einen reinen Zufall die Aufmerksamkeit der föderalen Behörden erregte, repräsentiert nicht nur Milliardenumsätze im Jahr (wie das Kefauver-Komitee seinerzeit feststellte, werden allein 20 Milliarden bei der illegalen Bereitstellung von Möglichkeiten zum Glücksspiel aller Art „herumbewegt“!): sie hat es verstanden, so etwas wie eine „unsichtbare Regierung“ hinter mannigfachen offiziösen und offiziellen Stellen zu etablieren, wie vor einiger Zeit Paul W. Williams, der Staatsanwalt für den südlichen Distrikt des Staates New York, öffentlich feststellte.

Er erklärte: „In diesem Lande haben wir heute eine zweite Regierung, die über das ganze Land ausstrahlt und auf parasitäre Weise die demokratischen und moralischen Grundlagen des Landes unterhöhlt. Diese unsichtbare Regierung hat Millionen von Dollar zur Verfügung. Sie erläßt ihre eigenen Gesetze. Sie erzwingt die Durchführung ihrer Anordnungen. Sie führt ihre eigenen Hinrichtungen durch. Sie zieht ihre eigenen Steuern ein. Sie setzt sich zusammen aus den größten Verbrechern des Landes und verfügt als Verbündete über einige Beamte des öffentlichen Dienstes, die der Versuchung von Geld und Macht erlagen, und kurzsichtige Wirtschafts- und Gewerkschaftsführer. Es ist ein verrottetes und bösartiges Reich, aufgebaut auf Geldgier, Mord und Gewalttätigkeit!“

Auch wenn man unterstellt, daß hier — um die Oeffentlichkeit aufmerksam zu machen — etwas dramatisiert wird: das Syndikat hat schließlich die ausgedehntesten Untersuchungen von drei Senatskommissionen ungebrochen überlebt! Stets hat man einzelne Glieder der Organisation verhaftet, aber nie das Geheimnis um seine Führung zu lüften vermocht. Kein Festgenommener hat Aussagen gemacht: „Verräter verfallen der Feme“, die Losung aller Geheimbünde, hat ihren Schrecken nicht verloren. Nicht zufällig sind seinerzeit, als der spätere Gouverneur Dewey als Staatsanwalt diese Gruppen zu vernichten versuchte, Zeugen unter strengster Polizeihaft auf unerklärliche Weise umgekommen ...

Nachdem im Jahre 1951 das Kefauver-Komitee begonnen hatte, zumindest Licht in bestimmte Teilaktivitäten der Mafia zu bringen, und das Daniel-Komitee 1955 mit den seinen Untersuchungen folgenden neuen scharfen Gesetzen gegen den Rauschgifthandel — dem Hauptgeschäft der Unterwelt — ihre Macht zu brechen versuchte, hat Senator John McClellon, der Vorsitzende des 1958 zum drittenmal den Kampf gegen sie aufnehmenden Senatsausschusses, noch einmal erklären müssen: „Das Verbrechersyndikat, das wir als die Mafia identifiziert haben, stellt eine arrogante Herausforderung der Regierung und der anständigen Bürger dieses Landes dar!“

Seine Existenz wurde erneut unter Beweis gestellt, als die — bereits erwähnte — „Generalversammlung“ führender Syndikatsleute Ende 1957 von der Staatspolizei ausgehoben worden war. Das vom Staat New York eingesetzte Untersuchungskomitee stellte mit dürren Worten fest: „Die Zusammenkunft in den Apalachins am 14. November 1957 beweist eindeutig, daß in diesem Lande eine aktive Organisation von Verbrechern existiert, deren Tätigkeiten sowohl im nationalen wie internationalen Rahmen liegen.“

Die amerikanische Verbrecherwelt ist keineswegs, wie man gelegentlich behauptet, direkt ein Produkt der Einwanderung, das heißt, daß sie etwa sich rekrutiert aus dem Abhub europäischer Großstädte, die man dort wohlweislich nach der Neuen Welt abgeschoben hat. Die Immigrationsgesetze enthalten so strikte Bestimmungen, daß kaum jemals vorbestrafte oder zweifelhafte Individuen dem Netz ihrer Befrager entgehen. Aber indirekt hat die Einwanderung — und zwar wieder eigentlich nur da, wo auch sie ein Gruppenphänomen ist — dennoch bis zu einem gewissen Grad mit bestimmten Verbrechen, zum Beispiel auch mit der Jugendkriminalität, zu tun: insofern nämlich, als die verschiedenen Wellen zahlenmäßig größerer Immigrantengruppen, großenteils zuerst einmal unter armseligen Verhältnissen, unter schlechten Wohnbedingungen, ghettoartig in bestimmten Gegenden zusammengedrängt, sich niederlassen mußten, wo sie, oft der Sprache nicht mächtig, aus Not und Unsicherheit leichter als Alteingesessene kriminell werden. Schichten, die gestern noch arm und unruhig waren, verlieren mit steigendem Wohlstand fast immer den Anreiz zum (zumindest sozial begründeten) Verbrechen. Wenn den Statistiken zufolge gelegentlich der Eindruck entstand, daß Neger und Puertoricaner am stärksten anfällig für Verbrechen sind, so hat das eindeutig damit zu tun, daß es sich dabei eben um die am wenigsten sozial, gesellschaftlich und erziehungsmäßig an die Umwelt angeglichenen Schichten handelt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung