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Wenn Kinder ihre Eltern terrorisieren

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„Gewalt in der Familie” hat nicht nur mit prügelnden Vätern, verängstigten Müttern und gequälten Kindern zu tun. Längst passiert es auch umgekehrt: hemmungslos drangsalieren Söhne und Töchter ihre Eltern.

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„Gewalt in der Familie” hat nicht nur mit prügelnden Vätern, verängstigten Müttern und gequälten Kindern zu tun. Längst passiert es auch umgekehrt: hemmungslos drangsalieren Söhne und Töchter ihre Eltern.

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Durch die Straßen von Wien schlendernd ist mir eine Werbekampagne aufgefallen: Eine neue soziale Einrichtung bietet ihre Dienste zum Schutz und zur Beratung mißhandelter Kinder an. Natürlich wäre es ideal, es gar nicht soweit kommen zu lassen. Aber auch das liegt gewiß in der Intention der besagten Einrichtung. Das gilt wohl auch für alle anderen, wie zum Beispiel „Gegen Gewalt in der Familie - Dr. F. Vranitzky”, die mich alljährlich zu einer Benefizveranstaltung in das Theater an der Wien einlädt.

Ich möchte aber hier eine andere Form der Gewalt in der Familie ansprechen, die nicht weniger oft vorkommt als die Gewalt der Erwachsenen gegenüber den Kindern, und zwar in verkehrter Bichtung, nämlich seitens der Kinder gegenüber den Eltern, der Mutter vorwiegend.

Alle kennen wir die Szenen an einer Supermarktkassa oder in öffentlichen Verkehrsmitteln, wenn Kindel im Schulalter die Mutter mit penetrantem Geschrei oder mit sonstigen Mitteln unter Druck setzen. Wer schwache Nerven hat, wechselt die Kassa. Doch für einige, wie die Kassiererin, und vor allem die Mutter selbst, gibt es kein Entkommen ...

Man kann sich auf den Standpunkt stellen - schließlich sind es ihre Kinder, was hat es für einen Sinn, einer liebenden Mutter in die Erziehung ihrer Kinder hineinzupfuschen und mit welcher Berechtigung überhaupt?

Einmal bin ich mit einer guten Bekannten, einer Alleinerzieherin, und ihrer etwa zehnjährigen Tochter spazieren gegangen. Das junge Mädchen ging uns einige Schritte voraus, sichtlich bemüht, mit sehnsüchtigen Blicken die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zu ziehen. Es machte sie sichtlich nervös, daß sich die Mutter mit einem anderen Menschen abgibt. Dann passierte es: Sie stolperte auf dem Gehsteig und zog sich eine winzige I Iautabschürfung zu.

Die Mutter hat ganz nüchtern, den Umständen entsprechend, reagiert, freundlich, aber bestimmt: „Du sollst mehr schauen, wo du hintrittst, der Schmerz vergeht gleich, geh bitte weiter.” Das hat die Tochter nicht mehr hingenommen; sie begann mit unglaublicher Lautstärke heftig zu heulen: „Du sollst mich trösten! Wieso tröstest du mich nicht?”

Auf einmal war es heraußen. Es geht dem Mädchen gar nicht um den Schmerz, sondern darum, ihre Mutter möge sich doch ihr und nicht irgend-wem zuwenden.

Und die Tochter setzte sich durch; nach mehrminütigem ohrenbetäubenden Auftritt hat sie es fertig gebracht, daß sich die Mutter zu ihr beugte und sie liebkoste; wegen einer völlig harmlosen Wunde, die sie sich durch eigene Unachtsamkeit zugezogen hat, möchte man meinen. Und -nach diesem Vorfall war es völlig unmöglich, daß ich mich mit der Mutter weiterhin ungestört unterhaltete.

Spätfolgen verfehlter Kindererziehung

Als Mitarbeiter in einer sozialen Einrichtung in Niederösterreich konnte ich mich jahrelang mit den Spätfolgen von verfehlter Familienerziehung beschäftigen: Diejenigen, die früher einmal unter der Gewalttätig keit ihrer Eltern litten, kamen gar nicht auf den Gedanken, beruflich oder sonstwie ihre Persönlichkeit zu entfalten. Sie blieben in sich gekehrt, ängstlich, mißtrauisch, stets auf der Hut, aus welcher Eckewohl der nächste Schlag ins Gesicht komme. Wegen dieser ständigen Angst vergaßen sie ganz darauf, ihr Leben in die Hand zu nehmen und zu gestalten.

Wir hatten aber auch andere Schützlinge im Haus, in ihrer Familie wohlbehütete, die sich wie die Herren benahmen. Und als solche erwarteten sie - nein, sie pochten darauf! — daß ihnen der Weg durch das Leben von anderen geebnet und womöglich mit verschiedenen Annehmlichkeiten versüßt wird. Sie zögerten auch keine Sekunde, sich im Leben das zu nehmen, was ihnen, ihrer Meinung oder besser gesagt, ihrer momentanen Laune nach, auch zustand. Auch mit Gewalt, wenn es sein mußte.

Ich mag meine Schwester sehr. Sie ist eine gebildete und selbstsichere Frau, in ihrem Beruf sehr gut, von ihren Arbeitskollegen gleichermaßen aus beruflichen wie auch aus menschlichen Gründen gemocht und geschätzt. Sie hat einen gutmütigen, durch und durch liebenswürdigen Mann geheiratet, im Laufe der Zeit zwei wunderhübsche Kinder, einen Buben und ein Mädchen, bekommen.

Obwohl mich meine Schwester und ihr Mann beide gerne sehen und unentwegt zu Besuch einladen, komme ich in der letzten Zeit immer seltener. Unsere Mutter, seit vielen Jahren verwitwet, nur etwas mehr als eine Stunde Zugfahrt von ihrer Tochter wohnhaft, kommt, so wie ich, nur sporadisch zu Besuch, und dann nur für ein paar Stunden. Ihre 'Tochter, meine Schwester, hat ihr unlängst das Angebot gemacht, wenigstens über den Winter bei ihr zu wohnen. Platz ist in ihrem Haus wirklich genug, doch die Mutter lehnte entschieden ab. Obwohl sie ihre Tochter sehr, sehr mag. Sie kann aber, so wie ich, nicht ertragen, was ihre zwei süßen Kinder unter dem ohnmächtigen Blick ihrer Mutter aufführen.

Da kann es schon leicht passieren, daß die Mutter mehrmals in den Küchenschrank greifen muß, bis sie das richtige Kakaohäferl für ihre Tochter findet - sonst hört sie ja mit ihrem Geschrei zum Tagesanfang nicht auf. Der ältere Bruder hingegen geht mit seiner Mutter wie ein Mann um; wenn es ihm nicht paßt, was ihm seine Mutter zur Schuljause vorbereitet hat, sagt er ihr das kurz und bündig und wartet gelangweilt, bis die Mutter die richtige Jause zusammengestellt hat. Übrigens - er besucht die erste Gymnasiumklasse.

Es gilt nur das Gesetz des Dschungels

Einmal hatte ich das Vergnügen, mit der Familie meiner Schwester in einem Bestaurant zu Mittag zu essen. Es war mir von vornherein klar, daß da einiges auf mich zukommt. Es kam noch dicker ... Der Anlaß war eigentlich ganz harmlos - der Sohn stürzte sein Glas mit Orangensaft um, was genausogut einem von uns Erwachsenen hätte passieren können. Da schickte sich der Familienvater an, den Sohn zu ermahnen. Er kam gar nicht dazu - denn der Sohn bedachte seinen Vater mit einem boshaft verachtenden Blick, er lasse sich doch nicht von ihm etwas sagen. Doch noch bevor er seinen Vater verbal angriff, kam ihm seine Mutter zuvor, das kann und darf ihrem Sohn schon mal passieren, und er, ihr Mann, soll gefälligst den Mund halten. Gleich verwandelte sich der mörderische Blick des Sohnes in einen selbstgefällig siegesgewissen ...

Mit anderen Worten, der Familienvater hat in dieser Familie wenig bis nichts zu sagen, er wird von den

Kindern wie der Ehefrau an die Wand gespielt. Es blieb ihm eigentlich gar nichts anderes übrig, als sich mit seiner von außen verordneten Passivität zu arrangieren. Dies gelang ihm allerdings vorzüglich. Als unlängst der Sohn seine jüngere Schwester dermaßen heftig mit der Faust in den Bücken schlug, daß sie für einige Minuten atemlos liegen blieb, gab er nur von sich: Laßt doch die beiden sich gegenseitig umbringen!

Gewiß, eine nicht sehr konstruktive Einstellung. Doch wer zeigt sonst einen Ausweg aus dem emotionellen Dschungel dieser Familie, wo man nur lautstark und rücksichtslos zu sein braucht, um sich durchzusetzen? Wo das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Wertschätzung für den anderen, so gut wie gar nicht vorkommen?

Andererseits weist tatsächlich der Mutterinstinkt, in diesem Fall wohl das notorisch schlechte Gewissen, nicht genug Liebe und Zuwendung in die eigenen Kinder investiert zu haben, in die heile Zukunft?

Wenn wir heutzutage von Gewalt in der Familie reden, denken wir automatisch an arbeitslose, trunksüchtige Männer, die ihre wehrlosen Frauen und Kinder mutwillig verprügeln. Daß die Behörden nicht tatenlos zusehen dürfen, daß hier das Sozialamt, gegebenenfalls auch die Justiz, einzuschreiten hat, steht außer Diskussion. Was tun aber, wenn eine alleinstehende Mutter in ihr Kind alles mögliche hineinprojiziert, es wie einen Halbgott verehrt? Und wenn so ein Jugendlicher dieselben Ehrenbezeugungen ganz folgerichtig auch von anderen Menschen, zum Beispiel in der Schule, verlangt?

Wenn ein Ehemann und Familienvater zu Hause randaliert, oder den Familienangehörigen sonst weh-tut, hat die terrorisierte Familie gleich mehrere Möglichkeiten, um Hilfe zu rufen - von verschiedenen Telefonberatungsdiensten bis hin zur Polizei.

Was kann aber eine Mutter tun, wenn sie mit ihrem Kind nicht zu Rande kommt, laufend an die Wand gespielt, angeschrien, sonstwie terrorisiert wird? Kann sie nur noch verzweifeln, sonst nichts? Selbst wenn wir in Betracht ziehen, wie aufopferungssüchtig alleinstehende Mütter manchmal sein können, früher oder später werden sie an ihr Limit gelangen. Denkt die Gesellschaft daran?

Wir kommen nicht um die trockene Feststellung herum, daß die Gewalt in der Familie eine Medaille mit zwei Seiten ist, und daß in beiden Fällen die Folgen für die Gesellschaft sehr schwerwiegend sein werden.

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