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Wenn zwei sich streiten, leidet der dritte - das Kind

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Man spricht von den Rechten der geschiedenen Frau, von den Rechten des geschiedenen Mannes. Von den Kindern geschiedener Eltern ist meist am wenigsten die Rede. Und doch sind gerade sie der wirklich leidtragende Teil, weil sie sich noch in der Entwicklung befinden, weil sie dem bedrohlichen Ereignis der Trennung ihrer Eltern nichts entgegenzusetzen haben, weil die Schäden, die dabei hervorgerufen werden, oft ihr ganzes Leben bestimmen und manchmal irreparabel sind. Trotzdem hat die Zahl der Ehescheidungen in Österreich in den letzten fünf bis zehn Jahren rapid zugenommen. Waren es 1966 noch rund 8600 Scheidungen, wurden 1977 bereits über 11.600 gezählt. 1976 wurden mehr als 12.500 Kinder Scheidungswaisen, allein in Wien etwa 3200. Ihr Schicksal ist auf jeden Fall schwierig und problematisch. Die intakte Familie ist eben unersetzlich.

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Man spricht von den Rechten der geschiedenen Frau, von den Rechten des geschiedenen Mannes. Von den Kindern geschiedener Eltern ist meist am wenigsten die Rede. Und doch sind gerade sie der wirklich leidtragende Teil, weil sie sich noch in der Entwicklung befinden, weil sie dem bedrohlichen Ereignis der Trennung ihrer Eltern nichts entgegenzusetzen haben, weil die Schäden, die dabei hervorgerufen werden, oft ihr ganzes Leben bestimmen und manchmal irreparabel sind. Trotzdem hat die Zahl der Ehescheidungen in Österreich in den letzten fünf bis zehn Jahren rapid zugenommen. Waren es 1966 noch rund 8600 Scheidungen, wurden 1977 bereits über 11.600 gezählt. 1976 wurden mehr als 12.500 Kinder Scheidungswaisen, allein in Wien etwa 3200. Ihr Schicksal ist auf jeden Fall schwierig und problematisch. Die intakte Familie ist eben unersetzlich.

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Als besonders schmerzlich empfinden Kinder geschiedener Eltern den Verlust eines Elternteils. Meist ist es der Vater, weil Kinder häufiger der Mutter zugesprochen werden. Es kommt zu Verlustängsten, Trennungsängsten, die sich in vielen Symptomen äußern können: in nächtlichem Aufschreien, Bettnässen; das Kind klammert sich, selbst wenn es schon größer ist, an den noch verbliebenen Elternteil.

„Eine ganze Reihe von körperlichen Krankheiten ist auf psychische Ursachen zurückzuführen”, sagt Prim. Dr. Hans Zimprich, Leiter der psychosomatischen Abteilung für Kinder im Wiener Wilhelminenspital, „und hier gehören wieder Scheidungskinder zu den gefährdetsten.” Erbrechen, Durchfall, Magenschmerzen, Kopfschmerzen sind nur die häufigsten Symptome eines gestörten Seelenhaushaltes, und wenn der Arzt oder Psychologe dann weiterforscht, stößt er nicht selten auf zerrüttete Familienverhältnisse als Ursache dieses Krankheitsbildes. Als „psychosomatische Krankheit” wird das diagnostiziert, worunter immer mehr Kinder leiden und was als Zivilisationsphänomen immer mehr Beachtung gewinnt.

Das Kind, das entweder bei der Mutter oder beim Vater aufwächst, kommt zwar nach einer Zeit zermürbender und nervenaufreibender Streitereien, wie sie vor und während der Scheidung üblich sind, in eine gewisse Stabilisierungsphase, muß aber doch während der ganzen Zeit seiner Kindheit und Jugend sehr viel vermissen, die „andere Hälfte” und alles, was dazugehört. Sein ganzes Weltbild wird dadurch einseitig geprägt, entweder mütterlich oder väterlich, die andere Dimension geht weitgehend verloren. Ein Besuchsrecht, das meist nur mangelhaft ausgeübt wird, kann hier kaum einen Ausgleich schaffen.

Scheidungskinder sind meist unsicher in ihrer Haltung jenen Kindern gegenüber, die aus einer Vollfamilie stammen. Dafür sorgt schon jene Rollenverteilung, die dem Vater den außerhäuslichen, der Mutter den innerhäuslichen Bereich zuschreibt. Der Vater ist das Symbol für Mut, Stärke, Festigkeit, Tüchtigkeit, die Mutter für Liebe, Güte, Häuslichkeit. Es nützt einer kleinen Scheidungswaise wenig, wenn sie eine tüchtige, energische, tatkräftige Mutti hat. Sobald ein anderes Kind mit einem „Wart nur, der Vati wird’s dir schon geben” auftrumpft, wird sie irgendwo in der Ecke stehen.

Ähnlich ergeht es dem Kind in vielen Bereichen des täglichen Lebens. Es wird stets weniger konkurrenzfähig sein. Bei der späteren Berufswahl findet es die gleiche Situation. Wächst es bei der Mutter auf, fehlt der Vater als orientierendes Vorbild, das die Mutter (selbst wenn sie sich trotz aller Schwierigkeiten eine berufliche Position geschaffen hat) vor der Gesellschaft nicht oder kaum ersetzen kann. Umgekehrt wird dem Kind, das beim Vater bleibt, eine gewisse Häuslichkeit und Geborgenheit fehlen - sofeme der Vater nicht noch einmal geheiratet hat. Das ist allerdings meist der Fall, denn alleinstehende Männer, die kleine Kinder zu sich nehmen, sind sehr selten. Von einem Mann wird das auch nicht erwartet, während einer Frau die Doppelbelastung Kind-Beruf sehr wohl zugewiesen wird.

Aber abgesehen von diesem Erwartungsmuster, das die Öffentlichkeit in ein „typisch männliches” und „typisch weibliches” Verhalten legt, und das Scheidungseltem und damit Sehei- dungskindem ihre Situation zusätzlich erschwert, wird eine eindeutige Überforderung meist als sehr drük- kend empfunden. Irgend etwas kommt in der Regel zu kurz. Entweder das Kind oder der Beruf. Häufig auch alle beide. Die übermüdete Mutter oder der Vater bringen am Abend nach acht Stunden Arbeitstag einfach nicht mehr die nötige Energie und innere Bereitschaft auf, sich mit Hingabe ihrem Kind zu widmen, das nach einem achtstündigen Kindergarten ebenfalls frustriert und ausgleichsbedürftig ist. Das ist wahrscheinlich die schwierigste Situation überhaupt, vor die Single-Eltern gestellt sind: Wie bringe ich Kind und Beruf auf einen Nenner? Wird das Kind vernachlässigt, reagiert es sofort mit den oben erwähnten Symptomen einer „psychosomatischen Krankheit”. Wird der Beruf vernachlässigt, kommen unter Umständen finanzielle Engpässe dazu. Diese Situation fordert von jedem - vom Kind und vom Erwachsenen - das Letzte. Und nicht immer sind beide diesen Belastungen gewachsen.

Wenn die Mutter oder der Vater noch einmal heiraten, kann sich die Lage unter Umständen verbessern. Es können aber auch neue Schwierigkeiten auftreten. Inwieweit sie bewältigt werden, hängt sehr vom Verhalten der Eltern, vor allem des angeheirateten neuen Partners ab. „Es ist erstaunlich, wie wenig Menschen hier das nötige psychologische Verständnis zeigen”, meint Prof. Dr. Walter Spiel, Vorstand der Neuropsychiatrischen Klinik für Kinder und jugendliche in Wien. „Stiefeltern erwarten allen Ernstes, daß ein Kind ihnen mit offenen Armen entgegenläuft, ihnen um den Hals fällt und sagt: ,Gott sei Dank, endlich haben wir dich, du bist der großartigste Papi oder die großartigste Mami!’ “

Die Einstellung der Eltern und Partner spielt also eine ganz wesentliche Rolle. Besitzen die Eltern genügend Einfühlungsvermögen, wird das Kind mit einem relativ problemlosen Verhalten danken. Sind die Eltern innerlich mit ihrer Situation fertig geworden, werden auch die Kinder leichter damit fertig werden. Ähnlich ist es bei der Scheidung. Hat die Mutter ihr Verhältnis zum Vater geklärt und umgekehrt, wird auch das Kind ein normales Verhalten zu jenem Elternteil entwickeln, bei dem es nicht wohnt. Bleiben hier jedoch irgendwelche Ressentiments zurück oder hetzt die Mutter das Kind gar gegen den Vater auf und umgekehrt, so kann das schwerwiegende Folgen für das Kind haben. Es wird damit in eine Auseinandersetzung, mit der es im Grunde überhaupt nichts zu tun hat, hineingezogen, womöglich gar zum Parteigänger gemacht.

Leider sind diese Grundweisheiten relativ wenig Eltern vertraut, die meisten verhalten sich unpsychologisch, durch eigene Schwierigkeiten in Emotionen verstrickt, die sie für das Schicksal ihres Kindes blind machen. Und so kommt es dann zu jenen bejammernswerten Erscheinungen, wie die Mutter eines sechsjährigen Buben schildert: „Wie ich heimkomme, sitzt der Bub am Klo und bricht und sieht ganz schrecklich aus, und den ganzen Samstag und die ganze Nacht hat er dann gebrochen. Am Sonntag bin ich mit ihm ins Spital gefahren, da waren seine Lippen schon ganz blau, dann hat er Infusionen bekommen. Aber er hat lange gebraucht, bis er wieder so weit war, daß er laufen konnte.” Diese eindeutig psychosomatische Reaktion ergab sich während der Scheidung der Eltern, und das Kind hat sich erst nach der Scheidung, bei der es seiner Mutter zugesprochen wurde, wieder einigermaßen erholt.

Es spielt auch eine Rolle, in welchem Alter das Kind von der Scheidung seiner Eltern getroffen wird. Ein Kleinkind wird davon wesentlich stärker beeinflußt werden als ein Kind, das sich bereits in der Pubertät befindet. Vor allem deshalb, weil für ein kleines Kind die Familie seine Welt bedeutet und es daher auf jede geringste Veränderung oder Störung ungemein empfindlich reagiert. Es hat nichts außer Vati und Mutti und vielleicht ein paar Verwandte. Seine Erlebnisse spielen sich innerhalb dieses gesteckten Rahmens ab. Wogegen ein größeres Kind bereits über die Grenzen der Familie hinausschauen kann, dort bereits Freundschaften knüpft und Bindungen eingeht. Es wird also leichter einen Ausgleich finden, wenn das innere Gefüge seiner Familie gestört ist, als das Kleinkind, das in allen seinen Bedürfnissen auf das Funktionieren dieses inneren Kerns angewiesen bleibt.

Im Grunde ist aber keine Altersstufe gegen die Katastrophe, die Scheidung für ein Kind in jedem Fall bedeutet, gefeit. Kleinere Kinder werden den Schmerz, die Angst vor dem Verlust vielleicht eher verinnerlichen. Größere Kinder werden ausbrechen, vielleicht einen Ersatz in Kameradschaften und Freundschaften finden, vielleicht aber auch einfach durchbrennen, in schlechte Gesellschaft kommen und einen Ausgleich in frühem Alkoholkonsum, Drogen oder sexuellen Frühbindungen suchen.

Kinder können sich während und nach der Scheilung ihrer Eltern sehr verschieden verhalten. Häufig ist ein Leistungsabfall in der Schule zu bemerken, die Kinder werden unaufmerksam, unruhig, sie passen nicht auf, träumen am hellen Tag und sind doch nur mit einem sehr speziellen und für sie eminent wichtigen Problem beschäftigt, nämlich mit dem großen Schmerz, daß Vati und ÄIutti auseinandergehen oder bereits auseinandergegangen sind.

Andere Kinder werden ängstlich, schüchtern, bekommen Sprach- schwierigkeiten, stottern. Wieder andere reagieren mit Aggressivität, mit Trotz, sie schlagen nach ihren Eltern. Oder aber sie verharren in einer künstlichen Unbewußtheit, weichen schmerzlichen Erkenntnissen aus, bleiben in einer babyhaften, ihrem Alter nicht entsprechenden Entwicklungsstufe stecken. Was dann häufig auf die Eltern, hier vor allem auf die Mütter zurückzuführen ist: sie möchten ihre Kinder entschädigen für das, was sie ihnen angetan haben, sie aus einem Schuldgefühl heraus von der „bösen Welt” fernhalten, ihnen eine „schöne Kindheit” geben - und übersehen dabei leicht, daß der Kampf, die Behauptung, die Auseinandersetzung und Konfrontation auch mit dem Unangenehmen zum Leben dazugehört.

Trotzdem empfinden viele Kinder, die eine Scheidung ihrer Eltern erlebt haben, es schließlich als Erleichterung, wenn diese Scheidung endlich durchgeführt wurde. Die Streitsituation wird damit abgebaut, das Kind kommt in geordnete Verhältnisse. Auch wenn diese Verhältnisse meist gefährdet und schwierig sind - die Atmosphäre wird wieder friedlicher, und das ist meist die Hauptsache für ein Kind.

Eine besondere Problematik kann sich nach der Scheidung aus dem Besuchsrecht ergeben. Vor allem dann, wenn die Eltern ihre Trennung noch nicht ganz verarbeitet haben und es bei diesem Anlaß zu neuen Streitereien kommt. Oder das Kind wird von jenem Teil, von dem es besucht wird, beschenkt und verwöhnt (womit wiederum Schuldgefühle abreagiert werden sollen). Das Kind wird eingeladen, es wird allerhand mit ihm unternommen, während es mit dem anderen Teil den Alltag erlebt. Es ist schmerzlich für jenen Eltemteil, der sich sonst für das Kind abrackert (und das ist meist die Mutter), wenn es dann lieber zum Vater geht, um mit ihm die Freizeit zu genießen.

Diese Probleme sind wohl abzuschwächen, aber nicht aus der Welt zu schaffen. Man kann die Dinge drehen, wie man will: Scheidungskinder haben es schwer.

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