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Strukturwandel der modernen Familie

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Unter der Führung des Ordinarius für Soziologie an der Universität Wien, Universitätsprofessor Dr. August M. Knoll, werden zum Studium aktueller soziologischer Probleme in jüngster Zeit neu erarbeitete Methoden eingesetzt. Obwohl die Auswertung der Untersuchungsergebnisse noch im Gange ist, teilt im folgenden der Leiter der Sozialwisscnschaftlichcn Forschungsstelle an dieser Lehrkanzel, Dr. L. Rosenmayr, auf Einladung'der „Furche“ einige Vorergebnisse und Arbeitshypothesen mit. Die Furche

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Unter der Führung des Ordinarius für Soziologie an der Universität Wien, Universitätsprofessor Dr. August M. Knoll, werden zum Studium aktueller soziologischer Probleme in jüngster Zeit neu erarbeitete Methoden eingesetzt. Obwohl die Auswertung der Untersuchungsergebnisse noch im Gange ist, teilt im folgenden der Leiter der Sozialwisscnschaftlichcn Forschungsstelle an dieser Lehrkanzel, Dr. L. Rosenmayr, auf Einladung'der „Furche“ einige Vorergebnisse und Arbeitshypothesen mit. Die Furche

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Fünfundsiebzig Jahre nach der Forderung W. H. Riehls, daß „die Lehre von der Familie“ als ein „selbständiger Wissenschaftszweig“ bearbeitet werden müsse, ist die Soziologie heute so weit, daß sie für west- und mitteleuropäische Gesellschaften Theorien über die Familie im Lichte von Forschungsergebnissen zu diskutieren beginnt.

Warum konnte der systematische Ausbau dieser Wissenschaft von der Familie erst so spät einsetzen? Die politischen Kämpfe und Umstürze im Sog der industriellen Revolution haben bis tief in die Mitte des 20. Jahrhunderts den stilleren Sektor der Familie beiseite gedrängt, obwohl die Familienprobleme unter dem Einfluß von Technisierung und Verstädterung schon vor 100 Jahren aufgeschienen waren. Die alte europäische Einheitsgesellschaft zerfiel und begann sich neu um zwei Pole zu kristallieren. den Beruf einerseits und das Privatleben anderseits. Der Familienvater, in Bauerntum und Gewerbe Oberhaupt der wirtschaftlichen Produktion, wurde zum Versorger und war damit den Unsicherheiten der außerfamilialen Kräfte des frühkapitalistischen Wirtschaftssystems unterworfen. Die Familie als Produktions gemeinschaf t hörte auf zu bestehen und Motive für eine weitere Bindung waren bestenfalls das Zusammenlegen des Erwerbs ihrer einzelnen Mitglieder, zumeist aber nur gemeinsamer Konsum (G. Mackenroth).

Die Familie hat in den letzten 100 Jahren einen Aufgabenbereich nach dem anderen abgetreten. Der Soziologe R. Maclver sagt hierzu: „Dadurch, daß die Familie eine Funktion nach der anderen verlor, fand sie ihre eigentliche.“ Worin besteht diese? Im Aufbau eines wechselseitigen Schutz- und Austauschverhältnisses, das emotionelle Sicherheit und Stabilität in der kontaktschwach gewordenen Massenzivilisation gewährt. Durch den Funktionsverlust auf der einen Seite wurde die Familie erst fähig, als „Gruppe eigener Art mit dem Charakter der Intimität“ (R. König) jene Bedürfnisse zu erfüllen, die durch die zunehrnende Arbeitsteilung in der Produktionsstätte erwuchsen: die Lln-anschaulichkeit und Unpersönlichkeit der meisten' Hantierungen in der Arbeitswelt wecken den Wunsch nach persönlicher Wechselbeziehung, dem „Verhältnis von Angesicht zu Angesicht“ (R. H. Cooley). Das Bedürfnis nach einem Lebensbereich entsteht, der gefühlsmäßig befriedigt und als Schutzzone erlebt werden kann. Auch französische Sozialforscher meinen, daß sich ein Wandel im Familienzusammenhalt anzuzeigen beginne: an die Stelle der Arbeitsintegration der alteuropäischen, patriarchalisch strukturierten Familie tritt die vom Partnerschaftsgedanken getragene, gefühlsintegrierte Personengemeinschaft*. Die Binnenkonsolidierung der Familie als Reaktion auf die Gefährdung des einzelnen durch die sozialen Schicksale des zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit, von der H. Schelsky spricht, vollzieht sich, westdeutschen Untersuchungen nach, schon zugunsten des neuen Familientyps der Gefühlsintegration.

Zur Erforschung von Wiener Familienproblemen hatte sich die Sozialwissenschaftliche Forschungsstelle die Frage gestellt, welcher Familientyp in den verschiedenen Gruppen und Schichten der Wiener Bevölkerung vorherrsche und in welcher Form dieser Typ jeweils ausgeprägt sei. Um diese Frage zu klären, wurden Erhebungen und Untersuchungen in den Wohnungen der Stadt Wien in einem Ausmaß und in einer Art vorgenommen, wie dies für ein Erstlingsprojekt geeignet erschien, dessen Ergebnisse gesicherte Rückschlüsse auf genauer bestimmbare Kreise der Wiener Gesellschaft gestatten sollen. Die Schwierigkeit sozialwissenschaftlicher Forschung in Wien liegt darin, daß die persönliche und soziale Lebensweise der Bevölkerung dieser Stadt in hohem Maß individualisiert ist Nur ein sehr feinfühliges, über bloße Erforschung der Meinungen hinausgehendes Eindringen kann der Wirklichkeit der Familien- und Heimkultur und den Wünschen und Gewohnheiten gerecht werden, die auf diesem Sektor bestehen. Die sozialwissenschaftliche Arbeit nimmt darum in Wien andere Aufgaben auf sich als die amerikanische und teil-

* Auch die katholische Lehre von der Familie befürwortet das partnerschaftliche Austauschverhältnis (Leclerc.-David, Die Familie, Herder-Verlag, 1955, S. 300 f.) weise auch die deutsche Soziologie, die mit mehr Berechtigung mit allgemeinen Typen' arbeiten und nicht in dem Maße wie wir die Tatsache berücksichtigen müssen,' daß der Unterschied zwischen dem, was die Menschen sagen, und dem, was sie wirklich denken und tun, mitunter beträchtlich ist.

Unsere Forschungen sind noch im Gange; doch können gewisse Arbeitshypothesen und Erklärungsversuche bereits aufgestellt werden. So überrascht die Diskrepanz zwischen der' überwiegend vertretenen Meinung, daß eine gewisse Gleichrangigkeit innerhalb der Familie für moderne Verhältnisse vorbildlich sei, und dem tatsächlichen Verhalten- im Familienverband. Eine Spezialuntersuchung über die Freizeit-verbringung ergab, daß nur 50 Prozent der in diese Llntersuchung einbezogenen Männer gemeinsam mit ihren Gattinnen die Freizeit verbringen; die übrigen ziehen den Umgang mit Menschen vor, die sie „zufällig treffen“ oder von ihrer Arbeitsstätte her kennen. Dies scheint darzutun, daß die Frauen keineswegs allgemein als volle, gleichwertige Partner angesehen werden.

Auch eine andere Tatsache gibt zu denken. Die Männer zeigen sich in höherem Grad der Frauenarbeit abgeneigt als die Frauen selber und wollen die Frau auf die Familie beschränkt sehen. Entgegen der Forderung nach Gleichstellung von Mann und Frau tritt hier stärker eine patriarchalische Tendenz hervor. Aus diesen und ähnlichen Ergebnissen müssen wir darauf schließen, daß von seiten der Männer Familienerwartungen beträchtlichen Ausmaßes zwar bestehen: sie wünschen, die Frau möge im Heim und in der Familie wirken. Diese Erwartungen sind aber auf ein passives Verhalten der Männer innerhalb ihrer Familien begründet; ihre Sozialinitiative ihren Frauen gegenüber ist gering. Bedrängt von der Beanspruchung durch den immer stärker auf Produktion sich ■ einstel-. lenden Arbeitsrhythmus, scheinen sie ihre Frauen einseitig als mütterliche Schutzpersonen anzusehen.

Für die Frauen müssen sich hieraus Spannungen ergeben. Dies drückt. sich' in folgenden Tatsachen aus:

1. Die Frau strebt wesentlich stärker, zum beruflichen Leben, als dies den ■ Männern angemessen zu sein scheint. Die Hälfte aller kinderlosen Frauen und etwas weniger als die Hälfte der Frauen mit einem Kind sprachen sich für das Berufsleben aus. Erst beim zweiten Kind zeigt sich ein Umschwung. 81 Prozent der Frauen mit zwei Kindern wollen sich auf Familie und Heim konzentrieren. Die vollere Begründung einer Familie dürfte also erst durch das zweite Kind gewonnen werden.

2. Das Interesse der Frauen an einem Sied-lungs- oder Einfamilienhaus in dem kinderfreundlichen Milieu außerhalb des vollverbauten Stadtgebietes ist entscheidend geringer als das der Männer.

3. Aus Untersuchungen über die Motive der Bindung an das Heim geht hervor, daß für die Frauen der Begriff der Familie als Inhalt der Privatsphäre noch mehr zurücktritt als bei den Männern.

Wir haben also Grund, anzunehmen, daß die Familienfreudigkeit der Frauen relativ schwach und der Grund dafür unter anderem die geringe Initiative der Männer ist, wirksame und innige Beziehungen gegenseitigen Verständnisses zur Frau zu schaffen. Die innere Grundlegung- der Familie für die Frauen und Mütter ist vielfach mangelhaft, denn ihnen wird nicht genügend seelische Sicherheit und Wechselbeziehung geboten. So versuchen sie, Selbstsicherheit außerhalb von Heim und Familie zu gewinnen. Sie streben nach einer mehr anonymen Sphäre der Selbstbetätigung und erwarten vom Beruf Lln-abhähgigkeit sowohl in psychologischer wie ökonomischer Hinsicht. Als Folge dieser Einstellung finden sie auch weder Zeit noch Gelegenheit, die Familie aus einer mit Pflichten und Aufgaben verbundenen Institution in eine Einheit zu verwandeln, die Anerkennung und Befriedigung gewährt.

Wo liegen die Gründe für die Schwierigkeiten in der Bildung jener Familienmentalität, welche eine tragkräftige Grundlage für die Fortsetzung unserer Gesellschaft gewährleistet? Denn, i wie uns. die Volkszählung aus dem Jahre 1951 belehrt, es besteht eine solche Grundlage nicht. Von 209.556 zusammenlebenden Eheleuten in Wien, von denen der Mann weniger als 50 Lebensjahre zählte, hatten 42 Prozent kein, 37 Prozent nur ein Kind und bloß 16 Prozent zwei und 5 Prozent drei und mehr Kinder.

Wie sieht der Rahmen der Privatsphäre aus, in dem sich die Familie der bisher geschilderten Art darstellt? Greifen wir zuerst die Wohnung heraus. Auf Grund von Untersuchungen an über 3500' Wohnungen ergab sich, daß zwar der überwiegende Teil der Bevölkerung an seinem Heim hängt, daß aber 50 Prozent sofort bereit wären, ihre Wohnung zu tauschen, was im Grunde nicht erstaunlich ist, weil 83 Prozent aller Wiener Wohnungen Klein- und Kleinstwohnungen sind. Einerseits besteht also ein Vertrauensverhältnis zum Wohnort, anderseits wird dieses durch die in den tatsächlichen Verhältnissen begründete Unzufriedenheit unterminiert. So äußert sich ein Zwiespalt, der den Ortsbereich der Familie, die so sehr auf die Gegebenheiten der Gewohnheit und Vertrautheit aufgebaut sein muß, an der Wurzel bedroht.

Besondere Untersuchungen wurden von der Sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle über die Gründe der Beschränkung der Kinderzahl angestellt. Wohl gaben zunächst 80 Prozent der Untersuchten, deren Ehefrauen oder die selbst im Alter unter 45 Jahren waren, an, daß sie sich aus wirtschaftlichen Gründen kein oder nur ein Kind leisten könnten. Tiefergehende Befragungen darüber, welche Ursachen für den geringen Nachwuchs in der Stadt Wien allgemein maßgebend seien, ergaben jedoch bei einer sich auf mehrere Tausende erstreckenden Llntersuchung im November 1954 als neben den „wirtschaftlichen Gründen“ sehr häufig angeführte Motive die unstabilen weltpolitischen Verhältnisse, die Wohnverhältnisse und — insbesondere von alten Menschen über die jungen ausgesagt —' eine in der Folge des Krieges entstandene Genußsucht.

Will man die Einstellung der Wiener Bevölkerung zu Familien- und Gebärfreudigkeit hypothetisch zusammenfassen, so ergibt sich folgendes Bild: Mit Kriegsende war eine gewisse Erschütterung in der Selbstsicherheit der Menschen auch unserer Stadt gegeben. Eine Aufrichtung um ein nationales oder politisches Ziel war aus zweierlei Gründen schwierig: einmal, weil der Druck der Besetzung als außerordentlich lastend empfunden wurde, und zum anderen, weil insbesondere auf Wiener Boden die Formung eines national-österreichischen Bewußtseins den großen Schwierigkeiten der Komplexität unseres Charakters .gegenüberstand (H. Strotzka). Hier schob sich der Wunsch nach einem nun — nach Kriegsende — wieder möglich gewordenen sozialen Aufstieg ein. Der wirtschaftliche Erfolg, die vor allem auf dem Sektor der Freizeit sichtbar zu machende Erhöhung des Lebensstandards, war auch unter der Besetzung ein Weg zur Wiedergewinnung eines durch Jahre der Entbehrungen und Umbrüche erschütterten Selbstgefühls. Die Zeit der Kol-lektivisierung war vorbei, man konnte und wollte nun — aus vielen Gründen — nach der Stärkung des individuellen Selbstgefühls streben. Zudem lockte das Traumbild des amerikanischen und westeuropäischen Lebensstandards. Auch aus praktischen Gründen konnten sich aus dem Tiefpunkt, den der Zusammenbruch 1945 geschaffen hatte, nur die einzelnen hinaufarbeiten; nicht aber konnte sich eine zahlenmäßig stärkere Familie sichtbar am Aufstieg beteiligen. So ist der vielfach als „reaktiv genußsüchtig“ angesehene Wunsch nach radikaler Verbesserung des Lebensstandards, tiefer gesehen, ein Kampf um Wiedergutmachung im Sinne von Wiedergewinnung zerstörten und verlorenen Besitzes und Erbes.

Unter diesen Umständen ist das beträchtliche Ausmaß an innerer Konzentration, deren es für eine Umstellung auf die gefühlsintegrierte Familie bedarf, schwer zu leisten. Wird bedacht, daß zu der in Wien sich deutlich äußernden Neigung zu passiver Behaglichkeit und zur Verfeinerung von Genüssen, die an das Erleben an der eigenen Person unmittelbar gebunden sind, noch die vielen Formen der Reizüberflutung durch die moderne Vergnügungsindustrie kommen, denen vor allem die jungen Menschen ausgesetzt sind, so erkennt man bald, daß der Weg zu einer integrierten Familie modernen Typs an vielen Abzweigemöglichkeiten vorbeiführt. Die innere Bereitschaft, sich auf die gebundeneren Formen des Familienlebens zu konzentrieren und die damit gegebenen fixen Kosten auf sich zu nehmen, setzt entweder den Verzicht auf den heute für das persönliche Selbstgefühl so wichtigen sozialen Aufstieg voraus oder doch dessen grundlegende Modifikation. Auch die neue Form des egalitär-gefühlsintegrierten Familientyps bedarf der für jede Gemeinschaft nötigen Festlegung*, und gerade diese muß in einer auf Mobilität hin tendierenden Gesellschaft häufig als Last empfunden werden.

Von dieser ersten und unvollständigen Schau aus bietet sich das Bild einer Gesellschaft im Uebergang. Noch ist kaum mehr möglich als ein Arbeitsbericht; erst die weitere Befassung mit den Forschungsresultaten kann die notwendigen Aufschlüsselungen für einzelne soziale Gruppen ergeben: nur eine gründliche und verantwortungsbewußte Soziologie, zu der auch Einzelanalysen und Intensivforschung gehören, kann gewährleisten, daß der eingangs schon genannten starken Individualisierung in Wien genügend Rechnung getragen wird.

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