Die Eingliederung von 12 Millionen Vertriebener in ein zerstörtes, widernatürlich verkleinertes und gevierteiltes Deutschland ist eine Aufgabe, die über die Leistungskraft einer Generation weit hinausgeht. Sie wird die Geschicke nicht nur Deutschlands selbst in den nächsten Jahren bestimmen, sondern wird über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus wirken, und et muß alles darangesetzt werden, daß sie sich nicht in der Gestaltung eines einheitlichen Europa als ein Faktor der dauernden Unruhe störend und hemmend geltend macht.
Der Prozeß der Inkorporierung ist, wenn man so will, in der sowjetischen Zone am besten gelungen: das allgemeine Elend hat den Unterschied zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen verblassen lassen. Wer sich unter der bodenständigen Bevölkerung eines eigenen Besitzes oder einer selbständigen Position rühmen konnte, ist enteignet und entweder zum Angestellten eines volkseigenen Betriebes, zum Neusiedler oder zum Hilfsarbeiter umgestempelt worden. Die allgemeine Gleichheit läßt sich an ihrer untersten Grenze stets am raschesten erreichen. Zusammenschlüsse unter den Schlesiern, Pommern und Ostpreußen, die im Winter 1945/46 über die Oder und Neisse gekommen waren, sind streng verboten. Der Daseinskampf ist so hart, daß kaum einer sich seines Schicksals, seiner Herkunft und seines Zieles bewußt werden kann. Das Flüchtlingsproblem in der sowjetischen Zone wird dort, wenn keine einschneidenden Änderungen eintreten, gelöst werden auf der Grundlage der sogenannten klassenlosen Gesellschaft, wie sie allen totalitären Staaten unter Moskauer Führung entspricht.
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Wenn in den Westzonen das Flüchtlingsproblem der harten Behandlung des Doktor Eisenbarth in dieser Weise noch nicht ausgesetzt worden ist, so liegt dos gewiß zu einem Teil an den weniger drakonischen Auffassungen vom wirtschaftlichen und sozialen Leben, die hier herrschen, zum anderen aber nicht minder auch an der verschiedenen Auffassung vom Wesen und Wert des Menschen. Das bedeutet zwar noch nicht ohne weiteres eine in breiter Front sich vollziehende ausgewogene wirtschaftliche Besserstellung: noch immer leben von den 8 Millionen Vertriebenen in Westdeutschland mindestens Hunderttausend in Lagern, noch immer gibt es, wie zum Beispiel entlang der tschechischen Grenze im Bayrischen Wald, in jenen einsamen und entlegenen Tälern ohne jede Industrie, Hunger und eine beängstigend ansteigende Arbeitslosigkeit; das bedeutet aber andererseits auch, daß noch nicht alle jene Möglichkeiten endgültig verrammelt sind, die zur Eröffnung eines menschenwürdigen Daseins führen sollen, und daß an der Erschließung dieser Möglichkeiten gearbeitet wird.
Der schöne Vorzug der Christenheit ist es, daß sie vor allem das Problem der Vertriebenen in seiner vollen Spannweite der leiblichen wie der seelischen Nöte sieht. Die Kirche kann sich nicht begnügen mit Zuständen, in denen gegen den leiblichen Hunger allein und gegen die Obdachlosigkeit einigermaßen befriedigend Vorsorge getroffen worden ist. Sie sieht die seelische Not in ihrer unlöslichen Verquickung mit der leiblichen, und sie drängt und strebt nach Zuständen, in denen die seelische und sittliche Verkommenheit mindestens ebenso nachhaltig überwunden ist wie die bedrohlichen Erscheinungen körperlicher Mängel. Die Kirchen waren es auch, die von allem Anfang an, längst ehe an eine auswärtige Tätigkeit des neugeschaffenen Weststaates auch nur zu denken war, ihre internationalen Verbindungen benützt hatten, um unablässig auf den Ernst des Flüchtlingsproblems auch in der ökumenischen Welt hinzuweisen. Der Leiter des Hilfswerks der evangelischen Kirchen in Deutschland, Doktor Eugen Gerstenmaier, war schon im Jahre 1947 von Präsident Truman empfangen worden und hatte ihm vor allem über dieses Problem Bericht erstattet. Zwei Fragen waren es, auf die die Kirchen mit jener Unbefangenheit des Blickes, die im Gegensatz zu den bloßen Politikern den Vertretern der Christenheit eigen zu sein scheint, von Anfang an energisch hingewiesen hatten: erstens darauf, daß die Ursachen zu jenen Zuständen, die heute ein dauernder Unruheherd im Herzen Europas zu werden drohen, auch in den Beschlüssen von
Potsdam ihre Ursache haben und zweitens darauf, daß die Unterscheidung zwischen DPs'und deutschen' Vertriebenen im Blick auf das gleiche Schicksal beider Gruppen nur sehr bedingt anerkannt werden kann und daß es mithin nicht recht ist, der Gruppe der DPs, die anfangs 1,5 Millionen umfaßte, alle zusammengefaßte Hilfe der IRO zuzuwenden und gleichzeitig die etwa sechsfache größere Gruppe deutscher Vertriebener allein der Fürsorge deutscher Stellen zu überlassen. Die Vorschläge gingen von Anfang an darauf hin, auf allen Wegen, die zu einer wenigstens teilweisen Lösung der Probleme zu beschreiten wären, auf dem Wege der Auswanderung ebenso wie auf dem der Ansiedlung, auf dem Gebiet der 'gewerblichen Niederlassung ebepso wie auf dem der Übernahme in caritative Anstalten, zu einer möglichsten Gerechtigkeit zu kommen.
Diese in aller Stille geschehenen vorbereitenden Arbeiten, bei denen das Hilfswerk der evangelischen Kirchen in Deutschland die Unterstützung der im ökumenischen Rat zusammengefaßten Kirchen der Alten und Neuen Welt in großem Umfang erfahren hat, bilden die Erklärung dafür, daß Bundeskanzler Dr. Adenauer dem Leiter des evangelischen Hilfswerks und Bundestagsabgeordneten Dr. Gerstenmaier vor kurzem den Auftrag gab, das Flüchtlingsproblem auf der internationalen Ebene anhängig zi machen und mit allen dafür geschaffenen und dafür zuständigen ausländischen Organisationen die Verbindung aufzunehmen. Man anerkannte damit von der Seite des jungen Staates, daß die Kirchen eine Lücke auszufüllen versucht hatten, die durch den Mangel aller staatlichen Instanzen notwendigerweise hatte entstehen müssen. Sie hatten das getan in voller Freiheit und Freiwilligkeit, und keinem anderen Gebote als dem, unter dem der barmherzige Samariter gehandelt hatte. Das Hilfswerk der evangelischen Kirchen in Deutschland war schon im Jahre 1945 mit dem besonderen Blick auf die Flüchtlingsnot geschaffen worden. Sein Aufbau und seine Organisation entsprechen etwa dem, was die Katholiken unter dem Namen Diö zesancaritas verstehen, mit der die meisten Aufgaben in enger Fühlungnahme gemeinsam verfolgt werden. Während sich in der „Inneren Mission“ alle jene Anstalten, Stiftungen und Verbände vereinigen, die ihr Wirken in einem fest um-rissenen Aufgabenkreis als eigene Rechtspersönlichkeiten durchführen — was etwa der katholischen Verbandscaritas entspricht — bildete das Hilfswerk seinem Aufbau und seiner Idee nach von Anfang an eine diakonische Funktion der •rschiedenen Landes- und Freikirchen des deutschen Protestantismus. Absicht dieser Gründung war es, die Forderung des praktischen Christentums bis in die letzten Gemeinden hinein zu verwirklichen und der i e 1 beklagten Passivität der Laien die Pflichten eines Christen zu hilfreicher Tat ganz k o/n kret und manchmal auch drastisch vor Augen zu führen.
Modell Espelkamp
Daß es dabei nicht in der Macht der Christenheit stand, das Flüchtlingsproblem in seinem ganzen Umfang zu lösen, war immer deutlich gewesen. Indessen erwies sich hier die Idee der Schaffung sogenannter Modelle ab außerordentlich fruchtbar. Gab es auch keine Generallösung, so gab es doch die Möglichkeit, Beispiele nicht nur vorzuschlagen, sondern selbst zu schaffen, die dann dem Staat ebenso wie jedem anderen als Vorbild dienen konnten. Do bekannteste Modell, das das Hilfswerk geschaffen hat und das sich im Inland wie im Ausland großer Aufmerksamkeit erfreut, ist der Ausbau der ehemaligen Munitionsanstalt Espelkamp in Westfalen zu einer gewerblichen Siedlung, die in einer einheitlichen Planung für 1 0.0 0 0 Einwohner vorgesehen ist. Der vierte Teil dieser neuen Flüchtlingstadt war für caritative Anstalten, für Altersheime, Waisenhäuser und Heime für Kriegsversehrte bestimmt worden. Die Industrien und Gewerbe, die man nach Espelkamp zog, um den vielen ausgezeichneten Handwerkern und Gewerbetreibenden unter den Flüchtlingen zur Ausübung des ihnen gemäßen Berufes zu verhelfen, waren zum Teil ausgewählt worden unter dem Gesichtspunkt, ob sie die Möglichkeit bieten würden, zugleich auch den Insassen dieser Heime, den Blinden ebenso wie den Amputierten, eine Arbeitsstätte zu vermitteln. Stiftungen, durch die sich ausländische Kirchen beteiligten, hatten zur Folge, daß •0ann auch der Staat Nordrhein-Westfalen große Kredite für den Ausbau der Siedlungen zur Verfügung stellte. Es gibt in Westdeutschland noch viele solcher früheren Munitionsanstalten, deren Bauten und Gelände für solche Siedlungen geeignet sind. Der Anfang von Espelkamp hatte zur Folge, daß nun an mehreren Orten die Möglichkeiten eines Ausbaues geprüft werden.
Die Diaspora
Daß sich mit den Flüchtlingen auch die konfessionelle Gliederung Deutschlands völlig verschoben hat, ist der Öffentlichkeit in vollem Umfang noch gar nicht zum Bewußtsein gekommen. Die katholische Diaspora in den protestantischen Gebieten des Nordens und die evangelische Diaspora in Bayern und Südbaden sind beide etwa um das Zehnfache angewachsen. Beide Kirchen sehen sich bei dem Ausbau der Seelsorge wie der Hilfstätigkeit vor denselben schwierigen Aufgaben. Die letzten Probleme liegen freilich gerade dort, wo konfessionelle Unterschiede dazu kommen, in der Überwindung von Spannungen zwischen den „Neubürgern“ und der ansässigen Bevölkerung, die im allgemeinen mit kühler Reserve, manchmal aber auch mit allen Anzeichen der Versteinerung und Hartherzigkeit den neuen Ankömmlingen gegenüberstand. Die Phantasie der Menschen reidit nicht zu der Vorstellung, daß es ihnen um ein Haar ganz ähnlich hätte gehen können und daß es sich hier um einen Tatbeweis des sonst so gerne beteuerten Christentums handeln müsse. Das Christentum, das allein im Gottesdienstbesuch zum Ausdruck kommt, kann in einer Zeit wie der heutigen keine Glaubwürdigkeit mehr beanspruchen. Die Pädagogik des Hilfswerks geht dahin, gerade dkrüber in den Kirchen-gemeinden keinen Zweifel zu lassen und unablässig zu jener Hilfe aufzurufen, die ohne Unterschiede der Rasse, der Konfession und der politischen Überzeugung allein-nach dem Gesichtspunkt der vordringlichen Notwendigkeit und Bedürftigkeit geleistet wird. Auch ist es dem Christenglauben eigen, den Menschen, der der Hilfe bedarf, nicht allein als Objekt dieser Hilfe zu sehen, sondern ihm möglichst bald die Würde des Subjektseins zurückzugeben. Das Hilfswerk hat in der weiteren Verfolgung dieses Gedankens auf landsmannschaftlicher Grundlage eigene Vertretungen der Flüchtlinge geschaffen. Es waren die sogenannten „H ilfskomitee s“, die je nach der Abstammung der Flüchtlinge für ihre verschiedenen Gruppen ins Leben gerufen worden sind. So'gibt es Hilfskomitees für die vertriebenen Evangelischen aus Polen, für die Siebenbürger Sachsen, für die Sdtlesier, für die Banater Schwaben, für die Bessarabier und für die Lutheraner aus den baltischen Staaten, die Nachkommen der einstigen Baltendeutschen. Die westlichen Besatzungsmächte hatten diese landsmannschaftliche Gliederung gestattet unter der Voraussetzung, die streng eingehalten wurde, daß sie sich auf die eigentlich kirchlichen Aufgaben zu beschränken hätten. Abgesehen von dem psychologischen Moment der eigenwüdisigen und nicht von außen her aufgedrängten Organisation war auch die Rechtskonstruktion dieser Hilfskomitees von großer Bedeutung. Die evangelischen Kirchenkörper im Osten waren durchwegs Körperschaften des öffentlichen Rechtes gewesen, und es war keineswegs ausgemacht, daß sie durch die Vertreibung ihrer Glieder diesen Charakter verloren haben. Die Hilfskomitees wurden im Einvernehmen mit den meist ebenfalls vertriebenen Kirchenleitungen und mit ihrer ausdrücklichen Bevollmächtigung eingesetzt. So wurde die Kontinuität des Rechtes hergestellt, die durch die brutale äußerliche Gewalt abgerissen schien.
Ob freilich der eigentliche psychologische Effekt dieser Gründungen erreicht ist, wird erst die Zukunft zeigen müssen. Denn die Klagen reißen nicht ab, daß die Vermassung, Entwurzelung und Proletarisierung der Flüchtlinge sehr viel schneller vor sich geht, als selbst die nüchternsten Beobachter dies erwartet hätten. Während die alte Generation die Kräfte der menschlichen und seelischen Haltung noch von Erinnerungen zu nähren vermag, verblassen diese in den Herzen der Jüngeren, die kaum mehr die alte Heimat im Gedächtnis haben. Wer aus eigener Kraft zu einer neuen Existenz kommt, trachtet danach, unterzutauchen und ist dann oft auch nicht mehr recht für den Gedanken einer bleibenden Verantwortung an seinen heimatlichen Leidensgenossen zu gewinnen. So gilt die Forderung nach einer dauernden Betätigung der Caritas nicht zuletzt auch den Flüchtlingen selbst, und es zeigt sich immer deutlicher, daß das soziale Gewissen verkümmert und erstirbt, wenn es nicht in einem religiösen Gewissen seinen ständigen Nährboden findet.
Dieser Gedanke ist in dem Hauptvortrag des Bochumer Katholikentages von Professor Egenter mit großem Nachdruck ausgeführt worden. Er stellt eine jener Erkenntnisse dar, die der ganzen Christenheit gemeinsam 6ind.