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Digital In Arbeit

Die Lücke im Sozialstaat

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In unserem Sozialstaat gibt es einen entscheidenden und sozialsten Personenkreis, der nach wie vor und relativ immer mehr schwer benachteiligt wird und im Zeitalter der Freizeitprobleme zu wachsender, fast pausenloser Arbeit verurteilt ist: die Mutter, die diesen Namen besonders verdient, die Mutter mehrerer Kinder.

Nach einer neuesten Statistik der Stadt Wien haben von den 15.260 im Jahre 1957 geborenen Kindern 8914, das sind fast 60 Prozent, eine erwerbstätige, also eine nur halbe Mutter. Fast die Hälfte dieser Mütter hat zwei, drei oder mehr Kinder.

Aber warum gehen sie einem außerhäuslichen Erwerb nach? Jagen sie einem gehobenen Lebensstandard nach? Nach einer gleichzeitigen Untersuchung wollen nur 13 Prozent dieser Mütter mit ihrem Verdienst ein Auto miterwerben. Ueber 80 v. H. arbeiten außerhäuslich, weil sie müssen, weil das kleine Einkommen des Mannes für die wachsende Familie nicht ausreicht, um zu einer angemessenen Wohnung (gewiß ein Grundbedürfnis der Familie) zu kommen oder um diese entsprechend einzurichten. Dabei geht es auch nicht um eine hypermoderne Einrichtung; nur ein Viertel dieser Mütter hat einen Staubsauger oder einen Kühlschrank, nur 4 Prozent haben eine Waschmaschine.

Bei den Müttern in klein- und mittelbäuerlichen Verhältnissen liegen die Dinge noch wesentlich schlimmer. Der Mangel an Arbeitskräften erniedrigt die Mutter im Bauernhaus zur Arbeitssklavin mit hundert und mehr Wochenstunden, ohne Urlaub und ohne Zeit zum Kranksein.

Aber das war doch immer so, sagen manche. Und früher gab es noch mehr berufstätige Frauen! Gewiß gab es für die Mutter der Kleinverdiener in Stadt und Land immer Arbeit in Menge. Aber heute, da die anderen Schichten und Klassen, die Männer und die Jungmänner so stark verkürzte Arbeitszeiten haben, wo vom Recht auf Urlaub, auf Freizeit in allen Zeitungen zu lesen steht, beginnt die Mutter erst zu fühlen, wie sehr sie vergessen und übergangen ist. Und dieses Gefühl (sie ist eine Fraul) belastet sie noch mehr als die viele Arbeit.

Und es gab auch früher Erwerbstätigkeit der Frauen und Mütter. Aber die Mutter im Bauernhaus, im eigenen Geschäft und im Kleingewerbe hatte doch ihre Kinder um sich, konnte sie selbst beaufsichtigen, weil sie nicht außerhäuslich tätig war. Außerdem gab es früher eine große Zahl billiger Helfer in fast allen Haushalten: Großmütter, unverheiratete Tanten, viele und treue Hausgehilfinnen. Heute ist sie oft außerhäuslich tätig vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein, und im Hause bleiben keine Ersatzkräfte, die außerhäuslichen Hilfen aber sind kostspielig und an vielen Orten nicht zu haben. So bleiben die Kinder oft sich selbst überlassen.

Man weist heute gern auf die positiven Auswirkungen der Berufsarbeit der Frau und Mutter hin. Dagegen stehen aber die physische und psychische Ueberbelastung der Frau, Erschöpfungen, Störungen der leibseelischen Harmonie, ständiges Gehetztsein mit dem drückenden Gefühl der Pflichtenkollision. Statistiken stellen fest, daß 65 Prozent mehr Arbeitsunfälle bei den verheirateten Frauen vorkommen als bei den unverheirateten. Fehl- und Totgeburten kommen bei den berufstätigen Müttern doppelt so oft vor als bei den Nur-Hausfrauen. 85 Prozent aller sozialversicherten Frauen und Mütter werden vor der Altersgrenze und oft recht früh arbeitsinvalid.

Es gibt auch positive Auswirkungen auf die Ehe: leichteres Hineindenken der Frau in die Berufssituation des Mannes, mehr Kameradschaft zwischen den Ehegatten, gepflegteres Aeußeres der Frau, Wegfall mancher Streitigkeiten über häusliche Finanzen. Doch muß man sofort dagegen melden, daß das eheliche Gespräch für die übermüdete Frau und bei ihrem Zeitmangel im Telegrammstil geschieht, daß die Gereiztheit zu- und die Bereitschaft zur intimen Begegnung abnimmt, daß die eheliche Treue im sehr gemischten Berufsmilieu oft schwer gefährdet ist und nicht selten zerbricht.

Für die Familie als Ganzes ergibt sich das Pro, daß mehr Geld im Haus ist, daß die anderen Familienmitglieder eher bereit sind, bei den häuslichen Arbeiten mitzuhelfen, daß die Kinder selbständiger werden; aber es nehmen auch die Haushaltskosten zu, die Sauberkeit der Wohnung, die Instandhaltung der Wäsche u. a. leidet, die Ersatzkräfte sind kostspielig und oft nicht zu haben. Schwerer wiegen jedoch die Ausfallserscheinungen im Seelischen: die Nestwärme fehlt für alle, die nervlich überlastete, Iärm-empfindliche Mutter erträgt die kindliche Unruhe nicht, sie hat keine Zeit, mit den Kindern zu spielen und auf sie zu hören, keine Zeit, das Vertrauen der Kinder, der kleinen und der großen, zu gewinnen, ihre seelische Entwicklung zu verfolgen; da viele gemütsmäßigen Bindungen fehlen oder vernachlässigt werden, nimmt die Stabilität des Familienlebens ab, die Familienfeste reduzieren sich auf Geschenke, die Gereiztheit und Unruhe der Mutter überträgt sich auf die ganze Familie; es folgt die Einschränkung der Zahl der Kinder mit allen moralischen und pädagogischen Auswirkungen; ausweglos ist die Situation bei Erkrankung von Familienangehörigen.

Man weiß heute zur Genüge um die negaJ tiven Auswirkungen der Abwesenheit der Mutter auf die Kleinkinder — und hier entstehen Schäden für eine ganze künftige Generation —, doch fast ebenso nachteilig wirkt sich die Erwerbstätigkeit der Mutter auch auf das Schulkind aus. Bezeichnend hierfür ist das Ergebnis einer Schulenquete: Bis zu 70 Prozent der Schüler der zweiten Züge der befragten Hauptschulen waren Kinder erwerbstätiger Mütter; daher also ihr mangelhafter Schulfortgang; denn der entsprechende Hundertsatz bei den Mittelschülern beträgt nicht einmal ein Drittel.

Sind schon die materiellen Vorteile der Erwerbstätigkeit der Mutter gar nicht sehr großartig, die menschlich-seelischen, die moralischreligiösen Nachteile sind für die Kinder, für die Frau, für die Ehe, für das ganze Volk kaum zu überschauen.

Und diese nachteiligen Folgen mehren sich noch wesentlich, wenn die Frau nur mit großer Unlust, etwa vom Manne dazu überredet, erwerbstätig wird oder wenn umgekehrt der Mann von der Berufstätigkeit der Mutter nichts wissen will. Erst recht multiplizieren sich alle schlimmen Folgen mit der Zahl der Kinder.

So hat der bekannte Soziologe S c h e 1 s k y völlig recht, wenn er den Konflikt zwischen inner- und außerfamiliärer Lebensaufgabe als das tiefste und wahrscheinlich folgenschwerste Dilemma der modernen Gesellschaft bezeichnet. Und dieses Dilemma spitzt sich noch dadurch wesentlich zu, daß, nach der festen Meinung aller zuständigen Wissenschaften, „die sozial wichtigste Aufgabe der Frau gerade in der modernen extravertierten Gesellschaft ihre Funktion als Mutter und Heimbewahrerin ist, hier, und nicht im Beruf und in der Wirtschaft, ist sie als Mutter und Gattin schlechthin unersetzlich, und der Bereich des Heimes ist für ihr eigenes Menschsein und Menschbleiben wesentlich“. (Wurzbacher-Speck.)

Herzzerreißend wird schließlich der Gewissenskonflikt jener besten Mütter unseres Volkes, die mehrere Kinder haben: Sie lieben ihre Kinder und freuen sich an ihnen und bieten schon damit ein ausgezeichnetes Erziehungsmilieu für sie. Aber weil sie diese wünschenswerte, gesunde Normalfamilie aufbauen wollen und damit den Willen zu einer eminent sozialen Leistung haben, kommen diese wertvollsten Frauen und Mütter mit ihren Familien in unserem , vielgepriesenen. Sozialstaat 4inter- die Räder. ..jiiÄ.I ajiäWiiijXiiniso bB!

Bleibt die Mutter nämlich bei den Kindern zu Hause, wie es ihre selbstverständliche Pflicht und auch ihr Wunsch und gutes Recht ist, wie es auch die Menge der anfallenden Arbeit bei drei Kindern erfordert, dann ist durch die Enge des väterlichen Einkommens, das bei den Arbeitern und Angestellten durchschnittlich 1600 bis 1800 Schilling monatlich beträgt, schon die standesgemäße Ernährung und Kleidung der Familie ein Problem. Bleibt die Mutter aber nicht bei ihren Kindern daheim und geht sie notgedrungen einem außerhäuslichen Erwerb nach, wird die Gefahr der Verwahrlosung der Familie noch viel größer, denn der Durchschnitt der Ehen und Familien vermag die Abwesenheit der Mutter schon gar nicht auszugleichen. *

Wenn man den Aufbau unseres Sozialstaates überschaut, klafft an dieser Stelle eine Lücke, die ebenso unsozial wie unmenschlich und für alle gefährlich ist.

Der erste Schritt einer Hilfe war die Kinderbeihilfe. Sie ist mehr biologisch ausgerichtet, denn sie kommt allen Kindern zu, ob sie gut oder schlecht betreut werden. Der zweite Schritt dieser Hilfe muß deswegen stärker eine pädagogische Note tragen und als monatliche Mutterbeihilfe jenen Müttern zukommen, die drei und mehr Kinder haben und die bei diesen Kindern zu Hause bleiben und damit eine wertvollste pädagogische Arbeit für das Volksganze leistenl Der Betrag muß so hoch sein, daß diese Zuhausebleiben auch bei den Kleinverdienern möglich wird. Diese Hilfe soll auf die kleinen Verdiener und auf die Mütter mit drei und mehr Kindern beschränkt bleiben, denn diese Familien fallen am stärksten unter das Existenzminimum. (Für die Jungpaare in ihren ersten Familiengründungsnöten müßte zur Ergänzung das längst versprochene Ehegründungsdarlehen verbunden mit dem Jugendsparen realisiert werden.)

Diese .Mutterbeihilfe hätte nicht .nur, eine linanziefle und wichtige, pädagogische Auswir-kungT sie wäre zugleich auch eine seelische Hilfe für die Mutter, der Ausdruck der öffentlichen Wertschätzung ihrer Mutterleistung in Haus und Kinderstube.

Diese Hilfe zu ermöglichen, müssen wir alle, die wir eine Mutter hatten, bereit sein, sonst werden unsere Muttertagsfeiern zur Lüge und zum Selbstbetrug. Mehr als die kostspieligen Autobahnen sind die Mütter „Straße in die Zukunft“. Mehr als das Bundesheer sind die Mütter Verteidiger unseres Landes I

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